Vorindustrielle Produktion und Arbeitsorganisation (Irsee, 22.-24.03.2002)

Vorindustrielle Produktion und Arbeitsorganisation (Irsee, 22.-24.03.2002)

Organisatoren
Tagung des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Ort
Irsee
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.03.2002 - 24.03.2002
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Von
Christof Jeggle, Institut für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte, Freie Universitaet Berlin

Gewerbliche Produktion und Arbeitsorganisation
2. Tagung des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Der Irseer Arbeitskreis für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte tagte vom 22. bis 24. März 2002 zum zweiten Mal in der Schwabenakademie Irsee. Die durch die Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung war dem Thema „Gewerbliche Produktion und Arbeitsorganisation“ gewidmet. Nach der Eröffnung durch den Direktor der Schwabenakademie Rainer Jehl zog Mark Häberlein (Freiburg) seitens der Organisatoren eine positive Bilanz der bisherigen Tätigkeit des Arbeitskreises. Dieser Erfolg könne jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die ungesicherten Arbeitsbedingungen für NachwuchswissenschaftlerInnen auf das Ziel, die Diskussion über Fragen der vorindustriellen Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu intensivieren, wenig förderlich auswirkten und langfristige Arbeitsperspektiven erschwerten.

In insgesamt zwölf halbstündigen Vorträgen präsentierten die ReferentInnen vielfältige Aspekte des Rahmenthemas und regten die etwa 35 Teilnehmenden zu intensiven Diskussionen an. Als Einführung in das Rahmenthema legte Christof Jeggle (Berlin) die Betonung auf systematische Fragen der Forschungspraxis. Einen Ausgangspunkt bildete die unterschiedliche Forschungslage hinsichtlich städtischer und ländlicher Gewerbe: Während für ländliche Gewerbe in Folge der Protoindustrialisierungsdiskussion eine vielfältige Forschungslandschaft entstanden sei, verharre die Forschung zu städtischen Gewerben in einer zunftzentrierten Perspektive und neige zur Bestätigung etablierter Vorstellungen. Von neuen Forschungskonzepten würden häufig nur Versatzstücke übernommen, die daher nur wenig Wirkung entfalten würden. Ingesamt lägen für die Gewerbegeschichte vergleichsweise wenige prägnante, von breiteren Kreisen geteilte Forschungspositionen vor. Für die weitere Forschung fehle es weniger an Ideen, sondern vielmehr an deren konsequenter Umsetzung. Eine solche läge beispielsweise in einer stärkeren Betonung des Produktionsprozesses entlang des Lebenszyklus’ eines Gegenstandes von der Rohstoffgewinnung bis hin zu seiner letzten Verwertung. Daran anknüpfend könnten soziale Beziehungsnetze zwischen den an der Produktion beteiligten Personen hinsichtlich von Fragen der Arbeitsteilung und Gruppenbildung, aber auch der Einbindung in andere gesellschaftliche Bereiche untersucht werden. Ziel der Analyse seien nicht mehr substanzialistische Abstraktionen oder ganzheitliche Kulturmodelle, sondern das Ausloten strukturierter Handlungsoptionen. In der Diskussion wurde die stärkere Einbeziehung von „Vertrauen“ als Faktor des Handelns in sozialen Beziehungsnetzen vorgeschlagen.

In seinem Beitrag „Handwerk auf der Burg, Gewerbe auf dem Lande. Wirtschaftsstandorte außerhalb der Städte im Blickfeld der Mittelalterarchäologie“ wies Michael Herdick (Marburg) am Beispiel der Textil- und der Glasproduktion auf Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns durch Einbeziehung archäologischer Funde in die gewerbehistorische Forschung hin. Ausgangspunkt seiner mit zahlreichen Dias illustrierten Ausführungen war die Forderung, Formen mittelalterlicher Produktionsorganisation stärker in ihrer Eigenheit zu sehen und nicht an gegenwärtigen Maßstäben zu messen. Breiteren Raum nahm die Frage nach Formen der Textilherstellung ein, die weit verbreitet und bereits seit den Römern zum Teil auch exportorientiert gewesen sei. Aus Grabfunden ließe sich schließen, dass sie überwiegend als weibliche Tätigkeit anzusehen sei. Analysen von Grubenhäusern zeigten keine Spuren häuslichen Lebens; sie dürften ausschließlich als Werkstätten gedient haben. Hinsichtlich von Innovationen sei interessant, dass auch nach der Erfindung von Trittwebstühlen die Gewichtswebstühle beibehalten wurden, da sie zur Herstellung breiter Tuche besser geeignet waren.

Bei der Glasherstellung seien direkte Transfers antiker Fertigkeiten nicht festzustellen, vielmehr wiesen Gläser aus dem mediterranen und dem mitteleuropäischen Raum durch unterschiedliche Rohstoffe Qualitätsunterschiede hinsichtlich der Reinheit auf. Da es wegen der Notwendigkeit erheblich höherer Schmelztemperaturen wesentlich leichter war, Glas zu verarbeiten als Rohglas herzustellen, wurde Rohglas auch als Rohstoff gehandelt. Wenn sich Rohstoffe wie Quarzsand, Ton und Raseneisenerz sowie ein Fluss an einem Ort fanden, konnten diese als Standortfaktoren zu komplexen Produktionsstrukturen führen. Anhand von Bergbaurevieren verdeutlichte Herdick Zusammenhänge zwischen Burgen und Befestigungsbauten und den Produktionseinrichtungen. Befestigungen wurden unter anderem gezielt zum Schutz von wichtigen Produktionseinrichtungen errichtet. Herdick hob abschließend hervor, dass es im Mittelalter vielfältigere und komplexere Formen der Produktionsorganisation gegeben habe, als meist angenommen würde.

Dem optischen Handwerk in Augsburg und dessen Etablierung im 17. Jahrhundert galt der Vortrag von Inge Keil (Augsburg). Im Mittelpunkt stand der Optiker Johann Wiesel (1583-1662), der um 1620 aus der Pfalz nach Augsburg kam und dort die erste optische Werkstatt nach Erfindung von Teleskop und Mikroskop begründete. Nach einem Überblick über die Werkstoffe und ihre möglichen Lieferanten stellte Keil verschiedene von Wiesel hergestellte, weiterentwickelte oder erfundene Geräte vor und präsentierte einige der erhaltenen Exemplare im Bild. Trotz vielfältiger, durch den Dreißigjährigen Krieg bedingter Schwierigkeiten konnte Wiesel ein florierendes Geschäft aufbauen. Insbesondere Fürstenhöfe und Gelehrte in Mittel- und Nordeuropa interessierten sich für seine Geräte. Wiesel war daher in ein dichtes europaweites Beziehungsnetz eingebunden. Den Vertrieb organisierte er mit Produktverzeichnissen und brachte Vermarktungsstrategien wie Briefe und deutlich sichtbare Produktsignaturen zum Einsatz. Ein Teil der Ware wurde durch Agenten vertrieben. Sein Schwiegersohn und Nachfolger Daniel Depiere brachte 1674 den ersten gedruckten Produktkatalog heraus. Als Hersteller hochspezialisierter Produkte hatte Wiesel in Augsburg nur einzelne Nachfolger; Massenware, wie zum Beispiel einfache Brillen, wurde von Nürnberg und Regensburg aus durch Wanderhandel vertrieben.

Anke Sczesny (Augsburg) untersuchte „Das Beziehungsgefüge von Exportgewerbestädten, Kleinstädten und Märkten im Textilrevier Ostschwabens im 17. und 18. Jahrhundert“. Eine städtisch ausgerichtete Zentralperspektive sollte bei der vergleichenden Betrachtung von Land, Markt und Stadt vermieden werden. Vielmehr gelte es den Wechselwirkungen und Verflechtungen nachzuspüren. Im Gegensatz zum benachbarten Altbayern, wo sich deutliche Formen der Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land feststellen lassen, waren diese in Schwaben zwischen den unterschiedlichen Produktionsstandorten insbesondere bei Alltagsgegenständen weniger ausgeprägt. Spezialisiertere Gewerbe fanden sich dagegen auch hier nur in Städten, zudem waren die Handwerker dort tendenziell innovationsfreudiger. Um den Absatz auf städtischen Exportmärkten zu ermöglichen, betrieben Landhandwerker die Gründung von Zünften, was die Obrigkeiten zunächst ablehnten, schließlich jedoch auch aus fiskalischen Interessen zuließen. In organisatorischer Hinsicht lassen sich unter den Landzünften sowohl gemischte Sammelzünfte als auch gebietsbezogene Fachzünfte feststellen. Die Landzünfte regulierten ihrerseits den Marktzugang, indem sie nur Mitglieder am Markt zuließen. Die Produktionsausweitung und -verlagerung von den Städten auf das Land war nicht nur ein quantitativer Vorgang, sondern auch ein qualitativer, denn die ländlichen Produzenten konnten erfolgreich mit den großen Reichsstädten konkurrieren und sich durch die Zünfte weiter professionalisieren. Ende des 18. Jahrhunderts ließen sich vielfältige Verflechtungen bei der Produktion von Leinen- und Baumwolltextilien feststellen. Wegen der flexiblen Marktstrukturen ließen sich städtische Monopole nicht durchsetzen, allerdings konnte sich die vorderösterreichische Stadt Günzburg als Handelsort profilieren, in dem auch italienische Kaufleute tätig waren. Ulm hingegen konnte für die landsässigen Leineweber den Schauzwang durchsetzen, deren Produktion für den Ulmer Handel existenziell war. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die Theorie zentraler Orte auf die vorgetragenen Befunde noch übertragbar sei. Hinsichtlich der Quellen wurde auf die Bedeutung von Arbeitsbüchern hingewiesen.

Die „Hochberger Weber im 18. Jahrhundert. Struktur und Entwicklung eines regional organisierten Textilgewerbes am Oberrhein“ wurden von Michaela Schmölz-Häberlein (Freiburg) vorgestellt. Das baden-durlachische Amt Hochberg mit der Amtsstadt Emmendingen war über das oberrheinische Städtenetz in den internationalen Handel eingebunden. Von der Hochberger Weberzunft liegen für den Zeitraum von 1680 bis 1772 heterogen zusammengesetzte Aktenbestände vor. In einem Gebiet mit erbrechtlicher Realteilung angesiedelt, nahm die Zahl der Weber beständig zu. Die Weber wohnten in Orten mit Hanfbau, den sie sowohl selbst anbauten als auch zukauften. Die Zunft zielte nicht auf eine quantitative Begrenzung der Weber – die Zahl der Mitglieder wuchs von ursprünglich 35-40 auf über 170 im 18. Jahrhundert –, sondern stand allen qualifizierten Webern offen und sollte Ausbildung und Qualitätskontrolle sowie eine Begrenzung der Stuhlzahl gewährleisten. Eine Erhebung im späten 18. Jahrhundert förderte die Ansicht zu Tage, die Zunft sei nicht zwingend einzuhalten. Wegen der Armut der Weber wurden Meister- und Gesellenbriefe häufig nur im Fall der Abwanderung ausgestellt. Die Weber arbeiteten sowohl im Kundenauftrag als auch für den Verkauf auf dem Markt. Die Kaufweberei begründete Kreditbeziehungen mit Kaufleuten, jedoch keine Abhängigkeitsverhältnisse. Verbreitet waren Kombinationen unterschiedlicher Tätigkeiten in der Landwirtschaft und der Weberei. Erworbenes Kapital wurde gezielt re-investiert. Versuche der Obrigkeiten, Maulbeerbaumkulturen zur Seidengewinnung auf Kosten des Weinanbaus zu etablieren, scheiterten, weil das Klima für die Seidengewinnung ungeeignet war und diese nicht in den agrarischen Jahreszyklus passte. Die Weber bevorzugten das stabile Hanfleinengewerbe gegenüber der risikobehafteten Seidenproduktion. Die handwerklichen Fertigkeiten von Frauen wollte die Obrigkeit durch Strick-, Spinn- und Nähschulen fördern. In einer vom Unternehmer Vogel betriebenen Spinnmanufaktur sollten in Emmendingen seit den 1770er Jahren bis zu 60 Kinder durch Spinnen zu „nützlichen“ Menschen erzogen werden – eine Vorstellung, die auch auf Juden bezogen wurde. Die kleinteiligen Herrschaftsräume führten zu grenzüberschreitenden Auftragsvergaben, die Grenzen wurden bei gerichtlichen Klagen mitunter taktisch instrumentalisiert.

In einem sehr konzentrierten Vortrag präsentierte Dietrich Ebeling (Trier) unter dem Titel „Die Entstehung eines frühindustriellen Arbeitsmarktes unter den Bedingungen der Modernisierung der Napoleonischen Zeit“ Ergebnisse eines größeren Forschungsprojekts zur Feintuchindustrie im Aachener Raum. Ausgehend von Ulrich Pfisters Modell protoindustriellen Wachstums wurden die räumliche Struktur des Arbeitsmarktes und die damit zusammenhängende Bildung eines komplexen Betriebssystems in Abhängigkeit von naturräumlichen, wirtschaftlichen und politisch-institutionellen Gegebenheiten untersucht. Wegen der hohen Kosten für zentrale Betriebsstätten wurden die meisten Arbeitskräfte durch zum Teil mehrstufige Verlagsbeziehungen organisiert. Ausnahmen bildeten die für die Tuchqualität entscheidenden Scherereibetriebe. Während für die meisten Arbeitsschritte in ausreichendem Maße lokale Arbeitskräfte vorhanden waren, wurde um die hochqualifizierten Scherer europaweit konkurriert. Die stark von Lohnarbeit geprägten Produzentenhaushalte passten sich auf vielfältige Weise – bis hin zum räumlichen Pendeln – dem Arbeitsangebot an. Für die demographische Entwicklung sei nicht ein verändertes Reproduktionsverhalten, sondern der Rückgang der Zölibatsquote entscheidend. Entgegen bisheriger Ansichten waren die Aachener Gewerbe in die Feintuchindustrie integriert und nahmen an deren Aufschwung teil. Die vielfach kritisierten Zünfte seien für die Qualifizierung der Arbeitskräfte wichtig gewesen. Mit der von den Bürgern mitgetragenen Liberalisierung durch die französische Gewerbegesetzgebung wurden nach der Aufhebung der Zünfte Arbeitsbeziehungen auf Grundlage der Vertragsfreiheit vereinbart. Zur Kontrolle der Arbeitskräfte wurden Arbeitsbücher eingeführt. Die als Verleger tätigen Kaufleute verstanden sich zunehmend als Fabrikanten.

In ihrem Beitrag zur „Frauenarbeit im Augsburger Zunfthandwerk des 18. Jahrhunderts“ wandte sich Christine Werkstetter (Augsburg) gegen die in der Forschung verbreitete Vorstellung, Frauen wären zu Beginn der Neuzeit aus der handwerklichen Arbeit gedrängt worden. Wie ihre exemplarische Untersuchung einiger Augsburger Handwerke ergab, waren Frauen in vielfältiger Weise beteiligt, auch wenn es schwierig sei festzustellen, welche Tätigkeiten sie im einzelnen ausführten. Werkstetter plädierte für eine nicht-hierarchische Betrachtung der einzelnen Arbeitsprozesse, da sämtliche Arbeitsschritte zur Fertigstellung wichtig waren und sogenannte „Hilfsleistungen“ von Frauen damit als unverzichtbare Beiträge zu werten seien. Zudem fühlten sich Frauen mit dem Handwerk verbunden und betrachteten es als ihren Besitz. Witwen hatten je nach Handwerk unterschiedlich geregelte Fortführungsrechte, die sie auch in Anspruch nahmen. Diese Vorschriften wurden durchaus flexibel gehandhabt; die Verpflichtung, einen Gesellen zu beschäftigen, wurde zum Beispiel nicht unbedingt eingehalten. Gravierende Einschränkungen resultierten aus der fehlenden formalen Ausbildung der Frauen. Als formell ungelernte Arbeitskräfte konnten sie nicht als Lohngesellen arbeiten oder selbst ausbilden. Meistertöchter erhielten häufiger eine zwar informelle, aber dennoch sorgfältige Ausbildung und brachten mitunter Handwerksgerechtigkeit und Werkstatt in die Ehe ein. Die im Handwerk sehr unterschiedlichen Vermögenslagen waren nicht geschlechtsspezifisch verteilt. Ein wichtiges Desiderat für weitere Forschungen sei die Einbeziehung der Ehefrauen von Gesellen und deren Tätigkeiten.

Der Beitrag von Philip Hoffmann (Konstanz) über „Die kulturelle Dimension der Arbeit. Normative Vorstellungen und Deutungsmuster bei gewerblichen Produzenten in der frühneuzeitlichen Stadt" stellte einige Überlegungen zu einer im Rahmen des Konstanzer SFB „Norm und Symbol“ (Teilprojekt „Politische Kultur und soziale Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt“) entstehenden Studie vor. Im ersten Teil skizzierte Hoffmann die theoretischen Grundlagen des Vorhabens, das versucht, neuere Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte zu verbinden. Auf der Grundlage von sozialwissenschaftlicher Hermeneutik wird eine konstruktivistische Strategie mit dem Ziel verfolgt, kognitive Deutungsmuster sozialer Handlungen zu untersuchen. Im zweiten Teil folgten zwei Beispiele aus dem Lübecker Schneiderhandwerk. Die Konflikte entzündeten sich an der Arbeit nichtzünftiger Meister, der Bönhaserei.

Streitpunkt war im ersten Fall der Verkauf von fertigen Kleidern vor der Tür, wobei die Grundmaterialien von anderen Bönhasen bezogen worden waren. Dem Konflikt lag das sozio-ökonomische Problem älterer Schneider angesichts eines übersetzen Amtes und rückläufigen Absatzes zugrunde. Der drohende Ausschluss aus dem Amt verschärfte den Konflikt vom Kampf ums soziale Überleben zum Kampf um soziale Anerkennung. In einem zweiten Beispiel, einem Streit zwischen dem Schneideramt und dem Rat über die Zulässigkeit von Verfolgungen beim „Pfuscherjagen“, wurden divergierende Norm- und Moralvorstellungen deutlich, denn aus Sicht des Rates waren derartige Verfolgungen nur „aus erheblichen Ursachen“ erlaubt. Problematisch waren diese Verfolgungen allemal, selbst wenn sich der Rat eventuelle Sanktionierungen vorbehielt, denn schon die Ermittlungen und Visitationen des Amtes kamen einer ehrenrührigen Bloßstellung gleich. Im Mittelpunkt der Diskussion standen Fragen zur Verbindung von Fragestellung und theoretischem Konzept mit den Fallgeschichten.

Konflikte waren auch Gegenstand des Referats von Robert Brandt (Frankfurt am Main) über „Autonomie und Nahrungsschutz, Antijudaismus und politische Modernisierung. Das Frankfurter Handwerk während des Verfassungskonflikts 1705-1732“. Im Frankfurter Verfassungsstreit von 1705 waren die zugrundeliegenden Konfliktlinien vielfältig: Eine Gruppe wohlhabender Meister wandte sich gegen ärmere Meister, christliche gegen jüdische Gewerbetreibende und Bürger gegen den Stadtadel. Wegen der letzteren Konfliktkonstellation erhielten die opponierenden Bürger Unterstützung durch Kaiser und Reichshofrat und konnten einige Erfolge erzielen. 1713 entstand eine neue bürgerliche Opposition, die sich für die Erweiterung der Rechte von Zünften einsetzte. Ziel war unter anderem, mittels des Bürgerrechts gegen wirtschaftlich erfolgreiche Einwanderer Zugangsrestriktionen zu verhängen. Betroffen waren Calvinisten, italienische (katholische) Kaufleute und Juden. Die Frage des „Nahrungsschutzes“ wurde Gegenstand von Gerichtsprozessen, in denen das Problem der „Störerei“ hervorgehoben wurde. Die in den Konflikten auftretenden Dualismen sollten, so Brandt, nicht als Gegensätze gesehen werden, sondern als Zustand. In der Diskussion wurde vorgeschlagen, die Ebenen der Aus- und Abgrenzung und die Frage, worum genau konkurriert wurde, stärker zu differenzieren, da allgemeine Erklärungen möglicherweise nicht adäquat seien. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht die spezielle Situation in Frankfurt, das seinen Wohlstand in erster Linie aus Kapitalmarktgeschäften und nicht aus gewerblicher Produktion bezog, überhaupt erst derart rigide Abgrenzungsbestrebungen der Zünfte ermöglicht habe.

Thomas Buchner (Salzburg) verfolgte die Frage „Zünftische Gemeinschaften? Formale Eliten in Wiener und Amsterdamer Zünften im 18. Jahrhundert“. Ausgehend von der Forschungsansicht, mittelalterliche Zünfte seien Solidargemeinschaften gewesen, verglich Buchner die Entstehung von Zünften in Amsterdam und Wien in der Frühen Neuzeit. In Amsterdam wurden Zünfte verstärkt im 17. Jahrhundert, insbesondere von erfolgreichen Gewerben gegründet und dienten in erster Linie der Gewerbeaufsicht. In Wien wurden Zünfte sowohl von der Landesherrschaft als auch von der Stadt zugelassen. Nachdem der Wiener Hof am moralischen Lebenswandel seiner Bürger interessiert war, reichte die Kontrollfunktion der Zünfte bis ins alltägliche Leben hinein. Auch das Verlesen von Dekreten und die Steuereinnahme gehörten zu ihren Aufgaben, direkte politische Partizipation gab es hingegen nicht. Anschließend untersuchte Buchner vergleichend die Frage, wie sich diese Vermittlungsfunktionen auf die Führungsbildung auswirkten, anhand der Goldschmiedezünfte beider Städte. In Amsterdam wählte der Rat aus Vorschlägen des amtierenden Vorstandes dessen Nachfolger. Dabei lässt sich eine abnehmende Fluktuation im Vorstand feststellen, der sich damit tendenziell abschloss und Neulingen kaum eine Chance ließ. Diese Oligarchisierung kam dem Interesse der Obrigkeit an Kontinuität entgegen. Die Goldschmiedezunftvorsteher betrieben ihrerseits durch große Geschenke informelle Beeinflussung der Obrigkeiten. In Wien hingegen bestimmten die Mitglieder abgestuft nach Rängen bei der Bestellung des Vorstandes mit, was eine zunehmende Fluktuation und Öffnung zur Folge hatte. Bei den Amsterdamer Metzgern, die wegen der großen Bedeutung der Fleischverarbeitung starker obrigkeitlicher Kontrolle unterlagen, versuchte die städtische Obrigkeit Oligarchisierungstendenzen zu dämpfen. Die Wahrnehmung der Zünfte insgesamt war unterschiedlich.

Amsterdamer Zunftvorsteher wurden als Teil der Obrigkeit gesehen, und Mitglieder verfassten individuelle Bittschriften, auch mit dem Ziel der Korrektur der Politik ihrer Zunft. In Wien hingegen fand die Interessenvertretung durch die Zünfte statt und wurde zunftintern durchgesetzt. In der Diskussion ergänzte Buchner, dass er anhand der ausgewählten Zünfte eine Bandbreite des Möglichen aufzeigen wollte und nicht generelle, auf andere Zünfte übertragbare Charakteristika. Allgemeine Erklärungsansätze für die unterschiedlichen Entwicklungen seien daher wenig erfolgversprechend.

Einen Überblick über „Zuckerraffination in Deutschland im 18. Jahrhundert“ gab Christian Lorenz (Berlin). Seit Mitte des 17. Jahrhunderts führte die gesteigerte Zuckerproduktion für Europa zu einem Preisrückgang von 70 Prozent. Damit wurde Zucker breiten Konsumentenschichten zugänglich. Nach dem Dreißigjährigen Krieg löste Hamburg die niederländische Marktdominanz ab, und um 1737 produzierten dort etwa 200 Raffinerien, die weite Teile von Mittel- und Osteuropa versorgten. Die Zuckersiedereien waren Handwerksbetriebe, die keinen obrigkeitlichen Vorschriften unterlagen. Die Größe der Betriebe war unterschiedlich, im Gegensatz zu größeren Betrieben waren die kleineren hinsichtlich ihrer Existenz konjunkturabhängig. Mit den mehrmonatigen Produktionszyklen der Siedevorgänge waren Fälligkeitstermine für Kredite verbunden. Für die etwa drei jährlichen Zyklen lieferte ein Kaufmann das Rohmaterial auf Kreditbasis und nahm anschließend die fertige Ware zum Fixpreis ab. Das Preisschwankungsrisiko blieb beim Produzenten. Zum Teil wurden auch Halbfertigprodukte gehandelt und weiterverarbeitet. Die Absatzmärkte unterlagen einer Reihe von obrigkeitlichen Reglementierungen, neben der Bewertung des Zuckers als unnützem Luxus, der ständische Konsumgrenzen überschreite und gesundheitsschädlich sei, wurde er auch als neue Einnahmequelle genutzt. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich Konkurrenz für Hamburg. Preußen vergab erst ein teilweises, später ein vollständiges Monopol an einen Produzenten. Die hohen Investitionen in Betriebe und die Einfuhr des Zuckerrohrs über Stettin führten zu hohen Produktionskosten. Auch in Bremen entstanden eigene Betriebe; wegen des unzureichenden Kapitals der Bremer Kaufleute hatten allerdings nur wenige Erfolg. Die Bremer Zuckersieder initiierten die Eigenproduktion von Tongerätschaften für die Zuckersiederei, da die Hamburger aus ihrer Sicht überhöhte Preise nahmen.

Abschließend untersuchte Sven Steffens (Brüssel) auf Grundlage von mehreren hundert autobiographischen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum und Belgien „Die Praxis der Lehrlingsausbildung zwischen Vermittlung und Vorenthaltung beruflichen Wissens im späten 18. und 19. Jahrhundert“. Die Bewertung seitens der bisherigen Forschung ist uneinheitlich; es sei davon auszugehen, dass die Ergebnisse der Ausbildung nicht durchgängig befriedigend waren, da jungen Gesellen mitunter ein weiteres Lehrjahr wegen Unterqualifikation nahegelegt wurde. Steffens stellte ein komplexes Faktorenbündel für Erfolg und Misserfolg von Ausbildungen vor. Fest steht, dass in der Ausbildungspraxis in erster Linie durch Mitarbeit und Mimesis gelernt wurde. Übungen unter direkter Anleitung waren nicht üblich, vielmehr musste der Lehrling sein Wissen mit den Augen gewissermaßen „stehlen“ sowie Muster und Schablonen heimlich kopieren. Die Zunftstatuten enthielten keine detaillierten Angaben über Form und Ziele der Ausbildung, Fachliteratur wurde nur selten benutzt. Die Lehrlingszeit galt nicht nur der Ausbildung, sondern vor allem der berufsspezifischen Sozialisation, die durch zahlreiche Initiationsrituale begleitet wurde. Diese Rituale sollten das „Nichtwissen“ und den inferioren Status des Lehrlings betonen und waren damit eine Form symbolischer Besitzstandswahrung. Dies verdeutlichen auch die 300 nachweisbaren Begriffe für „Lehrling“, in denen sie fast nie als Lernende bezeichnet wurden. Bei dieser Form der Ausbildung standen weniger rein ökonomische Kalküle im Vordergrund, sondern die Wahrung sozialer Statusdifferenzen. Selbst Meistersöhne waren nur graduell dadurch privilegiert, dass sie in der Arbeitswelt aufwuchsen und dadurch mit den Praktiken etwas besser vertraut waren. In der Diskussion kam die Frage auf, welche Folgen die starke indirekte Selektion hatte und ob Handwerksverbände bei dieser Form der Ausbildung ein Schutz vor „begabten Quereinsteigern“ gewesen seien. Bei der verbreiteten Leistungsentlohnung schlug sich eine schlechte Ausbildung in schlechter Entlohnung nieder.

Die Abschlussdiskussion zeigte, dass das Tagungsthema vielfältige Forschungsperspektiven auffächern konnte und sich als lohnendes Forschungsfeld erwiesen hat. Die gesellschaftliche Bedeutung von Produktionsbeziehungen als wesentliche Sozialbeziehungen wurde hervorgehoben. Neben der weiteren Erforschung von Produktionsprozessen scheint eine Neubewertung des Verhältnisses von gewerblichen Produzenten und politischen Ordnungsvorstellungen insbesondere in den Städten notwendig. Insgesamt wurde die Tagung sehr positiv bewertet. Es ist vorgesehen, die Beiträge in der Reihe „Irseer Schriften“ zu publizieren. Die Arbeit des Arbeitskreises wird mit der 3. Tagung vom 21. bis 23. März 2003 zum Themenfeld „Geld – Kredit – Markt“ fortgesetzt.

Kontakt

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Prof. Dr. Mark Häberlein
Historisches Seminar der Universität Freiburg
KG IV, Werthmannplatz, D-79085 Freiburg
email: <Mark.Haeberlein@geschichte.uni-freiburg.de>

Christof Jeggle M.A.
Innsbrucker Str. 49a, D-10825 Berlin
email: cjeggle@wiwiss.fu-berlin.de


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