Inszenierte Erinnerung in Rom um 1600. Die Herausforderung des Mittelalters

Inszenierte Erinnerung in Rom um 1600. Die Herausforderung des Mittelalters

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Rom
Ort
Rom
Land
Italy
Vom - Bis
26.05.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Eric Müller, Freie Universität Berlin

Es mag auf den ersten Blick überraschen, aber die Stadt Rom verfügte im Vergleich zu anderen italienischen Gemeinwesen im späten 16. Jahrhundert nur über eine geringe literarische Selbstreflexion ihrer Geschichte. Dieser Umstand ist maßgeblich mit dem die Stadt beherrschenden Papsttum in Verbindung zu bringen, das seine Metropole immer neuen Immigrationswellen aussetzte, die die Vorrangstellung der alteingesessenen Familien zyklisch in Frage stellten. Das Papsttum selbst zeigte sich über Jahrhunderte eher zurückhaltend, wenn es um die gezielte historiographische Inszenierung seiner longue durée ging. Ab der Mitte des Cinquecento griffen indes Gelehrte im Umkreis der Kurie erstmals verstärkt nicht nur für das Papsttum, sondern auch für die städtischen Eliten in seinem Windschatten auf antiquarische Praktiken als Mittel der Selbstinszenierung zurück. Durch die Erschließung neuer mittelalterlicher Quellen im Rahmen genealogischer Studien konnte beispielsweise die Zugehörigkeit einer Familie zum Stadtadel bewiesen werden.

Dem römischen Antiquarianismus als gelehrter Praxis unter Bezugnahme auf das Mittelalter widmete sich der interdisziplinäre Workshop „Inszenierte Erinnerung in Rom um 1600. Die Herausforderung des Mittelalters“ am 26. Mai 2014 im Deutschen Historischen Institut in Rom. Nach der Begrüßung durch den Institutsleiter MARTIN BAUMEISTER folgte eine Einführung durch die Organisatoren ANDREEA BADEA und ANDREAS REHBERG. Dabei wurde die Rolle der antiquarischen Schriften für das Selbstverständnis der Stadt und seiner Adelsfamilien untersucht und nach der möglichen Profilierung chronologischer Entitäten der eigenen Vergangenheit gefragt.

Obwohl das Mittelalter um 1600 noch nicht als Epoche verstanden wurde, war die Vorstellung einer Trias und eines mittleren Zeitalters durchaus bekannt. Die Strategien im Umgang mit dem „Mittelalter“ wurden von STEFAN BENZ (Bayreuth) thematisiert, der den Fokus auf den konfessionell bedingten Umgang mit Kontinuität und Kontingenz legte. Die zu erwartende Präferenz einer kontinuierlichen Sichtweise in Analogie zur fortlaufenden Papstreihe auf katholischer Seite konnte dabei nicht bestätigt werden, da globale wie sprachliche Phänomene einen kontingenten Epochenbegriff begünstigten. Zudem finden sich bei den Protestanten Kontinuitätskonstruktionen auf der Ebene der Landesgeschichte, sodass um 1600 noch keine allgemein akzeptierte Sichtweise zu erkennen ist.

Die erste Sektion des Workshops unter der Leitung von Christopher Celenza widmete sich der Antiquaria Romana des 16. und 17. Jahrhunderts. In diesem Rahmen referierte INGO HERKLOTZ (Marburg) über den spanischen Dominikaner Alonso Chacón (1533-1599) und sein unveröffentlichtes Werk Historica descriptio Urbis Romae sub pontificibus. Als Antiquar und Kirchenhistoriker im Dienste der Kurie machte es sich Chacón zur Aufgabe, einen Katalog von 300 Kirchen und sakralen Bauten zu entwerfen. Im Kontext der Konfessionalisierung war es ihm dabei ein Anliegen, die Anciennität Roms als Zentrum des Christentums zu betonen, indem er die spätantiken und mittelalterlichen Kirchen in ihrer christlichen Dimension als funktionale Kultbauten möglichst detailreich darstellte.

Im zweiten Vortrag der Sektion berichtete STEFAN BAUER (Trient) über Onofrio Panvinios (1530-1568) antiquarische Tätigkeit im Dienst des römischen Adels. Der Fokus lag auf dem methodischen Vorgehen in seinen Schriften über die Familien Frangipane, Savelli, Massimo sowie Mattei. Er konstatierte dem Augustinermönch einen erstaunlich objektiven Umgang mit den Quellen und weitgehende Zurückhaltung bei der Rekonstruktion von den sonst so beliebten Traditionslinien bis in die Antike.

Mit dem von seinen gelehrten Zeitgenossen wenig geschätzten Sammler Francesco Gualdi (≈1574-1657) beschäftigte sich FABRIZIO FEDERICI (Pisa). In Gualdis mittelalterlicher Grabplattensammlung konkretisierte sich der Versuch einer Definition für eine in sich geschlossene moralisch höher stehende Vergangenheit. Der bei ihm verwendete Begriff des „anticomoderno“ läßt ein neues Epochenbewusstsein durchscheinen.

Die zweite Sektion, geleitet von Sybille Ebert-Schifferer, behandelte Heraldik und Genealogie. EDOUARD BOUYÉ (Dijon) zeichnete die Erfindung von Wappen als Anciennitätsnachweis nach und machte in seinem Vortrag über die päpstliche Heraldik um 1600 zunächst darauf aufmerksam, dass die Verwendung von Wappen durch die Päpste selbst erst ab dem Pontifikat Nikolaus III. gegen Ende des 13. Jahrhunderts einsetzte. In den Wappenbüchern von Antiquaren wie Onofrio Panvinio (1530-1568) und Jacobo Strada (1507-1588) wurde jedem Bischof von Rom, inklusive den Gegenpäpsten, bis Petrus im Nachhinein ein Wappen zugeteilt, welches einen Bezug zu seiner Herkunft oder Ordenszugehörigkeit aufweisen sollte. Im Weiteren ging Bouyé auf den Umgang der Päpste mit ihren Wappen um 1600 ein. Während sich einige im Gebrauch des eigenen Wappens zurückhielten, lasse sich bei anderen eine obsessive heraldische Selbstdarstellung beobachten, die sowohl auf die Zelebrierung der eigenen Person, wie auch die der Familie des regierenden Pontifex abzielte.

Den Antiquaren des 16. und 17. Jahrhunderts sind einige wichtige Schriften zur genealogisch-heraldischen Identität römischer Familien zu verdanken. ANDREAS REHBERG (Rom) veranschaulichte die Komplexität dieser Arbeit anhand von fünf überlieferten Codices, die zum einen eine wichtige Etappe römischer Heraldik dokumentieren und zum anderen Hinweise auf die Arbeitsweise von Antiquaren wie Panvinio und Strada liefern. Insbesondere sticht dabei der Codex ms. 201 aus der Biblioteca Angelica von der Hand Alonso Chacóns (1533-1599) mit über 780 Wappen zur römischen Oberschicht hervor. Für seine Sammlung griff der Spanier mitunter auf Schriften des Fälschers Alfonso Ceccarelli (1532-1583) zurück. Durch die Aufnahme ihrer Wappen in sein Corpus verschaffte der Dominikaner auch erst jüngst nach Rom immigrierten spanischen Adelsfamilien ein Mittel zur Legitimation ihrer Position.

Ein Beitrag zur ikonographischen Umsetzung antiquarischer Forschungen war JULIAN KLIEMANN (Rom) zugedacht, dessen Vortrag über die Freskenzyklen zur Familiengeschichte der Farnese und de‘ Medici aber wegen kurzfristiger Verhinderung des Referenten ausfiel.

Unter der Leitung von Massimo Miglio thematisierte die dritte Sektion die in der kommunalen und päpstlichen Historiographie konstruierten Rom-Bilder. Zu Beginn beleuchtete GIULIO VACCARO (Florenz) philologische Praktiken der Erschließung und Neukreierung römischer Texte, die der Weiterentwicklung und Neuerfindung einer genuin römischen Volkssprache dienten. Diese Bestrebungen stellte Vaccaro in den Kontext der sich nach dem Sacco di Roma 1527 zuspitzenden Befürchtungen in der Stadtelite um eine vermeintliche „Entromanisierung“ der Bevölkerung und die Bedrohung ihrer eigenen Machtpositionen durch den Immigrationsdruck auf die Papstmetropole.

Auf der Suche nach Kontingenzmomenten bei Caesar Baronius (1538-1607) fand LIDIA CAPO (Rom) diese ausschließlich in einzelnen signifikanten Episoden. Die Annales Ecclesiastici sind der Kontinuität der katholischen Kirche gewidmet und können deshalb keine groß angelegten chronologischen Alternativmodelle tragen. Ebenfalls gattungsimmanent bedingt beleuchtet das Werk weder die Stadt Rom im Speziellen noch den lokalen Adel, zentral bleibt allein Rom als katholischer Erinnerungsort.

Analog zu Alonso Chacóns Kirchenkatalog setzte ANDREEA BADEA (Rom) dessen Papstgeschichte (Vitae et Gesta Summorum Pontificum) klar in den Kontext der Konfessionalisierung. Indem er seine Viten um weitere Elemente erweiterte und Kardinäle sowie Sekretäre und Bibliothekare darin aufnahm, suggerierte Chacón eine Vollständigkeit, die sein Buch als Nachschlagewerk empfahl. Dadurch könne es aber auch offiziöse päpstliche Einschätzungen transportieren. Einerseits wurde eine klare Hierarchie mit dem Papst als tatsächliche Spitze der Kurie nach innen, maßgeblich an die Kurienkardinäle kommuniziert, andererseits drangen durch den unauffälligen Nachschlagewerkscharakter diese Positionen konfessionsunabhängig in das Bewusstsein der Leser ein.

Der Workshop wurde durch den Abendvortrag von ROBERTO BIZZOCCHI (Pisa) mit dem Titel „Costruzione della memoria, erudizione, periodizzazione storica. Spunti e riflessioni“ abgeschlossen. In diesem griff er nochmals grundlegend die Thematik der adligen Genealogien auf, die um 1600 in ganz Europa verbreitet waren und ein Instrument boten, die Zugehörigkeit zu geschlossenen oligarchischen Kreisen zu legitimieren. In Bezug auf die adligen Genealogien der Frühen Neuzeit erklärte Bizzocchi die Frage ihrer Unglaubwürdigkeit mit ihrer intellektuellen Nähe zur Heilsgeschichte, welche die Notwendigkeit eines Ursprungs und eines Ziels voraussetzt. Er thematisierte den Spielraum, den vermeintliche historische Quellen den Gelehrten beim Belegen von Ereignissen und Personen boten. Im Anschluss rekurrierte er auf Voltaire als Auslöser eines methodischen Wendepunkts in der Geschichtsschreibung und sprach dessen Forderung an, nicht nur die philologische Methode zu ändern, sondern auch ihren jeweiligen philosophischen Kontext. Bizzocchi beendete seinen Vortrag mit einem Ausblick auf das Aufkommen nationaler Legitimationsversuche des 19. Jahrhunderts und erklärte diese als Surrogat der von der Aufklärung aufgegebenen Heilsgeschichte.

Alles in allem veranschaulichte der Workshop, im Fokus der Forschung zu Rom und seinen Antiquaren, das Spannungsfeld zwischen Kurie und Stadt, die beide bemüht waren, antiquarische Studien zu ihren Gunsten einzusetzen. Die Arbeit der Gelehrten an der Kurie zielte zwangsläufig in erster Linie auf den Papst und die Verteidigung des Katholizismus ab, hatte jedoch zugleich wichtige Konsequenzen für die Eliten der Stadt, die sich ebenfalls dieser Antiquare für die Produktion schriftlicher und ikonographischer Medien der Selbstinszenierung bedienten.

Konferenzübersicht:

Martin Baumeister: Grußwort

Andreea Badea, Andreas Rehberg: Einführung

Stefan Benz: Strategien im Umgang mit dem „Mittelalter“

1. Sektion: L’Antiquaria Romana fra Cinque e Seicento/ Die Antiquaria Romana zwischen 16. und 17. Jahrhundert

Ingo Herklotz: Alonso Chacón e lo studio delle chiese romane nel tardo XVI secolo
Stefan Bauer: Onofrio Panvinio. Storia e storie delle famiglie romane
Fabrizio Federici: „Que‘ tempi rozzoi“ ma „veramente felici“. Francesco Gualdi e l’evo „anticomoderno“

2. Sektion: Araldica e Genealogia a Roma/ Heraldik und Genealogie in Rom

Edouard Bouyé: L’araldica papale intorno al 1600. Apologetica e autocelebrazione
Andreas Rehberg: Ceccarelli e Chacón. Alla ricerca di un‘ identità genealogicoaraldica delle famiglie di Roma
Julian Kliemann: Programmi di affreschi con temi storici a confronto. Farnese vs. Medici (ausgefallen)

3. Sektion: Le immagini di Roma nella storiografia comunale e papale/Rom- Bilder in der kommunalen und päpstlichen Historiographie

Giulio Vaccaro: La sfida linguistica identitaria. Il romanesco nei testi storici tra la metà del Cinquecento e il primo Seicento
Lidia Capo: Alle origini del secolo di ferro. Il Baronio e l’aristocrazia romana del IX- X secolo
Andreea Badea: Päpste in Reihe. Konzepte chronologischer Ordnung bei Alonso Chacón
Roberto Bizzocchi: Costruzione della memoria, erudizione, periodizzazione storica. Spunti e riflessioni


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