Sabotaging ‘Hitchcock’

Sabotaging ‘Hitchcock’

Organisatoren
Wieland Schwanebeck, Englische Literaturwissenschaft, Technische Universität Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.06.2014 - 21.06.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Bettina Schötz / Sebastian Jansen, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Technische Universität Dresden

Unter dem Motto “Sabotaging ‘Hitchcock’” trafen sich britische und deutsche Filmwissenschaftler/innen an der Technischen Universität Dresden auf Einladung der Professur für Englische Literaturwissenschaft, um einerseits eine Neuausrichtung der deutschsprachigen Hitchcock-Forschung anzuregen, andererseits aber auch Impulse für die internationale Forschung zu liefern, vor allem hinsichtlich neuerer Versuche, das Hitchcock-Oeuvre zu historisieren. Die vom Tagungsorganisator WIELAND SCHWANEBECK (Dresden) ausgerufene Sabotage zielte dabei auf die Dekonstruktion des die deutschsprachige Hitchcock-Forschung immer noch beherrschenden Mythos vom genialen auteur. Anstatt weiterhin an der Inszenierung der fest im kulturellen Gedächtnis verankerten Kunst- und Kultfigur ‘Hitchcock’ mitzuwirken, sollten bislang vernachlässigte Aspekte wie die Lehrjahre des Regisseurs, das britische Frühwerk, die Rolle von Mitarbeiter/innen oder die literarischen Vorlagen der Filme in den Vordergrund gerückt werden.

CHARLES BARR (Dublin), der 1999 mit English Hitchcock ein Standardwerk der Hitchcock-Forschung vorgelegt hat, eröffnete die Konferenz mit einem Keynote-Vortrag zu den Anfängen des Regisseurs. Auf Grundlage von umfangreicher Archivarbeit in Großbritannien und den USA rekonstruierte er die große Bedeutung früher britischer Mitarbeiter/innen wie Eliot Stannard und Hitchcocks späterer Ehefrau Alma Reville für die Entwicklung des Filmemachers. Damit erweiterte er das klassische Dreiermodell der prägnanten Einflüsse auf den ‘Meister’: Anders als bisher angenommen, sei Hitchcocks Filmschaffen nicht nur durch das US-amerikanische Hollywood-Kino (D.W. Griffith), die deutsche Bildsprache (Murnau, Lang, Dupont) und die sowjetische Montage-Technik (Pudovkin, Eisenstein) geprägt worden, sondern auch durch seine Zusammenarbeit mit verschiedenen britischen Filmschaffenden in den 1920er-Jahren.

Mit einer Neubewertung von Hitchcocks kurzer Zeit in Neubabelsberg beschäftigte sich ANDY RÄDERs (Rostock) Vortrag, der das erste Panel einleitete. Der Selbstinszenierung Hitchcocks, nach der die Babelsberger Filmstudios dem Regisseur zu einem ‘reinen Kino’ verholfen hätten, stellte RÄDER eine historische Analyse der filmexternen Produktionsbedingungen in Neubabelsberg gegenüber: die teilweise mehrfach verwendeten Set-Bauten, die auch lange nach Abschluss der Dreharbeiten noch Bestand hatten und zugänglich blieben, das riesige Areal der Studios und die Verfügbarkeit von technisch versierten Handwerkern. Nach Räder sind es vor allem diese Produktionsbedingungen, und weniger visuelle Effekte wie Murnaus ‘entfesselte Kamera’, die Hitchcocks Wirken in dieser kurzen Zeit beeinflussten.

Das Augenmerk des zweiten Keynote-Vortrags lag ebenfalls auf Hitchcocks Frühwerk, diesmal seinen Arbeiten für Gaumont-British in den 1930er-Jahren. MARK GLANCY (London), der Begründer des filmhistorischen Seminars an der University of London, zeigte, wie Hitchcock in den von Michael Balcon produzierten Filmen The Man Who Knew Too Much (1934), The 39 Steps (1935), Secret Agent, Sabotage (beide 1936), Young and Innocent (1937) und The Lady Vanishes (1938) das Genre des Thrillers neu erfand. Die schnell erzählten, mit einem typisch britischen Sinn für Witz und Ironie versehenen Filme, die zumeist von Spionage handeln, können nach Glancy in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Warnungen vor politischen Bedrohungen aus dem Ausland gelesen werden. Hitchcock nutzte den Thriller also gezielt, um die strenge britische Zensur zu umgehen, die in den 1930er-Jahren eskapistische Unterhaltungsfilme protegierte. Glancy wies zudem auf die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung der von Gaumont-British produzierten Filme hin. Denn erst jene Thriller verhalfen dem britischen Filmemacher zu derartiger Popularität, dass er 1939 schließlich nach Hollywood eingeladen wurde, wo er dann Filme wie Rear Window (1954), Vertigo (1958), North by Northwest (1959) oder Psycho (1960) drehte, die noch heute als seine Meisterwerke gelten.

Filmhistorische Betrachtungen unternahmen darüber hinaus Claudia Bullerjahn, Ralf Heiner Heinke und Stefan Borsos aus höchst unterschiedlichen Perspektiven. Die Musikwissenschaftlerin CLAUDIA BULLERJAHN (Gießen) zeichnete den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm am Beispiel von Hitchcocks Frühwerk nach. Sie unterzog Blackmail (1929), der sowohl als Stummfilm wie auch als Tonfilm produziert wurde, einer eingehenden Analyse, um die Besonderheiten von Hitchcocks Tonfilmästhetik herauszuarbeiten. Während die visuelle, durch Kameraeinstellungen geleitete Erzählweise Hitchcock’scher Filme Bullerjahn zufolge ein Erbe des Stummfilms sei, deute die zum Teil ironische Verwendung von Liedern und populären Songs auf eine bewusste Nutzung der Möglichkeiten des Tonfilms hin.

RALF HEINER HEINKEs (Dresden) kunstwissenschaftlicher Vortrag beschäftigte sich mit den kinematografischen Bildern in Hitchcocks Filmen. Heinke wies nach, dass im Laufe der fünfzigjährigen Karriere des Regisseurs ein Wechsel des bildgestaltenden Kameramanns stets mit einer künstlerischen Neuorientierung einherging. Dabei arbeitete er die 1940er-Jahre anschaulich als eine Phase ständiger kinematografischer Neubestimmung heraus.

Die Wirkungsgeschichte von Hitchcocks Filmen in Asien stand im Fokus der Ausführungen von STEFAN BORSOS (Köln). Er besprach ausgewählte Filme aus Hong Kong, wie Death Traps (1960, Wang Tianlin), Raw Passions (1969, Luo Zhen) und A Cause to Kill (1970, Murayama Mitsuo), sowie indische Remakes und von Hitchcock inspirierte Filme wie Kohra (1964, Biren Nag), Soch (2002, Sushen Bhatnagar) und Strangers (2007, Anand L. Rai). Borsos erläuterte die unterschiedlichen Methoden der transkulturellen Adaption, die es den Regisseur/innen erlaubten, den typischen Hitchcock-Thriller an die jeweiligen kulturellen, auch filmhistorischen, Gegebenheiten anzupassen. Indem Borsos sein Augenmerk dezidiert auf die Rolle Hitchcocks in der Geschichte des Films außerhalb Europas und den USA richtete, leistete er Pionierarbeit auf einem bislang unbeachteten Forschungsgebiet.

Einen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz verfolgte auch NADINE SELIGMAN (Linz), die die Strategien Hitchcock’scher Selbstinszenierung erörterte und damit die Mechanismen offenlegte, die unser heutiges Bild des ‘Großmeisters’ hervorgebracht haben. Unter Verwendung der Taxonomie Gérard Genettes argumentierte sie, dass es vor allem kommentierende Paratexte und weniger die Basistexte – also Hitchcocks Filme selbst – waren, mit denen es dem Regisseur gelang seinen Mythos zu schaffen. Mithilfe umfangreicher Werbekampagnen für seine Filme, die Trailer, Poster, Interviews sowie eine riesige und professionell betriebene PR-Maschinerie umfassten, habe die Marke ‘Hitchcock’ etabliert werden können.

Welch immenser Nachholbedarf in Deutschland gegenüber den angloamerikanischen Forschungsarbeiten zu Hitchcock besteht, ließ sich zuletzt 2013 deutlich erkennen, als mit beinahe 60-jähriger Verspätung Éric Rohmers und Claude Chabrols Standardwerk Hitchcock (1958) auf Deutsch vorgelegt und als wichtiger Forschungsbeitrag gefeiert wurde, ohne dass die mittlerweile arg überholte auteur-Romantik des Buches auf allzu viel Kritik gestoßen wäre. Das nach wie vor dominante Hitchcock-Bild zu hinterfragen, die Forschung zu beleben und zugleich über den Geniekult Chabrol’scher und Truffaut’scher Prägung hinauszublicken war das Ziel der von der Fritz Thyssen Stiftung, dem British Council und McVitie’s geförderten Konferenz. Viele historische Analysen trugen dazu bei, den Mythos und die Marke ‘Hitchcock’ zu demontieren. So konnten die Beiträger/innen Aspekte wie die frühen britischen Jahre, die Neubabelsberger Zeit oder die Thriller der 1930er-Jahre auf Grundlage von Archivarbeit und geschichtswissenschaftlichen Recherchen in ein neues Licht rücken, und auch in der abschließenden Diskussion wurde die Notwendigkeit weiterer historisierender Untersuchungen bekräftigt – etwa um die zeitgenössische Rezeption Hitchcocks, die aus heutiger Sicht völlig vom Mythos überschattet wird, genauer in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus gelang es verschiedenen Referent/innen, der etablierten angelsächsischen Forschung durch nicht historisch orientierte Untersuchungen – beispielsweise zur phantasmagorischen Farbgestaltung (SULGI LIE, Berlin), zur immer wiederkehrenden Plot-Struktur der Hitchcock-Filme (HANS-ULRICH MOHR, Dresden), zu den seduktiven Mechanismen doppelbödiger Satiren wie Frenzy (MARCUS STIGLEGGER, Mainz) oder zu queertheoretischen Aspekten (GESINE WEGNER, Dresden) – neue Impulse zu verleihen. Was sich aber unter der bröckelnden Fassade verbirgt – des Pudels Kern oder gähnende Leere – bleibt weiterhin eine eingedenk Hitchcocks Reputation als Master of Suspense im wahrsten Sinne des Wortes spannende Frage. Ein Buch mit ausgewählten Beiträgen der Konferenz “Sabotaging ‘Hitchcock’” wird voraussichtlich 2015 erscheinen.

Konferenzübersicht:

Grußworte
Christian Prunitsch (Dresden)
Stefan Horlacher (Dresden)

Eröffnung der Konferenz
Wieland Schwanebeck (Dresden), Sabotaging ‘Hitchcock’

Keynote-Vortrag
Charles Barr (Dublin), Alfred Hitchcock: Untold Stories

Diskussion

Panel I: Becoming ‘Hitchcock’
Moderation: Thomas Kühn (Dresden)

Andy Räder (Rostock), Jack of All Trades: Alfred Hitchcock in Neubabelsberg 1924/25

Claudia Bullerjahn (Gießen), Musik und Sound beim frühen Hitchcock

Diskussion

Keynote-Vortrag
Mark Glancy (London), Politicizing the Thriller in the 1930s: Alfred Hitchcock at Gaumont-British

Diskussion

Panel II: Trademark ‘Hitchcock’
Moderation: Stefan Horlacher (Dresden)

Ralf Heiner Heinke (Dresden), Zwischen Caméra-Stylo und Bildgestaltung: Hitchcocks Kameramänner

Sulgi Lie (Berlin), Phantasmagorien der Farbe: Hitchcocks Kolorismus

Hans-Ulrich Mohr (Dresden), Hitchcock’s Plotting

Marcus Stiglegger (Mainz), ‘Just Another English Murder’: Alfred Hitchcocks Frenzy als seduktiver Metafilm

Diskussion

Panel III: ‘Hitchcock’ in the US
Moderation: Hans-Ulrich Mohr (Dresden)

Eckhard Pabst (Kiel), Sehen und Konstruieren: Anmerkungen zu Scotties Blicken auf Madeleine in Vertigo

Gesine Wegner (Dresden), Before the Scream: Women and Hitchcock in the 1940s and 1950s

Michael Flintrop (Braunschweig), Suspenseful on TV: Die Fernseharbeiten von Alfred Hitchcock

Diskussion

Panel IV: ‘Hitchcock’ and Adaptation
Moderation: Bettina Schötz (Dresden)

Heiko Nemitz (Dresden), Die erste böse Mutter: Hitchcocks Adaptionsleistung am Beispiel von Easy Virtue (1927) im Spiegel seiner Neuinterpretation

Stefan Borsos (Köln), Dial M for Murder, Melodrama and Music(al): Hitchcock Seen through the Prism of Transcultural Adaptations from Hong Kong and India

Diskussion

Panel V: The ‘Hitchcock’ Legacy
Moderation: Wieland Schwanebeck (Dresden)

Nadine Seligmann (Linz), ‘If I Won’t Be Myself, Who Will?’ Alfred Hitchcock’s Star Perfomances

Willem Strank (Kiel), ‘A Surprising Lack of Suspense’: Hitchcock’s Endings

Diskussion

Konferenzabschluss


Redaktion
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