Internationaler Workshop: Der Holocaust. Kontexte und Forschungsansätze. Eine Bilanz

Internationaler Workshop: Der Holocaust. Kontexte und Forschungsansätze. Eine Bilanz

Organisatoren
Zentrum für Holocaust-Forschung in München; Akademie für politische Bildung in Tutzing
Ort
München / Tutzing
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.04.2014 - 11.04.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Sonja Schilcher, Institut für Zeitgeschichte München

Die Holocaust-Forschung hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten immer stärker internationalisiert und zugleich spezialisiert. Das neu gegründete Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München hat deshalb auf seinem ersten Workshop eine Bilanz verschiedener Forschungsansätze zum Holocaust gezogen. 32 WissenschaftlerInnen aus sieben Ländern nahmen an dem internationalen Workshop, der zugleich von der Akademie für politische Bildung in Tutzing mitorganisiert wurde, teil.

FRANK BAJOHR (München), Leiter des Zentrums, machte in seinem Einführungsvortrag vier Grundtendenzen der Forschung aus, die zugleich zentrale Probleme markieren: Erstens sei in den vergangenen Jahren eine immer größere Zahl von am Holocaust beteiligten Personen in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses geraten. Da man die Täter folglich nicht als kleine Sondergruppe von der restlichen Gesellschaft separieren könne, stelle sich die Frage, ob die Täterforschung nicht in eine breit angelegte Gesellschaftsgeschichte zu integrieren sei, die eher von gesellschaftlichen Akteuren denn von den statischen Kategorien Täter-Opfer-Bystander ausgeht. Zweitens, so Bajohr, habe sich der räumliche Schwerpunkt der Holocaustforschung seit den 1990er-Jahren zu Recht auf Osteuropa verlagert, wo nicht nur der Massenmord an den Juden, sondern auch andere NS-Gewaltverbrechen stattfanden. Es bleibe aber kritisch zu prüfen, ob die Konstruktion amorpher „Gewalträume“ wie die von Snyder postulierten „Bloodlands“ nicht ein wesentliches Kennzeichen des Holocaust verfehle, der eben nicht auf ein spezifisches Territorium begrenzt war. Drittens werde das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in der Geschichte des Holocaust deutlich komplexer. Immer größere Personengruppen in den besetzten Ländern rücken in den Fokus der Forschung. Dementsprechend wandele sich der Holocaust historiografisch zu einem europäischen Projekt, in dem die maßgebende Rolle des Dritten Reiches zwar nicht verwischt werde, sich in der Gesamtperspektive jedoch verändere. Viertens, so Bajohr, stelle sich die Frage nach der spezifischen Funktion der deutschen Holocaust-Forschung in einem internationalen Kontext, der in den letzten Jahrzehnten zu einer Angleichung der Forschungsperspektiven und -themen geführt habe, die zuvor noch stark national bestimmt gewesen seien.

ULRICH HERBERT (Freiburg) blickte in seinem öffentlichen Abendvortrag am Institut für Zeitgeschichte München (IfZ) auf die historiografischen Entwicklungen der deutschen Holocaustforschung in den vergangenen Jahrzehnten zurück: Während sich die Deutschen in der Nachkriegszeit auf die Geschichte des Nationalsozialismus konzentrierten, seien es anfänglich vor allem jüdische Historiker gewesen, die den Holocaust erforschten. Der Judenmord sei damit zu einer „jüdischen Geschichte“ geworden, die an die Deutschen „herangetragen“ worden sei. Erst die NS-Prozesse Ende der 1950er- und in den 1960er-Jahren hätten die wissenschaftliche Aufarbeitung insofern entscheidend verändert, als die Ermittlungsverfahren gegen über 100.000 mutmaßliche Täter und Aussagen von mindestens genauso vielen Zeugen der Forschung eine große Menge empirischen Materials erschlossen hätten. Untersuchungen von Einzelschicksalen seien allerdings ebenso rar geblieben wie der Blick auf Osteuropa, wobei letzteres auch der mangelnden Zugänglichkeit staatlicher Quellen geschuldet war. Zudem sei der Holocaust – anders als in Israel – von der deutschen Geschichtswissenschaft lange Zeit eher gedeutet denn empirisch erforscht worden. Dies habe sich beim „Historikerstreit“ der 1980er-Jahre gezeigt, der allerdings auf lange Sicht dazu beitrug, den Massenmord an den Juden ins Zentrum der Geschichtsforschung zu rücken. Neue Forschungsansätze seien vor allem in den 1990er-Jahren entstanden: So wurden zunächst die Täter selbst (Christopher Browning), dann Täter und Opfer (Saul Friedländer) und schließlich Täter, Opfer und Bystander (Raul Hilberg) untersucht. Etwa um die Jahrtausendwende etablierte sich eine transnationale und internationale Holocaust-Forschung, wobei auch weiterhin noch viele Studien regional begrenzt blieben oder sich lediglich mit einzelnen Institutionen befassten. Herbert verwies abschließend auf bestehende Forschungslücken: Ökonomische Aspekte des Holocaust, sowie das Schicksal der überlebenden Juden harrten ebenso einer intensiveren Untersuchung wie die Kontextualisierung des Holocaust im Rahmen anderer in Osteuropa begangener Massenverbrechen (wie dem Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener 1941/42).

Fortgesetzt wurde der Workshop am folgenden Tag in der Akademie für politische Bildung in Tutzing. SYBILLE STEINBACHER (Wien) ging der Frage nach, in welche Kontinuitäten der Holocaust einzuordnen sei. Insbesondere die Genozid- und Kolonialismusforschung hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend die Frage aufgeworfen, ob zwischen spätkolonialer Gewalt und NS-Gewalt ein spezifischer Zusammenhang bestanden habe. Trotz aller berechtigten Kritik an dem Kontinuitätsentwurf Jürgen Zimmerers („Von Windhuk nach Auschwitz“) sei es gewinnbringend, sowohl nach der Einbettung des Holocaust in die großen Traditionslinien des 20. Jahrhunderts zu fragen. Steinbacher verwies allerdings kritisch darauf, dass es zum einen bislang kaum konzeptionelle Überlegungen zu dem Begriff „Kontinuität“ gebe und dass zum anderen die Frage nach den Opfern in den Kontinuitätsdiskursen oft ausgeblendet werde.

DIETER POHL (Klagenfurt) beschäftigte sich mit dem Zusammenhang zwischen Holocaust und anderen NS-Gewaltverbrechen und wies in seinem Beitrag darauf hin, dass das Wissen über einige der Opfergruppen in bestimmten Regionen (u. a. Sinti und Roma in Osteuropa, sowjetische Kriegsgefangene in Polen und der Sowjetunion) immer noch fragmentarisch sei. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Verbrechenskomplexen und dem Holocaust müsse in der Forschung stärker berücksichtigt werden. Pointiert merkte er an, dass sich die deutschen Verbrechen noch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939/40 vor allem gegen Nichtjuden gerichtet hätten. Dementsprechend müssten auch Zusammenhänge zwischen Deportationsplänen und dem Massenmord an den Juden einerseits und den Massenverbrechen an Nichtjuden stärker in den Blick genommen werden.

SUSANNE HEIM (Berlin) sprach sich ebenfalls dafür aus, den Blick zu weiten und einer „Verinselung der Holocaust-Forschung“ entgegenzuwirken, wie es etwa das Editionsprojekt „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ (VEJ) versuche. Als Projektleiterin und Mitherausgeberin zog sie ein Zwischenfazit der bislang geleisteten Arbeit (7 Bände der Edition sind bereits erschienen) und gab einen Einblick in die vielfältige und zugleich schwierige Bearbeitung der einzelnen Bände, die keine geradlinige Entwicklung der Ereignisse zeichnen, sondern unterschiedliche Aspekte des Geschehens aus wechselnden Perspektiven darstellen.

Frank Bajohr knüpfte mit seinem kritischen Rückblick auf die bisherige Täterforschung an seine Ausführungen am ersten Konferenztag an. Die Täterforschung habe zu einem grundlegend veränderten Bild des Mordgeschehens beigetragen, das anders als früher durch eine Vielzahl von Massakern und Mordaktionen geprägt sei. Im Vordergrund stehe nicht mehr der „Schreibtischtäter“, sondern der „Mordschütze“, der mit seinen Opfern unmittelbar konfrontiert gewesen sei. Kritisch bewertete Bajohr Versuche, die Massenverbrechen in biografische Kontinuitätslinien einordnen zu wollen und formulierte die These, dass die Verbrechen mit einem allein täterbiografischen Ansatz nicht zu entschlüsseln seien. Ähnlich argumentierte MARK ROSEMAN (Bloomington/Indiana), der in seinem Kommentar die Schwierigkeiten täterbiografischer Forschung hervorhob, die individuellen Handlungsspielräume und den „Eigensinn“ der Täter herauszuarbeiten, deren Handeln oft durch eine „strange mixture of radicalism and flexibility“ geprägt gewesen sei.

INGO LOOSE (Berlin) befasste sich mit den Raub- und Enteignungsmaßnahmen, die den Massenmord an den Juden begleiteten. Die These vom „Massenraubmord“ verwarf Loose ausdrücklich, plädierte aber dennoch dafür, die wirtschaftliche Seite des Holocaust stärker in den Blick zu nehmen. Ökonomische Aspekte hätten sich wie ein roter Faden durch alle Entscheidungsebenen gezogen. Dies zeige der Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter, die Enteignungen jüdischer Eigentümer oder auch der Zusammenhang zwischen jüdischem Eigentum und der Frage der Kollaboration der nichtjüdischen Bevölkerung.

JÜRGEN MATTHÄUS (Washington D. C.) beendete den ersten Tagungstag an der Tutzinger Akademie mit der Frage nach der Verbindung der komplexen historischen Phänomene „Holocaust“ und „Antisemitismus“ – eine selbstverständliche und zugleich fragwürdige Verbindung. Antisemitismus werde in der jüngeren Forschung meist als gegeben vorausgesetzt, ohne dabei im Vordergrund zu stehen und selbst untersucht zu werden. Als abstraktes Erklärungskonzept habe der Antisemitismus seine Grenzen erreicht, während dagegen der Nachweis seiner konkreten Relevanz noch erbracht werden müsse. Neuere Arbeiten verdeutlichten, dass es ein Faktorengeflecht gewesen sei, das den Massenmord an den Juden ermöglicht habe. Aufgabe der künftigen Forschung sei es, so Matthäus, nicht nur die Geschichten von Tätern, Opfern und Zuschauern miteinander in Verbindung zu setzen, sondern auch die der verschiedenen Politikfelder, Instanzen und Opfergruppen.

Im zweiten Teil des Workshops befassten sich am nächsten Tag BEATE MEYER (Hamburg) und ANDREA LÖW (München) mit den begrenzten Handlungsspielräumen und unterschiedlichen Handlungsstrategien der Opfer in West- und Osteuropa. Erst die jüngere Holocaust-Forschung habe herausgearbeitet, dass Juden nicht nur passive Opfer waren, sondern stets auch handelnde Akteure. Ihre Handlungsspielräume hätten allerdings je nach Zeit und Ort stark variiert. Konnten Fluchtpläne nicht mehr umgesetzt werden, entwickelten insbesondere Frauen verschiedene Überlebensstrategien, um sich und ihre Kinder zu retten. Zu unterscheiden sei zwischen kollektiven und individuellen Handlungsstrategien, die je nach persönlicher Situation erheblich variieren konnten. Viele historische Quellen zeigen zudem, wie sich Handlungsstrategien im Verlaufe der Zeit deutlich änderten. DAN MICHMAN (Jerusalem) fügte in seinem Kommentar ergänzend hinzu, dass man bei der Untersuchung der Reaktionen und Handlungsweisen auch die Identität der Juden berücksichtigen müsse. Faktoren wie die Herkunft, Kultur, Traditionen und das jeweilige Verhältnis zum Staat habe die Handlungsstrategien und das Verhalten mitbestimmt.

Dass die Kategorien Opfer-Bystander-Täter selten eindeutig zuzuordnen seien, konstatierte noch einmal TATJANA TÖNSMEYER (Essen) in ihrem Vortrag „Jenseits des Bystanders“. Die Besatzung sei als „sozialer Prozess“ zu interpretieren, der spezifische Dynamiken freigesetzt habe. Da Krieg und Holocaust eng miteinander verzahnt gewesen seien, müssten die regionalen Unterschiede der deutschen Besatzungspolitik stärker in der bisherige Forschung berücksichtigt und nach den Interaktionen und Handlungsmustern der beteiligten Akteure gefragt werden. Innerhalb des Besatzungsprozesses mussten sich kategorisierte Menschen den Besatzern unterwerfen und entsprechende „Maßnahmen“ erdulden. Die freigesetzten Dynamiken, die sich u. a. in den Interaktionen zwischen Besatzern und Besetzten widerspiegelten, seien für die Angehörigen besetzter Gesellschaften, insbesondere für die jüdische Bevölkerung, mit einschneidenden Erfahrungen verbunden gewesen. Eine Besatzungsgeschichte als europäische Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte könnte, so Tönsmeyer, den Holocaust kontextualisieren, eventuell sogar integrieren. DORIS BERGEN (Toronto) illustrierte in ihrem Kommentar den Zusammenhang zwischen Besatzungsherrschaft und Massenmord mit zahlreichen plastischen Beispielen: So hätten Polen in etlichen Fällen bei ihnen untergetauchte Juden getötet, um den Repressionen der deutschen Besatzer zu entgehen, die mit drakonischen Maßnahmen jene verfolgten, die untergetauchten Juden Obdach gewährten.

MICHAEL MAYER (Tutzing) beendete den zweitägigen Austausch der Holocaustexperten mit einem Plädoyer, den Holocaust nicht als Summe von Nationalgeschichten zu verstehen, sondern als Paradebeispiel einer dynamischen Verflechtungsgeschichte. Hierzu bedürfe es seiner Ansicht nach mehr vergleichender Studien, um die verschiedenen Dynamisierungsprozesse besser nachvollziehen zu können.

Der Workshop in München und Tutzing zeigte insgesamt, wie sich klassische nationale Wahrnehmungen des Holocaust durch die Internationalisierung der Forschung verändert haben. Zugleich wurden Desiderate der Forschung offengelegt: Der Holocaust sollte zukünftig stärker in die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft integriert und mit den weiteren Formen nationalsozialistischer Massengewalt in Verbindung gesetzt werden.

Das Zentrum für Holocaust-Studien wird die Diskussion auf einer internationalen Konferenz vom 23.-25. Oktober 2014 weiterführen, bei der die sozialen Prozesse und -dynamiken in den europäischen Gesellschaften während des Holocaust im Mittelpunkt stehen werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Moderation: Magnus Brechtken (München)
Einführung: Frank Bajohr (München)

Abendvortrag im IfZ München am 9. April 2014 als Auftaktveranstaltung zum Workshop
Ulrich Herbert (Freiburg): Holocaust-Forschung in Deutschland. Geschichte und Perspektiven einer schwierigen Disziplin

Workshop am 10. und 11. April 2014 in Tutzing
Begrüßung im Namen der Akademie: Michael Mayer (Tutzing)

Sybille Steinbacher (Wien): Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Kommentar: Jan Grabowski (Ottawa)

Dieter Pohl (Klagenfurt): Der Holocaust im Kontext anderer NS-Massenverbrechen. Kommentar: Mary Fulbrook (London)

Susanne Heim (Berlin): Neue Quellen, neue Fragen? Ein Zwischenfazit des Projektes „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“
Frank Bajohr (München): Täterforschung – Perspektiven und Grenzen eines Forschungsansatzes. Kommentar: Mark Roseman (Bloomington/Indiana)

Ingo Loose (Berlin): Massenraubmord? Materielle Aspekte des Holocaust. Kommentar: Jean-Marc Dreyfus (Manchester)

Jürgen Matthäus (Washington D. C.): Holocaust und Antisemitismus. Kommentar: Alan Steinweis (München/Vermont)

Beate Meyer (Hamburg) und Andrea Löw (München): Handlungsstrategien der Opfer. Kommentar: Dan Michman (Jerusalem)

Tatjana Tönsmeyer (Essen): Jenseits des „Bystanders“: Soziale Prozesse und soziale Dynamiken als Kontext des Holocaust. Kommentar: Doris Bergen (Toronto)

Michael Mayer (Tutzing): Vom Nutzen und Nachteil einer vergleichenden Holocaustforschung