Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität

Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität

Organisatoren
Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn; Hans-Böckler-Stiftung, Berlin
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.04.2014 - 04.04.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Annabel Walz

Die Tagung „Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität“ am 3. und 4. April 2014 in Bonn bildete den Abschluss eines gleichnamigen zweijährigen Forschungsprojektes des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (AdsD) in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung (HBS). Ausgangspunkt für das Projekt war, dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter trotz der entscheidenden Rolle, die sie beim Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland geleistet hatten, in der Geschichtsschreibung weitgehend unterrepräsentiert sind: bedingt durch die deutliche geringere Überlieferung von Selbstzeugnissen aus der Führungsriege der Gewerkschaften im Vergleich zu anderen Teileliten. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts wurden daher 31 ehemalige führende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter der Bundesrepublik Deutschland in lebensgeschichtlichen Interviews befragt.1 Das Ziel der Tagung war es, solche Projekte zu lebensgeschichtlichen Interviews zu diskutieren und ihre Fortführung anzuregen. In den ersten beiden Panels standen die Methodik der Produktion und Sicherung der Quellen im Mittelpunkt, im dritten und vierten Panel am Folgetag die Möglichkeiten der Verwendung der Ergebnisse in der Bildungsarbeit.

Nach Begrüßung durch STEFAN MÜLLER (Bonn) und MICHAELA KUHNHENNE (Düsseldorf) stellte SEBASTIAN SCHARTE (Bonn) das gerade abgeschlossene Projekt vor. Das anschließende erste Panel widmete sich der Vorstellung und Diskussion dreier Projekte, bei denen die erinnerungsgeschichtliche Arbeit mit gewerkschaftlichen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Mittelpunkt stand. Der Schwerpunkt der Vorträge lag dabei auf den Vorüberlegungen und Grundannahmen sowie der praktischen Durchführung der Interviews. Als erste referierte ANNE KLEIN (Köln), die im Projekt „Individuelle Erinnerung“ mit Unterstützung von Christian Testorf die Interviews geführt hatte. Anschließend trugen RITA LANZ und ANJA SUTER (Bern) über ein ähnliches Projekt der Schweizer Gewerkschaft Unia vor und schließlich berichtete KNUD ANDRESEN (Hamburg) über ein Projekt in Hamburg, das sich in der lokalen bzw. regionalen Ausrichtung von den erstgenannten Projekten unterschied, wodurch nicht nur Gewerkschaftsführer der Vorstandsebene zu Wort kamen.

Die Durchführung der Gespräche war in allen drei Fällen sehr ähnlich. In einem ersten Teil schilderten die Interviewten ihre eigene Biografie. In einem zweiten Teil wurden anhand eines Gesprächsleitfadens zu einzelnen Punkten nachgefragt und Raum gegeben für Reflexion, die auch eine Neubewertung von Erfahrungen ermöglichte. Unterschiede bestanden bei den Gesprächs- und Aufnahmesituationen. Alle strebten an, die Interviews bei den Befragten zu Hause durchzuführen, um eine möglichst intime Situation zu schaffen. Andresen führte alle Gespräche allein durch, in den anderen beiden Fällen gab es jeweils einen Hauptverantwortlichen für das Interview und einen Begleitenden, der vor allem für die technische Seite zuständig war, aber auch einzelne Fragen beisteuerte.

Das Ziel der Projekte lag jeweils in der Quellenschaffung und -sicherung. Entsprechend werden die Dokumente über Archive für die Forschung zugänglich gemacht. Im Hamburger Fall hat zudem bereits eine erste Auswertung der Interviews stattgefunden. So stellte Andresen einige der klassischen Erzählmuster vor, die in den meisten lebensgeschichtlichen Interviews zum Tragen kamen, nämlich die Repräsentationserzählung, die Triumpherzählung und die Anerkennungserzählung, die, so Andresen, wiederum alle Spielarten einer Art gewerkschaftsgeschichtlichen Meistererzählung des sozialen Aufstiegs darstellten.

Auch im Panel II wurden Projekte zur Sicherung und Auswertung von Zeitzeugenberichten vorgestellt, die aber den Schwerpunkt auf die Zäsur 1989/90 legen. Die vorgestellten Projekte unterschieden sich dabei untereinander wiederum deutlich in Anlage und Durchführung. Anders als die bislang genannten wurde das Projekt MANFRED SCHARRERs (Berlin) aus dem Zufall und dem historischen Moment heraus geboren. Scharrer war selbst als Referent bei der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) an der Aus- und Weiterbildung ostdeutscher Gewerkschafter 1990 beteiligt. Daraus entwickelten sich unsystematisch Interviews, um die frischen Einschätzungen der zu diesem Zeitpunkt noch ganz offenen Lage festzuhalten. Folglich handelt es sich hier auch nicht um Interviews, die eine vollständige Biografie enthalten, sondern um Momentaufnahmen.

Das zweite in Panel II von DETLEV BRUNNER und CHRISTIAN HALL (Leipzig) vorgestellte Projekt schließt in Ansatz und Methodik enger an die in Panel I vorgestellten an, mit dem Unterschied, dass es sich bei den Befragten um Gewerkschafter aus der ehemaligen DDR handelt. Es wird angestrebt, dass die Videoaufzeichnungen und Transkripte der 15 Interviews in die neu entstandene Sammlung im AdsD integriert werden. Geplant ist auch eine Auswertung, wobei erste Ergebnisse bereits präsentiert wurden.

In der Diskussion nach den Vorträgen wurde eine gewisse Diskrepanz in der Erwartungshaltung verschiedener Besuchergruppen der Tagung deutlich. Erfreulicherweise nahmen einige der im Projekt befragten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an der Tagung teil. Der erste Tag ließ dabei manche aus dieser Zuhörergruppe etwas unbefriedigt zurück, weil aufgrund der Anlage der Projekte wenige Ergebnisse im Sinne einer inhaltlichen Auswertung präsentiert werden konnten. Die Abendveranstaltung des Gesprächskreises Geschichte, bei dem auch zwei Zeitzeugen auf dem Podium saßen, konnte aber hier ein Stück weit Abhilfe schaffen.

Die Diskussion nach den Vorträgen kreiste denn auch in erster Linie um Vor- und Nachteile der verschiedenen Herangehensweisen an die lebensgeschichtlichen Interviews und Vertiefungen zu methodischen Problemen. Teilweise waren die Fragen und Probleme dabei sehr praktisch orientiert, so zu Vor- und Nachteilen von Videographie und reinen Tondokumenten und der Möglichkeit von Gruppengesprächen. Auch die begrenzte Planbarkeit der Interviewsituation, die in letzter Instanz vom Verhältnis zwischen Interviewtem und Interviewer abhänge, sowie die Schwierigkeit der Entwicklung von Leitfragen, ohne zu sehr zu lenken, wurden thematisiert.

Ein anderer Diskussionsstrang beschäftigte sich mit dem methodologischen Problem des Quellenwertes von Zeitzeugeninterviews. Durch die ganze Konferenz zog sich immer wieder die Fragestellung nach „Wahrhaftigkeit“, „Authentizität“ oder „Wahrheit“ der Inhalte, also letztlich der Frage, wie viel man in Zeitzeugeninterviews tatsächlich über die Vergangenheit erfahren kann. Dabei wurde im ersten Panel darauf verwiesen, dass die Quellenkritik nicht die Aufgabe derer sei, die die Quellen schaffen bzw. bereitstellen, sondern derer, die die Quellen danach für ihre Forschungen verwenden.

Am zweiten Tag lag der Schwerpunkt auf dem Einsatz von Zeitzeugen und lebensgeschichtlichen Zeugnissen in der Bildungsarbeit. Den Auftakt in Panel III machte MATTHIAS SOKOLEAN (Berlin). In seinem Vortrag schilderte er aus eigener Erfahrung die Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Begegnungszentrum Clara Sahlberg, wobei er drei problematische Begegungen wählte, um die Schwierigkeiten zu beleuchten. Als fruchtbar für die folgende Diskussion stellte sich dabei das Beispiel eines ehemaligen DDR-Grenzpolizisten heraus, dessen fehlende Selbstreflexion und Eingeständnis eigener Fehler nach Einschätzung Sokoleans den Austausch mit den Seminarteilnehmern behindert habe.

JANINE SCHEMMER (Udine) referierte über Ergebnisse aus ihrem Promotionsprojekt, das sich mit dem Erzählen über Arbeit anhand der ehrenamtlichen Tätigkeit ehemaliger Hafenarbeiter im Hamburger Hafenmuseum beschäftigt. Das Konzept dieses Museums beruht darauf, dass zur Erläuterung der Objekte nur sehr spärlich Texttafeln eingesetzt werden, sondern stattdessen ehemalige Hafenarbeiter bereitstehen, um den Besuchern die Zusammenhänge zu erläutern. Schemmer schilderte dabei unter anderem Erzählkonkurrenzen zwischen verschiedenen Gruppen unter den Hafenarbeitern, die Schwierigkeiten, die sich beim Aufeinandertreffen verschiedener Generationen ergeben, und die Herausforderungen, die sich für diesen Museumstypus stellen, wenn die Ehrenamtlichen aus Altersgründen ausscheiden werden.

Im vierten und letzten Panel standen die Lernorte Schule und Hochschule im Mittelpunkt. BARBARA CHRISTOPHEs (Braunschweig) Vortrag widmete sich dabei dem Thema, das in den Diskussionen bereits mehrfach angeklungen war, nämlich danach, welche „Wahrheit“ sich in in Zeitzeugenbefragungen finden lasse. Sie verwies dabei darauf, dass Zeitzeugenbefragungen zwar keine biographische oder historische „Wahrheit“ böten. Anhand von Beispielen zeigte sie aber sehr anschaulich Techniken auf, wie man durch Analyse der Narration eine „Wahrheit des Diskurses“ herausarbeiten könne, die Auskunft darüber gebe, welche Erzählstrategie in einer Gemeinschaft wann als angemessen erscheine. Zudem umriss sie, wie man mit ähnlichen Mitteln versuchen kann, die Spielregeln und das Darstellungsinteresse des Erzählenden zu erkennen.

Den Möglichkeiten der Oral History insbesondere im Schulunterricht wandte sich im letzten Vortrag ALFONS KENKMANN (Leipzig) zu. Dabei arbeitete er auch die Schwierigkeiten dieser Methode heraus und betonte, dass die Oral History im Geschichtsunterricht natürlich nur eine von vielen Methoden sein dürfe. Doch er nannte auch die großen Chancen dieses Zugangs, die er zum einen im intergenerationellen Diskurs sieht, zum anderen in der Vergegenwärtigung des kontinuierlichen Wertes Mensch im Verlauf der Geschichte, der sich im Zeitzeugen konkret verkörpere.

In den beiden Diskussionsblöcken nach Panel III und IV trat die Rolle des Zeitzeugen als Person in den Vordergrund. Dabei wurde unter anderem problematisiert, inwiefern Zeitzeugen als Objekte, sei es nun Museums- oder Forschungsobjekte, angesehen und quasi instrumentell verwendet würden. Andererseits stelle ein Zugang wie lebensgeschichtliche Interviews auch eine Form von Anerkennung dar. Damit zusammenhängend wurde auch die Rolle von Zeitzeugen in der Bildungsarbeit diskutiert. So wurde der Fall des Grenzbeamten von vielen eher als bereichernd bewertet und eine Beschränkung auf solche Zeitzeugen, die ein vorgegebenes Geschichtsbild nur illustrieren und ihm durch ihre Zeitzeugenschaft den Schein von „Authentizität“ verleihen, als zu eng betrachtet. Zugespitzt fragte Alfons Kenkmann, ob dadurch nicht die die Gefahr einer „formatierten Geschichtsschreibung“ bestehe. Wie eine größere Offenheit allerdings mit konkreten Lernzielen verbunden werden kann, musste aber (naturgemäß) offen bleiben.

Ähnlich verhielt es sich mit einer Frage, die in Zusammenhang stand mit dem erneut aufgenommenen Diskussionsstrang um den Wahrheitsanspruch von Zeitzeugenberichten. In Bezug auf die Bildungsarbeit erweiterte sich das Problem nämlich um den Aspekt, wie man einer breiteren Öffentlichkeit, gerade im Internet, ein Instrumentarium an die Hand geben könne, um sich (quellen-)kritisch den Zeitzeugeninterviews zu nähern. Auch in der Abschlussdiskussion wurde noch einmal die Grundfrage nach dem Quellenwert aufgenommen, inwiefern wir über lebensgeschichtliche Zeugnisse über die Vergangenheit lernen oder doch eher über Selbstdeutung und Gegenwart.

Auch zwei Appelle zogen sich durch alle Panels bis in die Schlussdiskussion. Der eine bezog sich auf die nun notwendige Erweiterung des Kreises der Befragten. Zwar hatten einige Projekte bereits versucht, einzelne Kritiker der Gewerkschaft und Stimmen von der Basis mitaufzunehmen, als Ergänzung und Korrektiv zum Diskurs der Hauptamtlichen bleibt hier aber selbstverständlich noch viel zu tun. Der zweite Appell betraf die Hoffnung, dass das nun geschaffene Material nun auch Aufnahme in Forschung und Bildungsarbeit finden möge. Die lebendige Diskussion und das von allen konstatierte große öffentliche Interesse an dem Thema macht Hoffnung, dass diese Appelle nicht auf taube Ohren stoßen werden.

Konferenzübersicht:

Stefan Müller (Bonn) und Michaela Kuhnhenne (Düsseldorf): Begrüßung und Eröffnung

Sebastian Scharte (Bonn): Präsentation des AdsD-Projektes „Individuelle Erinnerung und gewerkschaftliche Identität“

Panel I: Gewerkschaftliche Hauptamtliche im Zeitzeugeninterview
Moderation: Stefan Müller (Bonn)

Anne Klein (Köln): Erinnerung und gewerkschaftliche Identität. Lebensgeschichtliche Erzählungen von Vorständen der Gewerkschaften und des DGB

Rita Lanz / Anja Suter (Bern): Die schweizerische Gewerkschaft Unia im narrativen Interview

Knut Andresen (Hamburg): Erinnerungen vor Ort – Erlebte Geschichte in lokalen Gewerkschaftsmilieus

Panel II: Die Zäsur von 1989/90 im gewerkschaftsgeschichtlichen Interview
Moderation: Christian Testorf (Bonn)

Manfred Scharrer (Berlin): Erzählungen über die Wiedervereinigung. Die Integration ostdeutscher Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in die ÖTV

Detlev Brunner und Christian Hall (Leipzig): Demokratischer Umbruch und Neuaufbau der Gewerkschaften? Erinnerungen gewerkschaftlicher Zeitzeugen der DDR

Abendveranstaltung des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen mit der Hans-Böckler-Stiftung

Panel III: Historische Biografien in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und im Museum
Moderation: Johannes Platz (Bonn)

Matthias Sokolean (Berlin): Arbeit mit Zeitzeugen in der historischen Bildungsarbeit – Chancen und Risiken

Janine Schemmer (Udine): Erzählen über Arbeit. Ehemalige Hafenarbeiter im Hamburger Hafenmuseum

Panel IV: Biografien und Oral History in den Lernorten Schule und Hochschule
Moderation: Sebastian Scharte (Bonn)

Barbara Christophe (Braunschweig): Zeitzeugeninterviews zwischen biografischer Wahrheit, historischer Wahrheit und der Wahrheit des Diskurses

Alfons Kenkmann (Leipzig): Lebensgeschichten im Prozess historischen Lernens
Schlussdiskussion

Anmerkung:
1 Diese Interviews liegen nun in videographierter und transkribierter Form im AdsD für Forschungszwecke und für Bildungsarbeit vor. Weiterhin wurden aus den Interviews kurze Sequenzen ausgewählt und auf der Homepage <http://zeitzeugen.fes.de> zugänglich gemacht.


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