Wissens(trans)formationen. Strategien der medialen Repräsentation und Vermittlung von Wissen

Wissens(trans)formationen. Strategien der medialen Repräsentation und Vermittlung von Wissen

Organisatoren
Stefan Halft / Steffi Krause, Passau
Ort
Passau
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2014 - 31.05.2014
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Von
Kilian Hauptmann, Passau

Unter der Prämisse des „Wissensbegriffs in der terminologischen Krise“ fand an der Universität Passau am 30. und 31. Mai 2014 eine interdisziplinäre Tagung zur medienspezifischen Konstruktion und den Prozessen der Integration, Verarbeitung und Generierung von ‚Wissen‘ statt. Wie Hans Krah einführte, sollten die disziplinären Zugänge zum Thema als Impulse für einen interdisziplinären Wissensbegriff dienen. Stefan Halft erläuterte zu Beginn die Problemlage. So seien vor allem terminologische Unschärfen zu klären, Fragen der soziokulturellen Abhängigkeit des Wissens, der spezifischen Strategien der Wissensvermittlung durch Medien und der kommunikativen, medialen Übertragung von Wissen zu wenig untersucht.

Das erste von vier Panels widmete sich daher den ‚theoretisch-methodischen Modellierungen der kulturanalytischen Praxis’. Dabei wurde die Diversität der Anwendung des Wissensbegriffs in den Kultur- und Medienwissenschaften deutlich. Zur Frage, welche Art von Wissen die Interpretation darstellt, äußerte sich KLAUS W. HEMPFER (Berlin) in seinem Vortrag ‚Wissen und Interpretation’. Ausgehend von der von Ryle entwickelten Unterscheidung von „knowing how“ und „knowing that“ entwickelte Hempfer die These, dass Literaturwissenschaft sich nicht allein auf die aristotelische Topik zurückführen ließe. So solle sich das literaturwissenschaftliche Interpretieren als das „Explizitmachen des Impliziten“ begreifen. Hempfer plädierte für den Inferenzialismus nach Brandom und Sellars, da dieser nicht auf allgemein anerkannte Oberprämissen angewiesen sei. Er unterstrich dabei besonders die Rolle der Interpretation als performativem Akt.

Kontrovers diskutiert wurde LUTZ HAGESTEDTs (Rostock) Vortrag über die theoretischen Implikationen des ‚kulturell Primären‘ und ‚kulturell Sekundären‘. Ausgehend von Michael Titzmanns Begriff des Kulturellen Wissens wies er auf die literarische Funktion der Relevantsetzung hin, bei der primäres Wissen, also allgemein gewusstes Wissen einer Kultur, vom Text als sekundär gesetzt werden könne und vice versa. Er schloss mit der wissenstheoretischen Frage nach Möglichkeiten der Archivierung von Wissen in der Literatur.

Aus der journalistischen Praxis berichtete KARL N. RENNER (Mainz) mit einem Vortrag über präsupponiertes Vorwissen in journalistischen Medienformen. Renner konturierte dabei eine Differenz von ‚Information‘ und ‚Wissen‘, wobei zweiteres eine umfassende Menge von Propositionen darstelle. Dabei wies er vor allem auf journalistische Erzählformen hin, die oftmals im Spannungsfeld zwischen Information, Wissensvermittlung und Meinung stünden. Er problematisierte dabei den Journalismus als „hörerzentrierte“ Mediengattung, welche wesentlich vom Vorwissen des Publikums sowie deren sozialer Provenienz abhängig sei.

Im Fortgang der Tagung mehrfach aufgegriffen wurden die Ausführungen von HANS KRAH (Passau) zum Thema „Epistemisches versus Konfiguratives Wissen“. Am Beispiel der Rezeption des Leonidas-Stoffes zeigte er auf, wie sich mediale Referenzen spezifischer Topoi bedienen und Wissen dadurch transformieren können, das vorhandene Wissen neu konfigurieren und selbst zu epistemischem Wissen werden – so etwa Zack Snyders Film ‚300’ (USA, 2007). Das Begriffspaar ‚epistemisches versus konfiguratives‘ Wissen diene dabei zur Abgrenzung von kulturellen Wissensmengen und solchen Konstrukten, die überhaupt erst durch Medien generiert werden.

Das zweite Panel widmete sich dem konkurrierenden/konfligierenden Wissen. Hier standen vor allem die Prozesse der „Wissensablösung“ im Vordergrund. VOLKER HOFFMANN (München) zeigte anhand des Gedichts ‚Die Mergelgrube’ von Droste-Hülshoff (1841/42) auf, wie sich der Konflikt von altem und neuem Wissen in uneigentlicher Weise darstellt. In Drostes Gedicht stünden sich der neue, naturwissenschaftlich-geologische Diskurs und der alte, theologisch-biblische Diskurs gegenüber. Droste-Hülshoff, so Hoffmann, entziehe sich dabei einer Entscheidung über die letzte Wahrheit und damit auch gegen eine Bevorzugung eines Diskurssystems.

HERMANN SOTTONG (Regensburg) berichtete anhand eigener Storytelling-Analysen von Arbeitsbiographien über die Auswirkungen des Wirtschaftswissens und der Dogmen der Wirtschaftswissenschaften auf andere Gesellschaftsdiskurse. Er betonte dabei die Dominanz „ökonomischen Wissens“ über andere Wissensklassen. Dabei spiele speziell in der Wirtschaft auch Nicht-Wissen eine wesentliche Rolle, da insbesondere Manager oftmals Opfer ihrer eigenen Dogmen würden, sich dessen aber nicht bewusst seien. Er wies zudem auf den Trend hin, Berechnungen als Operatoren zu verwenden, um Unsicherheiten zu eliminieren.

STEFFI KRAUSE (Passau) erläuterte anhand von aktuellen deutschen Fernsehfilmen die Funktionalisierung von Wissenselementen. Dabei würden häufig Themen wie Insemination und Homosexualität dazu verwendet, um allgemeinere Werte zu verhandeln. An mehreren Beispielen erläuterte sie, dass „alte Werte“ wie „Familie“ mittels spezifischer Wissensmengen zunächst scheinbar modernisiert und letztlich konservativ gewendet würden. So konnte sie zeigen, dass der Tatort ‚Ohnmacht’ (D, 2014) die Protagonistin aufgrund ihrer künstlichen, also unnatürlichen Zeugung als „böse“ semantisiere und deshalb aus dem narrativen Modell tilge.

MICHAEL TITZMANN (Passau) zeigte anhand der historischen Begebenheiten um Galilei auf, wie neues Wissen durch den theologischen Diskurs verhindert wurde. Er zeigte zudem, wie die Kirche die Entdeckungen Kopernikus‘, welche nicht mit ihrer Lehrmeinung vereinbar war, systematisch ausgrenzte. Titzmann thematisierte dabei die Problemlage bei neu zu integrierenden, konfligierenden (propositionalen) Wissensmengen in ein Wissenssystem, sowie die diskurspraktischen Techniken der Wissensverhinderung wie etwa Zensur oder (kirchlicher) Dogmatismus.

Das dritte Panel beschäftigte sich vor allem mit der Popularisierung von Wissensmengen und -objekten in medialen Formen und Hybridwissen. CLAUS-MICHAEL ORT (Kiel) stellte am Beispiel von Johann Christoph Ettners ‚Medicinischen Maul-Affen-Romanen’ (1694–1720) dar, wie medizinisches Wissen popularisiert wurde. Ort betonte dabei, dass die pikarisch konstruierten Romane Ettners der Vermittlung standesgemäßer Kommunikation medizinischen Wissens dienten. Dabei würde auf einer Oberfläche scheinbar akademisches Wissen vermittelt, das sich jedoch meist nur auf Erfahrungswissen stütze. Zudem hätten Ettner, selbst publizierender Arzt, die Selbstreferenzen innerhalb der etablierten Metalepsen der Romane als Mittel der Selbstlegitimation seiner medizinischen Schriften gedient.

Zum Sittenfilm der 1920er-Jahre und dem darin enthaltenen medizinischen Wissen äußerte sich JAN-OLIVER DECKER (Passau). Am Beispiel von ‚Falsche Scham’ (D, 1926) zeigte Decker auf, wie der Sittenfilm Geschlechtskrankheiten als Katalysatoren sozialer Zerfallsprozesse metaphorisierte und medizinisches Wissen für die Stabilisierung einer bürgerlichen Ordnung funktionalisiert wurde. Dabei diente der Sittenfilm sowohl der Repräsentation bürgerlicher Ängste sowie gleichzeitig als Surrogat einer verhinderten Erotik.

Vor dem realen Hintergrund einer Gesetzesänderung der 1960er-Jahre, die die Verjährung der Beihilfe zum Mord möglich machte, sprach WOLFGANG LUKAS (Wuppertal) über die Funktionen juristischen Wissens in von Schirachs Kriminalroman ‚Der Fall Collini’ (2011). Von Schirach nutze das juristische Wissen für eine funktionale Homologisierung von Strafprozess und Straftat, was sich auch in der narrativen Struktur des Textes niederschlage. Dabei ging Lukas vor allem auf die Varianz von Wahrheit im juristischen wie auch literarischen Sinne ein.

Über die Repräsentation und Funktionalisierung von naturwissenschaftlichen Diskursen im Film sprach STEFAN HALFT (Passau). Das Beispiel von Jon Amiels ‚The Core’ (USA, 2003) zeige, dass menschliches Eingreifen durch die Wissenschaft mitunter als Störung der „natürlichen Ordnung“ gewertet werde. Dabei sei vor allem die Anwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen problematisch, nicht die Wissenschaft selbst. Bezüglich der Konstruktion von naturwissenschaftlichen Wissensmengen kämen komplexe Verfahren der Semiotisierung zum Einsatz, um eine Plausibilität des Gezeigten herzustellen. Der Film lege dabei oberflächlich eine Identität von „sehen“ und „wissen“ nahe.

Das letzte Panel stellte die mediale Konstruktion von Wissen im Kontext der kulturellen Integration in den Vordergrund. MICHAEL MÜLLER (Stuttgart) sprach über die Konstruktion von Identitäten im digitalen Raum. Unter Bezug auf aktuelle Diskurse über Daten und Wissen im digitalen Raum ging er dabei vor allem auf „narrativ kodiertes Wissen“ ein. So konzipierte Müller ‚Identität’ als das narrative Konzept einer Person. Hierbei sei die Identität im digitalen Raum im Wesentlichen durch Selbstnarration, Fremdnarration und Kontextnarration bestimmt. Am Beispiel von Big Data zeigte er, wie die Fremdnarration durch Daten beeinflusst werden könne, wodurch die Narrationen miteinander interferierten.

Am Beispiel ihrer qualitativen Studien nach der Storytelling-Methode zeigte KAROLINE FRENZEL (Regensburg) den Wertewandel der heutigen Mütter aus der ‚68er Generation’ gegenüber deren Müttern auf. Anhand von autobiographischen Erzählungen erläuterte sie, wie diese Mütter das etablierte Wissen ihrer Mütter systematisch ablehnten und gegenteilige Konzepte entwarfen, wie etwa die antiautoritäre Erziehung. Zusammen mit ihrer zweiten Studie zu Frauen in Führungspositionen argumentierte sie, dass Wertewandel einen Wissenswandel voraussetze.

Mit der Asymmetrie des Wissens in Richard Wagners ‚Ring der Nibelungen’ setzte sich MARIANNE WÜNSCH (Kiel) auseinander. Dabei sei Wissen ein zentraler Katalysator der narrativen Struktur und dadurch stark funktionalisiert. Wünsch klassifizierte dabei „identitäres Wissen“ von „utilitaristischem Wissen“. Rein explanatives Wissen im narrativen Modell sei sinnlos, nur utilitaristisch nutzbares Wissen werde vom Text relevant gesetzt. Wissensvergabe sei daher eine sowohl ausdifferenzierte wie auch zentrale Operation in Wagners ‚Ring’.

Die interdisziplinäre Tagung zeigte wesentliche Probleme des Wissensbegriffs auf. In der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass zentrale definitorische Diskussionen noch geführt werden müssen. Auch zur Medialität und Popularisierung von ‚Wissen‘ sei noch Forschungsbedarf vorhanden. Breit diskutiert wurde zudem die durch Medialisierung und Medienwechsel bedingte Rekontextualisierung von ‚Wissen‘. Allgemeine Zustimmung erfuhr der Vorschlag von Claus-Michael Ort, den wissenssoziologischen Wissensbegriff für die medien- und literaturwissenschaftlichen Diskurse noch stärker und systematischer nutzbar zu machen, als dies bislang unter anderem durch Michael Titzmanns Konzept des Kulturellen Wissens der Fall sei.

Die Tagung überzeugte durch ihren interdisziplinären Zugang und legte zentrale Probleme des Wissensbegriffs offen. Trotz oder gerade wegen der teils sehr spezialisierten Vorträge wurde die Notwendigkeit weitergehender Auseinandersetzung und Konsensbildung zum Wissensbegriff deutlich.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Petra Grimm (Freiburg), Hans Krah (Passau), Steffi Krause (Passau), Stefan Halft (Passau)

1. Sektion: Theoretisch-methodologische Modellierungen medien- und kulturanalytischer Praxis
Moderation: Susanne Popp (Augsburg)

Klaus Hempfer (Berlin): Wissen und Interpretation
Lutz Hagestedt (Rostock): „Kulturell primär“ und „kulturell sekundär“. Theoretische Implikationen textanalytischer Praxis
Karl N. Renner (Mainz): Textsortenspezifisch präsupponiertes Vorwissen der Rezipienten in journalistischen Medienbeiträgen
Hans Krah (Passau): Epistemisches vs. konfiguratives Wissen. Das Beispiel Leonidas.

2. Sektion: Konkurrierendes/konfligierendes Wissen und Nichtwissen
Moderation: Petra Kallweit (Kiel)

Volker Hoffmann (München): Die Droste zwischen altem und neuem Wissen
Hermann Sottong (Regensburg): Die Selbstorganistation der Ignoranz. Wissen, Nicht-Wisssen und Glaube in Texten aus der und über die „Welt der Wirtschaft“
Steffi Krause (Passau): Was Liebe kann, was Liebe darf. Konflikte außer- und innermedialer Wissens- und Wertehorizonte.
Michael Titzmann (Passau): Wissen als Wissensverhinderung: Wie altes Wissen mögliches neues Wissen unmöglich macht

3. Sektion: Mediale Diskursivierung von Spezialwissen: Wissensobjekte und Hybridwissen
Moderation: Jörg Schönert (Hamburg)

Claus-Michael Ort (Kiel): Medizinisches Wissen und pikarische Diskursivierung in Johann Christoph Ettners Medicinischen Maul-Affen-Romanen (1694-1720).
Jan-Oliver Decker (Passau): Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Sittenfilms Falsche Scham (1926).
Wolfgang Lukas (Wuppertal): Funktionen juristischen Wissens in der neueren Kriminalgeschichte. Zu Ferdinand von Schirachs Der Fall Collini.
Stefan Halft (Passau): Repräsentation und Funktionalisierung naturwissenschaftlicher Diskurse im zeitgenössischen Film

4. Sektion: Medial konstruiertes Wissen als diskursive Strategie der kulturellen Integration
Moderation: Helene Karmasin (Wien)

Michael Müller (Stuttgart): Daten, Informationen, Wissen: Die Konstruktion der Identitäten im digitalen Raum
Karoline Frenzel (Regensburg): Die Interdependenz von Wissen und Werten und autobiografischen Erzählungen
Marianne Wünsch (Kiel): Wissensmengen und Wissensvergabe in Wagners Ring des Nibelungen

Abschlussdiskussion


Redaktion
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