Walter Dirks – „Den Roten zu schwarz, den Schwarzen zu rot“

Walter Dirks – „Den Roten zu schwarz, den Schwarzen zu rot“

Organisatoren
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ Münster; Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Archiv der sozialen Demokratie
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.04.2014 - 25.04.2014
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Von
Svenja Schnepel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

„,Den Roten zu schwarz, den Schwarzen zu rot‘. Walter Dirks im Kontext der deutschen und europäischen Geschichte“ – unter diesem Titel veranstalteten Benedikt Brunner, Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht (Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster) in Kooperation mit Meik Woyke (Friedrich-Ebert-Stiftung) vom 24. April 2014 bis zum 25. April 2014 eine zeithistorische Fachtagung. Der Ort der Zusammenkunft hätte mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn kaum besser gewählt sein können, wie MEIK WOYKE in seinen Begrüßungsworten erklärte: Das in der FES beheimatete Archiv der sozialen Demokratie verfügt sowohl über den Nachlass Walter Dirks’ aus den Jahren 1921 bis 1991 als auch über den Nachlass seines langjährigen Freundes Eugen Kogon, der allerdings zur Zeit aus konservatorischen Gründen nicht einsehbar ist.

Die drei thematischen Leitlinien der Tagung präsentierte THOMAS GROßBÖLTING (Münster) einführend: Neben der Betrachtung von Person und Wirken Walter Dirks’ im Rahmen der intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik, dessen Rolle bisher keine entsprechende wissenschaftliche Würdigung erfahren habe, solle ein Schwerpunkt auf Dirks’ Aussöhnungsversuch zwischen Sozialismus und Christentum liegen. Den dritten Themenkomplex stellten Dirks’ Europakonzeptionen dar. Das Ziel der Tagung sollte darin bestehen, anhand dieser drei Perspektiven Schneisen in die intellektuelle Landschaft Deutschlands und Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schlagen, vergessene Anstöße aufzunehmen und nach den Kontexten eines Lebenswerks zu fragen, das in vielerlei Hinsicht quer zum politischen, kulturellen und religiösen Lagerdenken seiner Zeit stand.

ALEXANDER GALLUS (Chemnitz) führte mit einer Keynote in die intellektuelle Gründungsgeschichte der Bundesrepublik ein. Er stellte das Motiv der unvollendeten Revolution als Kontinuität zwischen der Weimarer und der Bonner Republik heraus. Das vorgestellte Phasenmodell eines keinesfalls linearen Hineinwachsens der Intellektuellen in die Bundesrepublik erstreckte sich sowohl auf die Verfassungsfrage als auch auf die „nationale Frage“ (samt ihrer neutralistischen Antworten) sowie auf die – wie Ralf Dahrendorf formulierte – „eigentliche deutsche Frage“, nämlich die Frage nach der Demokratiefähigkeit der deutschen Gesellschaft. Als zentrale Elemente auf dem Weg der Integration von Intellektuellen wie Walter Dirks als ideenstiftende und -verbreitende Akteure in den gesellschaftspolitischen Prozess seien die Ausweitung des Politikbegriffs und im Besonderen die schrittweise Etablierung einer friedlichen und sachlichen Streitkultur sowie die Förderung des Prozesses öffentlicher Meinungsbildung in der Bundesrepublik durch Diskussionsforen wie die Gruppe 47 und das Heidelberger Diskussionsforum anzusehen.

Der Vortrag von FRIEDRICH KIEßLING (Erlangen) setzte Dirks’ Rolle als Außenseiter ins Zentrum und betrachtete seine Person in diesem Zusammenhang auf biographischer, politischer und intellektueller Ebene. Bedeutende Tätigkeitsfelder stellten seine Mitherausgeberschaft der überkonfessionellen Frankfurter Hefte, die journalistischen Tätigkeiten beim WDR sowie die Mitbegründung des Bensberger Kreises dar. Politisch habe Walter Dirks Zeit seines Lebens eine Oppositionshaltung eingenommen. In der Außenpolitik plädierte er für eine Brückenfunktion Deutschlands zwischen Ost und West. Er habe sich eine sozialistische „Wirtschaftsdemokratie“ gewünscht, in der frühen Bundesrepublik allerdings eine lediglich formal umgesetzte und damit durch autoritäre Umformungsprozesse gefährdete Demokratiegestaltung gesehen. Als selbst beschriebener „Intellektueller des Dazwischen“ prägte Walter Dirks zahlreiche Debatten und könne vielleicht eher als vielfältig vernetzter Ideenmultiplikator denn als ein Ideenstifter angesehen werden, wie die anschließende Diskussion der Tagungsteilnehmer herausstellte.

FRIEDHELM BOLL (Bonn) betonte hingegen Dirks’ aktive Rolle über den kritisch kommentierenden Beobachter hinaus. Gerade die Gründung und Wirkung des Bensberger Kreises als Repräsentationsforum eines kritischen und offenen Katholizismus, bestehend aus Intellektuellen der Politik, Religion und Wissenschaft, stelle einen Eingriff in politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse dar. Als Beispiel sei das Bensberger Memorandum von 1968 anzusehen, welches die Polen-Politik Willy Brandts vorbereitete und rückblickend Dirks’ größten politischen Erfolg bedeute. Des Weiteren sah Friedhelm Boll neben dem Sozialismus im Pazifismus eine weitere Konstante in Dirks’ politischem Denken. Zwar habe Dirks die Notwendigkeit eines Rüstungsgleichgewichts in der Ost-West-Konfrontation als Basis bundesdeutscher Sicherheitspolitik anerkannt, allerdings kein Vertrauen in die Demokratisierung des deutschen Militärs gelegt. Trotz seines zunächst radikalen Kampfes gegen eine „Remilitarisierung“ Deutschlands akzeptierte er schließlich jedoch die allgemeine Wehrpflicht in der Hoffnung auf eine innere Festigung der Bundeswehr als Parlamentsarmee.

In der zweiten Tagungssektion trat Dirks’ Verbindung zwischen Religion und Politik in den Betrachtungsmittelpunkt. GERD-RAINER HORN (Paris) öffnete dazu den Blick für eine europäische Perspektive und lieferte eine vergleichende Einführung in den westeuropäischen Linkskatholizismus von den 1920er- bis in die 1970er-Jahre. Dabei schlug er einen Bogen vom politischen Linkskatholizismus bis zur Bewegung der Arbeiterpriester. Die erste Welle des europäischen Linkskatholizismus in den 1940er- und 1950er-Jahren sei vor allem in Frankreich und Belgien zu verorten, von der Kurie wurde diese jedoch zunehmend als Gefahr ihrer Traditionsbilder wahrgenommen und schließlich sanktioniert. Die zweite Welle, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingesetzt habe, sei hingegen radikaler gewesen und habe eine weitaus größere Breiten- und Tiefenwirkung erzielt – nun auch in Spanien, Portugal und Deutschland. Laut Horn stellten die vielerorts entstandenen parteiunabhängigen Basisgemeinden eine Keimzelle für die Neuen Sozialen Bewegungen dieser Jahre dar.

BENEDIKT BRUNNER (Münster) benannte den auf der Tagung mehrmals herausgestellten engen Zusammenhang zwischen Dirks’ tiefem katholischen Glauben und seinen daraus folgenden politisch-sozialen Handlungskonsequenzen und konkretisierte dies am Beispiel der NS-Vergangenheitsbewältigung. Dirks’ Denken sei von einer starken Verbindung vom Erbe der Vergangenheit und den Aufgaben der Zukunft geprägt gewesen. Die von Dirks selbst nicht als solche bezeichnete Faschismustheorie verweise auf die Idee einer deutschen Kollektivschuld am Nationalsozialismus, der ausschließlich mithilfe einer aufrichtigen Rechristianisierung begegnet werden könne.

Die Tagung wurde von CLAUDIA HIEPEL (Duisburg/Essen) um die Perspektive auf Dirks’ Idee einer christlichen Ausgestaltung des Sozialismus erweitert. Dirks habe versucht die Theorie des Marxismus reformerisch um die Komponenten Freiheit, individuelle Vielfalt und Personalismus zu erweitern, den Sozialismus durch eine vorurteilsfreie, christliche Deutung zu entdämonisieren und ihn mit der Realpolitik zu verbinden. Hier habe ihm ein „Dritter Weg“ für Europa vorgeschwebt, der sich zwischen Staatssozialismus und Privatkapitalismus bewegen sollte. Mit dieser Idee konnte Dirks Hiepels Ausführungen zufolge in der frühen Bundesrepublik keine politische Heimat finden: Von seinem Versuch in der von ihm mitbegründeten CDU seinen Sozialismus auf Umwegen zu realisieren, habe er sich bald distanziert. Bei der antikirchlichen Haltung der SPD vor dem Godesberger Programm habe er jedoch aufgrund seines Katholizismus zunächst auch keine politische Heimat gefunden.

Mit der Verortung Deutschlands und Europas in der Nachkriegswelt durch deutsche Linksintellektuelle beschäftigte sich DOMINIK GEPPERT (Bonn). Er beschrieb den gedanklichen Positionierungsprozess in einem Vier-Phasen-Modell von der ersten Reaktion der Leugnung einer stereotypen Ost-West-Trennung über einen Kompromiss der Anpassung hin zur Flucht in ein literarisches, publizistisches oder geographisches Exil und schließlich in die politische Opposition. Bei der Frage nach dem Standpunkt Deutschlands im Weltgefüge übertrügen Vordenker eines „Dritten Weges“ wie Alfred Kantorowicz die traditionell geographische Rolle Deutschlands als brückenschlagender Mediator zwischen Ost und West ins Geistige. Dirks selbst habe eine Überwindung des souveränen Nationalismus durch einen europäischen Sozialismus angestrebt. Inwiefern die identitätsstiftende Ausweitung ins Europäische allerdings als Versuch der kulturellen Überwindung des Nationalsozialismus angesehen werden kann und wie vor diesem Hintergrund heutige (Brücken-)Funktionen Deutschlands und Europas zu bewerten sind, bleibe zu diskutieren.

In der Betrachtung der Europa-Konzepte von Walter Dirks und Eugen Kogon durch JENS FLEMMING (Kassel) spielten die gemeinsam herausgegebenen Frankfurter Hefte eine entscheidende Rolle. Dirks sah in der Integration Europas eine Chance, die es besonders von deutscher Seite aus wahrzunehmen gelte. Die Lösung der „europäischen Frage“ habe er eng an die Lösung der „deutschen Frage“ geknüpft, was in den ersten Nachkriegsjahren eine mutige Bedeutungszuschreibung an Deutschland gewesen sei. Den Frankfurter Heften können laut Flemming drei prägende Leitziele für die Europavorstellungen von Dirks und Kogon entnommen werden: Das nationale Konzept sei durch einen europäischen Föderalismus zu ersetzen; anzustreben sei eine Politik des christlichen Sozialismus; Europa solle von einem Bündnis unterschiedlicher Personengruppen, aber keiner Parteien getragen werden.

KLAUS GROßE KRACHT (Münster) richtete den Blick in seinem Vortrag auf den durch Aufklärung, Emanzipation und Säkularisierung nach Dirks fortschrittlicheren französischen Katholizismus. Die historische Kontextualisierung thematisierte die zunehmende Missionsarbeit katholischer Laien im Rahmen der „Katholischen Aktion“ der 1920er- bis 1940er-Jahre. Während der Episkopat zur Zeit der französischen Zwangsarbeit in Deutschland durch moralische Zurückhaltung aufgefallen sei, löste sich die missionarische Laienbewegung zunehmend von der Autorität der Bischöfe und lebte den direkten Kontakt zum Proletariat im Untergrund und in den Kriegsgefangenen- beziehungsweise Arbeitslagern, so Große Krachts Ausführungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei ein Wissenstransfer zwischen französischen und deutschen Katholiken durch literarische und persönliche Verständigungsprojekte wie das Zeitschriftenprojekt Documents/Dokumente und den Esprit-Kreis ermöglicht worden, an denen sich Dirks beteiligte. Dirks’ teilweise undifferenzierter Blick auf den französischen Katholizismus führte dazu, diesem einen Vorbild-Charakter gegenüber dem seiner Meinung nach ‚mittelalterlich‘-restaurativen Milieukatholizismus Westdeutschlands zuzuschreiben.

Aus der Diskussion der Tagungsteilnehmer haben sich abschließend weiterführende Forschungsfragen ergeben: Neben dem politischen Dirks sollte sowohl die Zeit des WDR-Journalisten und Musikkritikers mit berücksichtigt werden als auch der Theologe Dirks und dessen eigene Art christlicher Frömmigkeit. Die unterschiedlichen intellektuellen Felder seines Wirkens sollten zudem in ein deutlicheres Verhältnis zueinander gestellt werden. Die des Öfteren bemängelte sprachlich-begriffliche Nebulösität der Schriften Dirks' sei in einen sprachhistorischen und biographischen Zusammenhang einzubetten. Hinsichtlich des organisierten Linkskatholizismus sei die Diskrepanz zwischen Dirks’ vielfältigen publizistischen Aktivitäten und seiner geringen Bereitschaft zur aktiven Mitgliedschaft in Organisationen näher zu untersuchen. War Walter Dirks ein Individualist oder ein Netzwerker?

Abgerundet wurde die Tagung durch eine gemeinsame Führung durch das Archiv der sozialen Demokratie durch dessen Leiterin Anja Kruke (Bonn) sowie die Vorführung der ZDF-Produktion „Zeugen des Jahrhunderts: Walter Dirks im Gespräch mit Ingo Herrmann“ (1981).

Konferenzübersicht:

Meik Woyke (Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn) und Thomas Großbölting (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), Begrüßung und Einführung

Sektion I: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik
Moderation: Thomas Großbölting

Alexander Gallus (TU Chemnitz), Betrachtungen über die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik
Friedrich Kießling (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), Ein Außenseiter? Dirks in der frühen Bundesrepublik
Friedhelm Boll (Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn), Dirks und die Friedensbewegung
ZDF-Produktion 1981, Zeugen des Jahrhunderts. Walter Dirks im Gespräch mit Ingo Hermann

Sektion II: Zwischen Religion und Politik. Linkskatholizismus in Deutschland und Europa
Moderation: Klaus Große Kracht

Gerd-Rainer Horn (Institut d’Études Politiques, Paris), Der westeuropäische Linkskatholizismus von den 1920ern bis zu den 1970ern
Benedikt Brunner (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), „Wehrlos vor dem Faschismus“ – Faschismusanalyse und Vergangenheitsbewältigung als Lebensaufgabe
Claudia Hiepel (Universität Duisburg-Essen/Kassel), Dirks und der Christliche Sozialismus in der Bundesrepublik

Sektion III: Ein Europa der Dritten Wege?
Moderation: Benedikt Brunner

Dominik Geppert (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), Europa zwischen West und Ost. Deutsche Linksintellektuelle auf der Suche nach dem Dritten Weg
Jens Flemming (Universität Kassel), Europa-Konzepte bei Dirks und Kogon
Klaus Große Kracht (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), „Frankreich ist uns in vielem voraus“. Dirks‘ Blick in den anderen Westen

Abschlussdiskussion
Moderation: Thomas Großbölting


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