Privatisierte Gesundheit: Arbeitsmärkte, Erfahrungsräume und Staatlichkeit im Gesundheitswesen seit den 1970er Jahren

Privatisierte Gesundheit: Arbeitsmärkte, Erfahrungsräume und Staatlichkeit im Gesundheitswesen seit den 1970er Jahren

Organisatoren
Dietmar Süß, Universität Augsburg; Winfried Süß, ZZF - Zentrum für Zeithistorische Forschung; Malte Thießen, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.03.2014 - 20.03.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Am 19. und 20. März 2014 fand an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ein Workshop zur privatisierten Gesundheit seit den 1970er-Jahren statt. Die von Malte Thießen (Oldenburg), Dietmar Süß (Augsburg) und Winfried Süß (Potsdam) organisierte Veranstaltung ging der Frage nach, wie sich Arbeitsmärkte, Erfahrungsräume und Staatlichkeit in der Epoche „nach dem Boom“ veränderten. MALTE THIEßEN eröffnete die Tagung und wies in seinen einführenden Worten auf die pluralistischen Verwendungsmöglichkeiten des Privatisierungsbegriffes hin. So werde Privatisierung sowohl als Analysebegriff, um gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu bezeichnen, als auch als negativ konnotierter Kampfbegriff verwendet, der speziell bei der Beschreibung des Gesundheitswesens besonders aufgeladen sei.

MAIK TÄNDLER (Göttingen) leitete mit seinem Vortrag über die Selbsthilfebewegung der 1970er- und 1980er-Jahre das erste Panel der Tagung ein, welches die Patienten und Konsumenten in den Mittelpunkt rückte. Dabei wurde von ihm Privatisierung im Sinne einer Subjektivierung gedeutet. Tändler stellte die Expansion der Selbsthilfebewegung seit den 1970er-Jahren dar, die einen Beitrag zur Herstellung eines demokratisierten und pluralisierten Expertenwissens leistete. Seiner These folgend wurden die Prinzipien der Selbsthilfebewegung seit den 1980er-Jahren innerhalb einer neoliberalen Subjektkultur generalisiert. Im Anschluss daran skizzierte SILJA SAMERSKI (Oldenburg) die Entwicklung „[v]om doctor knows best zum patient decides best“ und beleuchtete dabei die Patientenentscheidung kritisch als ökonomisches Steuerungselement. Ihre Meinung nach gäbe es keine Entwicklung hin zu Patienten, die selbstbestimmte, sondern vielmehr ganz bestimmte Entscheidungen treffen. Die Patienten hätten sich demnach in „steuerbare decision-maker“ verwandelt. Dies führe zwangsläufig dazu, dass die propagierte Stärkung des Individuums sich in ihr Gegenteil verkehre. EBERHARD WOLFF (Basel) plädierte in seinem Vortrag über das Verhalten der Patienten im Internet dafür, sie im ökonomischen Sinne nicht nur als Konsumenten, sondern auch – insbesondere auf das Web 2.0 bezogen – als Produzenten zu sehen. Des Weiteren äußerte Wolff Bedenken an der Vorstellung, dass das Internet zwangsläufig etwas Neues hervorbringe. So stehe die virtuelle Selbsthilfe heute ebenso außerhalb des Gesundheitssystems wie die nicht-virtuelle Selbsthilfe in den 1980er-Jahren. Demnach sei eine Integration der virtuellen Selbsthilfe in das Gesundheitssystem in der Zukunft sehr wahrscheinlich.

Das zweite Panel wurde mit einem Vortrag von BRITTA-MARIE SCHENK (Hamburg) eröffnet, die die Privatisierung der humangenetischen Beratung in der Bundesrepublik thematisierte. Ähnlich wie Samerski deutete Schenk den Privatisierungsbegriff im Sinne der Selbstbestimmung. Sei die humangenetische Beratung in den 1970er-Jahren noch stark direktiv ausgerichtet gewesen, habe sich dies in den 1980er-Jahren geändert: Als neues Beratungsprinzip stand nun die Information der Patienten im Vordergrund, auf deren Basis sie eine selbstbestimmte Entscheidung treffen sollten. HEINER STAHL (Siegen) referierte im Anschluss daran über Schwerhörigkeit und Arbeitsschutz als Problem des DDR-Gesundheitswesens. Ziel von Letzterem sei es gewesen, die Industriearbeit weniger schädlich zu gestalten. Ab 1957 wurde vom Staat die Entschädigungspflicht für lärmverursachte Gehörlosigkeit anerkannt. Die Diskussionen bei der Anerkennung drehten sich dabei immer wieder um die Frage, welcher Aspekt des Lärms zur Schädigung führte. Innerhalb seines Vortrages propagierte Stahl Audiogramme als mögliche Quelle der Medizingeschichte. Zum Abschluss des Panels sprach THOMAS WERNEKE (Potsdam) über Ernährungsregime und Gesundheitsförderung und eröffnete dabei den Blick auf die Longue durée einer Geschichte der gesunden Ernährung in deutschen Gesellschaften. Mithilfe der historischen Semantik zeigte Werneke einige Spannungslinien auf, die bereits seit der Wende zum 20. Jahrhundert untersuchenswert seien. Neben Debatten um Qualität versus Quantität der Ernährung, natürliche versus künstliche Nahrung oder auch Prozesse von Be- versus Entschleunigung der Ernährung sind tagungsspezifisch an dieser Stelle insbesondere die Diskussionen um paternalistische Konzepte auf der einen und Liberalisierungsgedanken auf der anderen Seite hervorzuheben.

Das letzte Panel, welches sich inhaltlich mit der Sozialversicherung und den Gesundheitsdiensten auseinandersetzte, wurde durch JOACHIM MEYER-HOLZ (Oldenburg) eingeleitet, der über den Weg der Orthopädie hin zu einer medizinischen Dienstleistung sprach. Seiner These nach verselbstständigte sich die Orthopädie nicht aus fachlichen Gründen, sondern habe sich gesellschaftliche Entwicklungen zunutze gemacht, um das eigene Tätigkeitsfeld federführend zu besetzen. Diese Vorherrschaft verloren die Protagonisten in dem Maße wieder, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse änderten. So gelang es der Orthopädie nach 1945 nicht mehr, einen akademischen Kanon zu finden und zu etablieren. Insbesondere die operative Orthopädie entwickelte sich von da an zu einem medizinischen Dienstleister. Daran anschließend ging MARC VON MIQUEL (Bochum) auf die Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Boom ein und verdeutlichte, dass ein stringentes Narrativ der Privatisierung im Gesundheitssystem der Bundesrepublik zu simplifizierend sei. Staatlichkeit werde seiner Meinung nach nicht aufgegeben, sondern lediglich verändert. Im Fall der Rehabilitation präferierte Miquel den Begriff der Ökonomisierung und übte Kritik an der binären Vorstellung von Öffentlichkeit und Privatheit. Zur Verdeutlichung von Abstufungen wies er auf das Stufenmodell der Ökonomisierung von Thomas Gerlinger hin.1 HUBERTUS VON SCHWARZKOPF (Bremen) referierte über die gesundheitlichen Aspekte von betrieblichen Veränderungen am Beispiel der Institution Krankenhaus. Seiner Meinung nach führten die Gesetze der Agenda 2010 zu einem überregulierten Markt, welcher durch hohen ökonomischen Druck gekennzeichnet sei. Dieser Druck werde auch aufseiten der Beschäftigen innerhalb des Systems deutlich. Von Schwarzkopf rezitierte dabei die HIRES-Studie, wonach Mitarbeiterbefragungen als Auswirkungen der Restrukturierung Motivationsknicke, Kündigungen von Leistungsträgern und auch eine abnehmende Patientenzufriedenheit ergaben.2

Die von Dietmar und Winfried Süß eröffnete Abschlussdiskussion fasste noch einmal die wichtigsten Spannungslinien des Privatisierungsnarratives zusammen und zeigte gleichzeitig neue Forschungsfelder und damit einhergehend notwendige Schärfungen und Prozessbeschreibungen auf. So ist während des Workshops beispielsweise die Frage nach dem Zusammenhang von Privatisierung und sozialer Ungleichheit kaum thematisiert worden. Einen großen Konsens fand auch die auf der Tagung immer wieder diskutierte Schärfung der Analysebegriffe. Prozessbegriffe wie Privatisierung, Ökonomisierung oder auch Vermarktlichung müssen ebenso wie die Zuschreibungsbegriffe Patient, Kunde, Konsument und Produzent genau definiert und am jeweiligen Untersuchungsgegenstand auf ihre richtige Verwendung hin überprüft werden. Dies sei auch deshalb sinnvoll, um nicht unreflektiert einem politisch-normativen Privatisierungsbegriff zu folgen. Des Weiteren wurde die zunehmende Bedeutung von neuen Akteuren auf dem Gesundheitsmarkt wie zum Beispiel private Gesundheitsunternehmen hervorgehoben und ihre Rolle auf einem sehr reguliertem Markt hinterfragt. Deutlich zeigte die Tagung das Potenzial einer medizinsoziologisch- und zeithistorischen Perspektive auf die Epoche seit den 1970er-Jahren, die helfen kann, Grad und Reichweite der „Strukturbrüche“ neu zu vermessen.

Konferenzübersicht

Malte Thießen (Oldenburg): Privatisierung und Gesundheit – Einführung und Überlegungen zu einem Forschungsfeld

Panel I – Patienten und Konsumenten
Moderation: Dietmar Süß (Augsburg)

Maik Tändler (Göttingen): Selbstheilung – Krankheitskonzepte, Expertenwissen und Subjektivierungsnormen in der Selbsthilfebewegung der 1970er und 1980er Jahre

Silja Samerski (Oldenburg): Vom doctor knows best zum patient decides best. Die Patientenentscheidung als ökonomisches Steuerungsinstrument

Eberhard Wolff: Netzkulturen-Gesundheitskulturen. Patienten im Web zwischen Fremdführung und Selbstermächtigung

Panel II – Staat und Wissen
Moderation: Winfried Süß (Potsdam)

Britta-Marie Schenk (Hamburg): Selbstbestimmung als Argument. Eine Privatisierungsgeschichte humangenetischer Beratung in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren

Heiner Stahl (Siegen): Audiogramme. Schwerhörigkeit und Arbeitsschutz als Problem des DDR-Gesundheitswesens

Thomas Werneke (Potsdam): Zwischen Paternalismus und Eigenverantwortung – Ernährungsregime und Gesundheitsförderung in den deutschen Gesellschaften

Panel III – Sozialversicherung und Gesundheitsdienste
Moderation: Malte Thießen (Oldenburg)

Joachim Meyer-Holz (Oldenburg): Orthopädie auf dem Weg von der Krüppelfürsorge zur medizinischen Dienstleistung

Marc von Miquel (Bochum): Zwischen Ökonomisierung, Aktivierung und Selbstbestimmung. Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Boom

Hubertus von Schwarzkopf (Bremen): Health in Restructuring. Gesundheitliche Aspekte betrieblicher Veränderungen – das Fallbeispiel Krankenhaus

Abschlussdiskussion
Moderation: Dietmar Süß (Augsburg) und Winfried Süß (Potsdam)

Anmerkungen:
1 Thomas Gerlinger, Ökonomisierung und korporatistische Regulierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Gesundheits- und Sozialpolitik: Zeitschrift für das gesamte Gesundheitswesen 63 (2009), S. 12-17.
2 Hubertus von Schwarzkopf, Krankenhäuser in permanenter Restrukturierung, Beschäftigte unter Dauerdruck – eine Fallstudie aus betriebsärztlicher Perspektive, in: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.), Arbeitnehmer in Restrukturierungen. Gesundheit und Kompetenz erhalten, Bielefeld 2013, S. 87-102.