Von Knoten und Kanten? Netzwerktheoretische Ansätze zur Untersuchung der osmanischen und deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert

Von Knoten und Kanten? Netzwerktheoretische Ansätze zur Untersuchung der osmanischen und deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Katja Patzel-Mattern / Rabea Limbach / Aysegül Argit, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.02.2014 - 22.02.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Johanna Bethge / Max Gawlich, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der wissenschaftliche Workshop „Von Knoten und Kanten – Netzwerktheoretische Ansätze zur Untersuchung der osmanischen und deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert“, der am 21. und 22. Februar 2014 in Heidelberg stattfand, stellte die Frage nach Chancen und Grenzen historischer Netzwerkforschung. Konkrete Forschungsprojekte von (Nachwuchs-) Wissenschaftler_innen aus dem Feld der Wirtschaftsgeschichte einerseits und der osmanischen Geschichte andererseits bildeten den Rahmen, um ökonomische, politisch-gesellschaftliche und (gruppen-)biographische Netzwerke zu identifizieren und zu problematisieren.

Im Eröffnungsvortrag gab ADELHEID VON SALDERN (Hannover) einen perspektivreichen Einblick in die derzeitige Netzwerk-Forschung. Sie ging dabei auf Hintergründe, Typenbildungen, Charakteristika und Nutzbarmachungen des Netzwerkbegriffs für die Geschichtswissenschaft ein. Das Fehlen einer verbindlichen Definition von dem „Netzwerk“ sah die Historikerin dabei nicht als defizitär, sondern als entlastend an. Netzwerke stellten „Gebilde eigener Art“ (von Saldern) dar, die sich in ihrem Charakter zwischen Stabilität und Fluidität, räumlicher Enge und Weite auszeichneten. Stabilität und Qualität der Netzwerkbeziehungen variierten. Netzwerke basierten auf Kategorien von Freundschaft und Vertrauen, ohne deshalb an Funktionalität zu verlieren. In der Offenheit für die unterschiedlichsten Themenfelder liege eine der Stärken des Netzwerk-Ansatzes, eine andere in seiner überdurchschnittlich großen Anschlussfähigkeit an bestehende Theoreme, etwa an die Bourdieusche Feldtheorie, die Neue Institutionenökonomie oder Raum-Theorien.

Im ersten Panel nahm VERENA VON WICZLINSKI (Mainz) die Netzwerkbildung(en) des Frankfurter Privatbankhauses Gebr. Bethmann unter funktionalen Gesichtspunkten in den Blick: Die wirtschaftliche Nutzung bereits etablierter persönlich-verwandtschaftlicher Beziehungen ins Ausland, unter anderem ins Osmanische Reich, präsentierte die Vortragende dabei als eine erfolgreiche Überlebensstrategie eines lokalen Bankhauses im Kontext globaler Herausforderungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Mit dem Vortrag von CHRISTIAN MARX (Trier) schwenkte die Perspektive um auf einen quantitativen Zugriff auf personelle ökonomische Netzwerke. Ein umfangreicher Datensatz der größten deutschen Aktiengesellschaften (unter anderem Vorstands- und Aufsichtsratspositionen, Bilanzvolumen, Aktienkapital) ermöglichte es ihm, Aussagen über strukturelle Eigenschaften wie Dichte, Stabilität und Funktionalität personeller Unternehmensverflechtungen zwischen deutschem Kaiserreich und Nationalsozialismus über einen Zeitraum von knapp vierzig Jahren hinweg (1896-1938) zu treffen. RABEA LIMBACHs (Heidelberg) konzeptionelle Überlegungen zu zwei frühindustriellen Unternehmen aus der Pfalz eröffneten schließlich eine dritte Definition von Netzwerkbeziehungen als Handels- und Geschäftsbeziehungen. Die Historikerin problematisierte die Quellenfrage bei der Identifizierung möglicher sozialer Netzwerke. Ihre Auswertung kaufmännischer Alltagskorrespondenz (sogenannte Briefkopierbücher) erlaubt es auf quantitativer Ebene, die regionale Weite und Intensität eingegangener Handelsbeziehungen abzustecken. Die jeweils spezifische Netzwerkbildung und –pflege wird mithilfe qualitativer Quellenstudien analysiert und trägt so zum besseren Verständnis ökonomischer Austauschbeziehungen bei. STEFANIE VAN DE KERKHOF (Mannheim) moderierte die sich anschließende, engagiert geführte Diskussion. Hierbei kam eine (von den Teilnehmer_innen selten gefüllte) definitorische Unschärfe des Netzwerkbegriffs zum Vorschein. Kritik wurde geübt an einer Überbetonung der positiven Attribute von Netzwerken innerhalb der Wirtschaftsgeschichte. Der (Selbst-)Konstruktionscharakter von Netzwerken hingegen blieb unbestritten. Die Moderationsleitung plädierte für eine präzisere Fassung und Abgrenzung von Netzwerken gegenüber anderen naheliegenden Analysekategorien wie Strukturen und Kommunikationsbeziehungen.

Das zweite Panel eröffnete HENNING SIEVERT (Zürich) mit seinen Überlegungen zu reichsweit und vertikal organisierten Vermittler-Netzwerken zwischen Zentrum und Peripherie im spätosmanischen Nordafrika. Auf der Ebene personeller und quasi institutioneller Vermittler ließen sich einerseits translokale Allianz- oder Patronagebeziehungen rekonstruieren, anderseits die vielschichtigen Zentralisierungsversuche und -prozesse des 19. Jahrhunderts ablesen. Sein Quellenfundament bilden dabei Beschwerderegister und Verwaltungsunterlagen aus dem Kontext von Disziplinarverfahren. VOLKER KÖHLER (Darmstadt) präsentierte das agrarisch-industrielle Umfeld um Paul von Hindenburg als ein Netzwerk, zusammengehalten und zentriert durch die symbolische Strahlkraft des Reichspräsidenten der Weimarer Republik. Bittbriefe aus dem persönlichen Umfeld Hindenburgs dienten dem Vortragenden dabei als Quellenbasis, um die Kontaktaufnahme und -pflege auf sprachlicher Ebene auf Codes, Redewendungen und Schlüsselwörter hin zu analysieren. Köhler konnte so die mikropolitische Qualität dieses gegen bestehende staatliche Institutionen gerichteten Netzwerkes herausarbeiten. In dem von STEFAN REICHMUTH (Bochum) moderierten zweiten Panel erwies sich der Netzwerbegriff als Suchbegriff. Als ein fluider Hilfsbegriff, um randständige und strukturell schwache Regionen und ihre Akteure in einen geschichtlichen Kontext einzubinden einerseits. Um ambivalente Persönlichkeiten in ihrer ausstrahlenden Bedeutung zu erfassen, andererseits. Die vorwiegend inhaltlich geführte Diskussion am Ende des zweiten Panels zeigte konzeptionelle Grenzen auf: Der Netzwerk-Ansatz eignet sich zur Modellierung von Austauschbeziehungen. Ihre eigentliche Realisation auf Mikroebene blieb jedoch unsichtbar.

Der zweite Tag des Workshops begann mit dem zweiten Gastvortrag von STEFAN REICHMUTH (Bochum) zur Bedeutung der Netzwerkforschung in der Historiographie der Neueren Geschichte der islamischen Welt. Dabei stellte er insbesondere Forschungsarbeiten der Nachwuchsgruppe (Volkswagen-Stiftung) „Islamische Bildungsnetzwerke im lokalen und transnationalen Kontext (18.-20. Jahrhundert)“ am Seminar für Orientalistik und Indologie der Ruhr-Universität Bochum vor. Er betonte den im Laufe des Workshops häufig hervorgehobenen Umstand, dass in der empirischen historischen Forschung Netzwerke „die Sphäre zwischen Individuen und Strukturen“ bilden und jedes Mal neu definiert werden müssen. Zentral bleibt bei dieser forschungspragmatischen Position aber die reziproke Relationalität als strukturelle Eigenschaft von Beziehungsgeflechten. In ihnen können Akteure Beziehungen aufnehmen ebenso wie Beziehungen Akteure zu spezifischen Handlungen zwingen. Am Beispiel eigener und der vorgestellten Forschungsarbeiten zur Geschichte der islamischen Welt in der Neuzeit vermochte er zudem die Verschränkungen zwischen Diskursen, Netzwerken und Strukturen als dynamisches Wechselspiel in historischer Dimension herauszuarbeiten.

GERHARD GRUESSHABER (München) eröffnete mit seinem Vortrag zu deutsch-osmanischen Militärbeziehungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg das 3. Panel zu Deutsch-Osmanischen Austauschprozessen. Die Perspektive der Netzwerkforschung auf traditionelle ideen- oder diskursgeschichtliche Felder anzuwenden, ermöglicht es, individuelle Akteure herauszuarbeiten und hilft andererseits, lokale und nationale Aneignungsstrategien zu betonen. Das Ziel dieser Untersuchung des militärischen Netzwerkes soll ein tieferes Verständnis dieser Austauschprozesse ermöglichen. ERIN NULL (Michigan) stellte in ihrem Vortrag die Frage nach imaginierten Netzwerken, die zwischen Leserinnen deutscher Zeitschriften und Akteurinnen in Berichten zum Osmanischen Reich zu finden seien. Dabei stand konzeptionell die Frage im Vordergrund, wie die abstrakte, lesende Öffentlichkeit mit greifbaren persönlichen Beziehungen verknüpft werden kann. Das Panel wurde von den Ausführungen SEVIL ÖSÇALIKs (München) über die unterschiedlichen Wurzeln des türkischen Nationalismus abgeschlossen. Die Referentin hob die Rolle von Ernst Jäckh als Verbreiter deutscher Interessen und Nationalismusvorstellungen unter den Jungtürken hervor. In der anschließenden Diskussion, welche KATJA PATZEL-MATTERN (Heidelberg) leitete, standen einerseits der auch durch Netzwerkforschung als Methodik nicht immer zu überwindende Eurozentrismus und andererseits die konzeptionellen und inhaltlichen Grenzen von historischer Netzwerkforschung im Zentrum. Tradierte Vorstellungen von Ideen und Begriffen, welche unabhängig von ihren Verbreitungsformen seien, wurden kontrovers debattiert. Darüber hinaus zeigte sich, dass nur geeignetes Quellenmaterial eine symmetrische und profunde Untersuchung von personellen Netzwerken ermöglicht.

Das abschließende Panel zu Politischen Willensbildungen und Identitätsbildungen in Netzwerkbeziehungen unter der Leitung von RABEA LIMBACH (Heidelberg) eröffnete AYSEGÜL ARGIT (Heidelberg) mit ihrem Referat zu Istanbuler Kommunikationsnetzwerken nach der Jungtürkischen Revolution. Zentral für die Mobilisierung politischer Bewegungen wurden neue und überlieferte Kommunikationsstrukturen herausgehoben und es stellte sich die Frage, wie das räumlich konzeptualisierte Kommunikationsnetzwerk und der historische Raum Istanbul in Beziehung zueinander stehen. Zudem wurde deutlich, dass Netzwerke gerade auch klandestine Kommunikationsformen befördern. Die beiden folgenden Vorträge beschäftigten sich ebenfalls mit Netzwerken, die real oder imaginär im Verborgenen agierten. Im Vortrag von BARBARA HENNING (Bamberg) zur Bedirhani-Familie offenbarte sich zudem, dass der Anschluss an Fragen der Identitätsbildung eine Möglichkeit bietet, Akteure in Netzwerken nicht zu essentialisieren. Dabei ist es immer wieder das imaginierte und erinnerte Netzwerk „Familie“, welches die eigene Identität in Fremd- und Selbstbeschreibungen mitbestimmte. Abgeschlossen wurde das Panel von ALP YENENs (Basel) Referat zu jungtürkischen Netzwerken nach dem Ersten Weltkrieg. Yenen bot in seinem Beitrag eine kritische Perspektive auf die Untersuchung von Netzwerken. Es sei zentral die Qualität von Verflechtungen durch Quellenstudien zu bestimmen, um nicht, wie es zeitgenössischen Geheimdiensten unterlief, der Erzählung einer deutsch-jungtürkisch-bolschewistisch-indischen Verschwörung gegen das Empire aufzusitzen. Der Beleg von Verbindungen und Assoziationen einzelner Akteure allein gestatte eben nicht, schon von einem systematisch agierenden Netzwerk zu sprechen. In der angeregten Diskussion, wurde nochmals der Umstand betont, dass der Quellenbezug für die historische Netzwerkforschung zentral ist, wenn dieser nicht als von außen herangetragenes Analyseinstrument begriffen wird. Dieser Aspekt erschwert, wie sich zeigte, den Versuch einer einheitlichen Begriffsbildung umso mehr.

In der ausführlichen Abschlussdiskussion wurden Aspekte, welche sich im Laufe des Workshops herausschälten, zugespitzt zur Diskussion gestellt. Während einerseits die begriffliche Schärfe nochmals eingefordert und vor dem Netzwerk als Containerbegriff gewarnt wurde, stellten andere Sprecher die Fluidität und Anknüpfungsfähigkeit des nicht mehr ganz jungen Konzeptes heraus. Eine Bestimmung des Netzwerks gelang so den meisten Teilnehmern nur negativ, indem es als zwischen Akteuren und Strukturen angesiedelt und als Nicht-Institution und Nicht-Diskurs benannt wurde. Dieser Umstand kann, gerade wenn in Forschungsarbeiten nicht die theoretische und methodische Anknüpfung an andere historiographische Vorgehensweisen gesucht wird, dazu führen, dass der analytische Mehrwert verloren geht und das Netzwerk als Blackbox mögliche Einsichten noch stärker verschleiert. Die definitorische Unschärfe kann aber auch genutzt werden, wenn der Netzwerkbegriff von seiner sozialwissenschaftlichen Enge befreit, als heuristisches Instrument dienend Fragen metaphorisch anleitet. Nur wenig wurde im Workshop die soziale Stratifizierung und Hierarchisierung von Netzwerken untersucht, sodass der Fokus der meisten Forschungen auf handlungsmächtige Eliten konzentriert blieb. Das Zusammenkommen der vielfältigen Forschungsprojekte ermöglichte darüber hinaus einen ergiebigen Austausch, der über offensichtliche Austauschprozesse zwischen Deutschen und Osmanischen Reichen hinausgehend, neue Quer- und Parallelentwicklungen andeutete.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag:
Adelheid von Saldern (Hannover), Netzwerkforschung: ein historiographisches Passepartout?

Panel 1: Ökonomische Netzwerke
Moderation: Stefanie van de Kerkhof (Mannheim)

Verena von Wiczlinski (Mainz), Das Frankfurter Privatbankhaus Gebr. Bethmann zur Zeit des Kaiserreichs – Zur Bedeutung informeller Netzwerke auf dem Feld des internationalen Kapitalexports vor dem Ersten Weltkrieg

Christian Marx (Trier), Die Formationsphase der ‚Deutschland AG‘. Zur Integrationskraft und Funktionalität der deutschen Unternehmensverflechtung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (1896-1938)

Rabea Limbach (Heidelberg), Die Rolle von Netzwerken für die Erschließung von Märkten – das Speyrer Handelshaus Lichtenberger & Co. im Deutschen Bund

Panel 2: Die Person im Netzwerk
Moderation: Stefan Reichmuth (Bochum)

Henning Sievert (Zürich), Translokale Vermittler im Osmanischen Reich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Volker Köhler (Darmstadt), Die Osthilfe in der Weimarer Republik. Agrarsubventionen als mikropolitisches Phänomen

Zweiter Gastvortrag:
Stefan Reichmuth (Bochum), Die Relevanz sozialer Netzwerke für die Historiographie der islamischen Welt der Neuzeit – Fragestellungen und Methoden der Forschung

Panel 3: Deutsch-osmanische Austauschprozesse
Moderation: Katja Patzel-Mattern (Heidelberg)

Gerhard Gruesshaber (München), Der ‚Deutsche Geist’ im osmanischen/türkischen Militär, 1908-1938

Erin Null (Michigan), A Women’s Reading Public on the Ottoman Empire

Sevil Özçalik (München), Türken Jäckh’s ideas on Turkish Nationalism and their Repercussions on the Young Turks

Panel 4: Politische Willens- und Identitätsbildung im Netzwerk
Moderation: Rabea Limbach (Heidelberg)

Aysegül Argit (Heidelberg), Kommunikationsnetzwerke in Istanbul nach der Jungtürkischen Revolution in 1908

Barbara Henning (Bamberg), Netzwerkstrukturen als Indikatoren für Kontinuität und Wandel im Selbstverständnis der kurdisch-osmanischen Bedirhani-Familie

Alp Yenen (Basel), Zwischen Verflechtungsgeschichte und Verschwörungstheorie: Jungtürkische Netzwerke nach dem Ersten Weltkrieg (1918-1922)

Resümee des Workshops und Plenumsdiskussion