Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-deutschen Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik

Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-deutschen Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik

Organisatoren
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.01.2014 - 18.01.2014
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Von
Christine Reinle, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der Einfluss des am 8.4.2014 verstorbenen Gießener Mediävisten Peter Moraw auf die Erforschung des deutschen Spätmittelalters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden. Methodisch ist insbesondere die Öffnung der historischen Mediävistik zu den theorieorientierten Sozialwissenschaften zu nennen, inhaltlich verbinden sich etwa die Etablierung der prosopographischen Forschung in der historischen Mediävistik, aber auch die Hinwendung zu einer modernen, strukturgeschichtlich orientierten Hofforschung und eine als Sozialgeschichte verstandene Universitätsgeschichte mit Forschungen, die Peter Moraw leistete und / oder anregte.1 Die hier angezeigte Tagung war so projektiert, dass sie, ausgehend von einigen prominenten Forschungsfeldern Peter Moraws – der Reichsgeschichte in ihrer europäischen Dimension, dem (spät-)mittelalterlichen Fürstenhof, den Funktionseliten, den Stiftskirchen als verbindenden Gliedern zwischen Kirche und Welt, den Universitäten, dem Zusammenhangs von Territorien und Reich – und bezogen auf die bekannten theoretischen Konzepte Moraws – wie die „Verdichtung“ des Reichs an der Wende zur Neuzeit, die Ausübung von Macht durch Personenverbände statt durch Institutionen und den Professionalisierungsschub auf der Ebene der herrscherlichen Räte während des Spätmittelalters –, die Retrospektion auf die Forschungsleistungen Peter Moraws mit der Frage nach der Fortdauer seines Forschungseinflusses verband. Darüber hinaus wurden Vertreter einiger ausgewählter Forschungsinstitutionen um Beiträge zum Wirken und zu den Forschungsimpulsen Peter Moraws gebeten, mit denen dieser in wissenschaftlicher Verbindung gestanden hatte.

In der ersten Sektion, die „König und Reich im Spätmittelalter“ gewidmet war, würdigte zunächst die Präsidentin der Monumenta Germaniae Historica (MGH), Claudia Märtl (München), in einem Grußwort das Wirken Peter Moraws in der Zentraldirektion der MGH, der er als von der Berlin-Brandenburgischen Akademie entsandtes Mitglied angehört hatte. Moraws Verdienste sah sie zum einen in der „institutionellen Stabilisierung der Verbindung zur Berlin-Brandenburgischen Akademie“ 2, zum anderen in seiner Kritik an der Unterrepräsentanz spätmittelalterlicher Quellen bei den Editionsunternehmungen der MGH, die, gemessen an den veränderten Schwerpunkten der Mittelalterforschung, bei den Editoren zu wenig Aufmerksamkeit gefunden hätten. Auch PAUL-JOACHIM HEINIG (Mainz/Gießen) betonte in seinem Vortrag als Verdienst Moraws dessen Engagement auf der institutionellen Ebene, wozu die Etablierung der Regesten Friedrichs III. noch zu Zeiten der DDR als Kooperationsprojekt mit dem Zentralinstitut für die Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, die „institutionelle Zukunftssicherung“ dieses Projekts „im Rahmen der Akademienlandschaft“ nach der Wende und sein Einsatz für eine „koordinierte Neubearbeitung der Regesta Imperii Karls IV.“ zu rechnen seien. Motiviert war das Interesse Moraws an den Regesta Imperii durch die neuen, personenbezogenen Fragestellungen, die Moraw an die Verfassungsgeschichte herantrug und zu deren Bearbeitung die Verfügbarkeit möglichst vieler Quellen zwingend erforderlich war. Die Abkehr von einer rein institutionengeschichtlichen, am Königtum orientierten Verfassungsgeschichte und die konsequente Einbeziehung der konkurrierenden Kräfte in die Beurteilung der Reichsgeschichte ließen ihm eine „Komplettierung, Überarbeitung und Weiterführung der Regesta Imperii“ notwendig erscheinen. Somit wurde er zum Vordenker für eine Erweiterung des Erfassungsrahmens der Regesta Imperii, in die „alle direkten und indirekten Zeugnisse schriftlichen wie mündlichen Regierens“ sowie „die datierbaren Verweise auf erzählende Quellen“ einzubeziehen, und in konsequenter Anwendung der These, dass Reichsgeschichte mehr sei als Königsgeschichte, mit den Regestensammlungen der Kurfürsten, Fürsten und Stände zu verknüpfen seien.

MICHAIL BOITSOV (Boycov) (Moskau) ging von der auch von Moraw vertretenen These aus, dass die Goldene Bulle keineswegs als „‘Grundgesetz‘“ 3 des Römisch-Deutschen Reichs konzipiert worden sei, sondern erst allmählich diesen Rang erlangt habe. Da die Goldene Bulle folglich keineswegs eine systematische Beschreibung des gesamten Procederes der Königswahl bietet, fragte Boitsov, in welchem Umfang sich die Erinnerung an situationsbezogene Konflikte als Regelungsmaterien in der Goldenen Bulle wiederfänden. Ausgehend von seinen eigenen, andern Orts zur Publikation anstehenden Ergebnissen 4 zur Handschriftenlage und der Provenienz von Textanteilen der Goldenen Bulle benannte der Referent zahlreiche Passagen, die seiner Meinung nach auf problematische Konstellationen der Doppelwahl von 1314 Bezug nahmen wie etwa die Regelung des Geleits der Kurfürsten zum Wahlort, das 1314 dem Kölner Erzbischof Heinrich von Virneburg nicht gewährt worden war. In Boytsovs Interpretation bot demnach die Goldene Bulle „eine nachgebesserte Fassung der Vergangenheit“, keine „ausführliche Instruktion für die zukünftigen Königswahlen“.

OLIVER AUGE (Kiel) setzte sich mit Peter Moraws Einteilung des Reichs in Zonen unterschiedlicher Königsnähe bzw. -ferne, mit dessen Einteilung des Fürstenstands in vier Gruppen gemäß der Handlungsspielräume der Fürsten und mit dessen Bewertungsmaßstäben für starke und schwache Herrschaft auseinander. Statt auf die bekannten „königsnahen“ Territorien richtete er seinen Blick auf die nördliche bzw. nordöstliche Peripherie des Reichs (Mecklenburg, Pommern, Schleswig, Rügen und Werle sowie Holstein), wo sich von Moraw als wenig bedeutend erachtete Fürsten bzw. fürstengleiche Grafen hegemoniale Stellungen in der Region und bisweilen sogar in Nordeuropa aufbauen konnten. Aus landesgeschichtlicher Perspektive erwiesen sich demnach Moraws aus Königsnähe und Hof- bzw. Reichstagsbeteiligung abgeleiteten Bedeutungskriterien als problematisch. Darüber hinaus ließ Auge – hier in Abgrenzung von einer traditionellen Landesgeschichte – territoriale Konsolidierung nicht als Maßstab für erfolgreiche Herrschaft gelten, da das Streben nach Rang und dynastischem Erfolg, nicht nach Modernisierung des eigenen Territoriums das Handeln der Fürsten geleitet habe. Auch die Kriterien für Moraws Einordnung von Königen als „kleine“ Könige wurde von Auge mit dem Hinweis auf das Kontingenzproblem kritisch hinterfragt, da die Bewertung als „kleine Könige“ vorwiegend solchen Herrschern zuteil geworden war, die (eventuelle) Handlungsspielräume wegen der Kürze ihrer Regentschaft nicht ausschöpfen konnten. Als problematisch erschien es Auge außerdem, dass die negative Bewertung der „kleinen“ Könige Moraw in Missachtung der Offenheit der politischen Situation auch als strukturell vorgeprägt, ja gleichsam vorbestimmt erschienen war. In der Konsequenz schlug Oliver Auge also Modifikationen der Morawschen Bewertungskriterien für fürstliche und königliche Herrschaft vor.

MARTIN BAUCH (Darmstadt/Rom) wandte sich der von Peter Moraw am höchsten geschätzten Herrscherpersönlichkeit des Spätmittelalters zu. Dabei untersuchte er, wie Karl IV. seinen universalen Herrschaftsanspruch auch sakral zu fundieren strebte. Vom Herrschaftsantritt als Gegenkönig zu Ludwig dem Bayern über den plötzlichen Tod Ludwigs IV. im Oktober 1347 bis hin zu einem Besuch bei der Mystikerin Christina Ebner 1350, der Genesung von schwerer Krankheit 1352 und der Kaiserkrönung 1355 steigerten sich die Praktiken, mit denen Karl IV. in den „Bereich „vorstieß“, die nach dem Kirchenrecht „den Inhabern höherer Weihen vorbehalten war“. Dies betraf nicht nur den bereits von Hermann Heimpel diskutierten „Weihnachtsdienst“ des Königs, sondern etwa auch das eigenhändige Berühren und Teilen von Reliquien oder den päpstlicherseits gewährten Zusatzablass für Menschen, die in Gegenwart des Herrschers im Rahmen der Weisung der Reichsinsignien eine Messe besuchten oder Stundengebeten beiwohnten. Die sakrale Überhöhung des Herrschers dokumentierte also ideell wie performativ dessen hegemonialen Anspruch, weswegen Karl IV. Nachahmungsversuchen ehrgeiziger Reichsfürsten auch entschieden entgegentrat. Mit seinem Vortrag dokumentierte Bauch auf eindrucksvolle Weise, wie durch kultur- und religionsgeschichtliche Herangehensweisen, die Moraw selbst fremd gewesen waren, weiterführende, aber mit Moraws Ergebnissen kongruierende Thesen formuliert werden können.

Auch GABRIEL ZEILINGER (Kiel) setzte sich mit einer Zentralthese Moraws, nämlich der des Übergangs von einer „offenen Verfassung“ des römisch-deutschen Reichs zu Beginn des Spätmittelalters zur „gestalteten Verdichtung“ und damit mit dem Schlüsselbegriff der „Verdichtung“ auseinander. Von Moraw institutionell aufgefasst und auf König und Reich bezogen, nahm Zeilinger Verdichtungsprozesse innerhalb der Territorien in den Blick. Zudem adaptierte er den Begriff „Verdichtung“ für die Analyse der Wirkungen fundamentaler fürstlicher Praktiken: des Feierns von Festen und des Führens von Kriegen. Das Ausrichten aufwändiger höfischer Feste wie deren Besuch durch Standesgenossen, Untergebene und Klientelverbände erzeugte und belegte zum einen Kohäsion innerhalb des Territoriums und zum anderen Akzeptanz durch und Vernetzung mit fürstlichen Nachbarn. Doch auch den fürstlichen Besuchern der Feste boten diese eine Möglichkeit, sich vermittels ihres Gefolges zu inszenieren und „ihr Prestige“ und „ihre Klientel zu demonstrieren“. Von den genannten Effekten schätzte Zeilinger nach innen gerichteten Wirkungen am höchsten ein, wobei er Zeremoniell und Interaktion während der Feste eine wesentliche Bedeutung zuschrieb. Doch auch Kriege führten, wie Zeilinger anhand der Städtekriege zwischen 1440 und 1460 darlegte, zu Konzentrationsprozessen, da die Fürsten sich darum bemühten, „ein größtmögliches Gefolge für den Krieg aufzustellen und die materiellen Ressourcen ihrer Herrschaft weit auszuschöpfen“, da der regionale, durch Mehrfachvassalität polyzentrisch vernetzte Adel sich für die Dauer des Kriegs eindeutig positionieren musste und da die städtischen Obrigkeiten über die Aufenthaltsnahme von Handwerkern und ländlichen Hintersassen bestimmenden Einfluss anstrebten. Darüber hinaus ist während der Phasen kriegerischer Auseinandersetzungen eine Verdichtung der Kommunikation zu beobachten. Doch führte die Konzentration von Macht in den Händen fürstlicher und städtischer Obrigkeiten während der Kriege nicht zu einem unumkehrbaren Prozess territorialer Verdichtung, sondern sie blieb beschränkt auf die Zeit der Auseinandersetzungen.

JULIA BURKHARDT (Heidelberg) erinnerte an die Verdienste Peter Moraws um die Erforschung des Hof- bzw. Reichstags im Römisch-Deutschen Reich, die für den weiteren Forschungsgang prägend wurden. Den eigenen Forschungen zu den Reichsversammlungen unter Kaiser Friedrich III. legte Burkhardt ein „Verständnis von ‚Politik‘ als einem Handlungsraum“ zugrunde, „in dem verschiedene Akteure um die Herstellung, Durchsetzung, Kommunikation und Darstellung von Entscheidungen … und mithin auch um die Bestätigung, Erneuerung und Stabilisierung der Ordnung ihres Miteinanders“ rangen. Dabei konzentrierte sie sich auf eine Untersuchung der „institutionellen Voraussetzungen der politischen Willensbildung“ , die „Handlungsstrategien der beteiligten Akteure“ sowie auf „Mechanismen“ zur Stabilisierung der politischen Ordnung. Ein Ausblick auf noch offene Forschungsfelder beschloss den Vortrag.

In der zweiten, „Residenzen und Regionen“ betitelten Sektion bot WERNER PARAVICINI (Kiel) zunächst einen persönlichen, auf 'Augenhöhe' formulierten und durch tiefe Wertschätzung geprägten Rückblick auf die Persönlichkeit Peter Moraws. Dessen Anteil an der Fortentwicklung des von Hans Patze geprägten Ansatzes der Residenzen-Kommission machte Paravicini zunächst an einer programmatischen Rezension aus dem Jahre 1991 fest, in der Moraw die von Patze begründete Fokussierung auf Herrscheritinerar sowie Topographie und Sachkultur mit dem Ziel, die Entstehung einer Vielzahl von Residenzen im Reich statt der Herausbildung einer Hauptstadt zu erfassen, implizit als nicht hinreichend kritisierte, da er die Berücksichtigung von Höfen, der Hierarchie der Höfe sowie der reichsstädtischen und erbländischen Residenzen des Königtums einforderte. 5 Dabei legte Paravicini jedoch Wert auf die Feststellung, dass die Kommissionsarbeit seit der Übernahme des Vorsitzes durch Peter Johanek und in der Folge durch ihn selbst die Hofforschung sehr wohl in ihre Agenda aufgenommen hatte, was Moraw in einem persönlichen, seine Rezension relativierenden Schreiben auch eingeräumt habe. Unglücklicherweise überschnitten sich nämlich der Druck der Rezension und das Erscheinung der neuen programmatischen Verlautbarungen der Residenzen-Kommission, was jedoch in Anbetracht der Wirkmächtigkeit der Moraw’schen Rezension die externe Wahrnehmung der Kommissionsarbeit nachhaltig prägte. In der Folge wies Paravicini auf die Anregungen hin, die die Residenzen-Kommission Moraw seit dessen Wahl in die Kommission verdankte. Abgeschlossen wurde diese Würdigung Moraws mit einem Ausblick auf die erneuten Veränderungen in den Arbeitsschwerpunkten der Residenzen-Kommission, die unter neueren, an der Beziehungsgeschichte zwischen Herrschaft und Gemeinde orientierten Fragestellungen Residenzstädte in den Blick nimmt.

ENNO BÜNZ (Leipzig/Dresden) wandte sich dem Forschungsfeld Stiftskirchenforschung zu. Zu diesem hatte Peter Moraw mit seiner Dissertation über das Stift St. Philipp zu Zell seinen ersten Beitrag geliefert; weitere programmatische Aufsätze folgten. Neben den Systematisierungsleistungen, die Moraw auch für die Stiftskirchenforschung, welche er vergleichend betrieben sehen wollte, erbrachte, betonte Bünz als Verdienst Moraws, von der geistlich begründeten Abwertung der Stiftskirchen abgesehen und diese vielmehr in ihren sozialen Funktionen, ja in ihrem „säkularen Eigenwert“ (Rüther) als „Stätte der Begegnung von Kirche und Welt“ 6 gewürdigt zu haben. „Darüber hinaus hat er plausibel machen können, dass Stiftskirchen“ – oder eher deren Pfründenausstattung – „als ‚Leitfossil‘ für das Verständnis des unterschiedlichen Entwicklungsgrades der deutschen und europäischen Regionen“ dienen könnten. Über den Aspekt der Pfründe und der kulturellen und sozialen Funktionen der Stiftskleriker war die Stiftskirchenforschung außerdem eng mit Moraws weiteren Forschungsschwerpunkten, der Universitäts- und Bildungsforschung, der Erforschung sozialer Gruppen und Eliten, der Entfaltung von Territorien und Verwaltungsstrukturen sowie der Beziehung zwischen Reich und Regionen verbunden.

Die dritte Sektion stand im Zeichen der Personenforschung. CHRISTIAN HESSE (Bern) stellte zunächst das „Repertorium Academicum Germanicum“ vor, ein im Rahmen des Akademienprogramms gefördertes Langzeitprojekt, das seit 2001/02 an den Arbeitsstellen Gießen und Bern betrieben wird. Es nahm seinen Ausgangspunkt von der von Peter Moraw vielfach postulierten Bedeutung der Personen- und Elitenforschung. Als Arbeitsgrundlage für weiterführende Forschungen auf diesem Feld bietet die RAG-Datenbank eine Erhebung, Aufarbeitung und Bereitstellung von biographischen Daten (etwa Examina, Pfründenbesitz, Ämter, Tätigkeiten) zu allen Gelehrten im römisch-deutschen Reich in der Zeit zwischen 1250 und 1550, wobei unter Gelehrten Artes-Magister, Theologen, Juristen und Mediziner ab dem Erwerb des Grades eines Baccalaureus sowie adlige Universitätsbesucher, welche auf einen Studienabschluss verzichten konnten, verstanden werden. Den Nutzen der mittlerweile 46000 Einträge enthaltenden Datenbank für künftige Forschungen, die samt beigegebener digitaler Karten größten Teils online eingesehen werden können (http://www.rag-online.org), demonstrierte Hesse an ausgewählten Beispielen.

Ergebnisse wertvoller Grundlagenforschung bot PETR ELBEL (Brünn/Wien). Elbel berichtete aus einem eigenen Forschungsvorhaben, bei dem der untererforschte Hof Sigismunds einer eingehenden Analyse unterzogen wird. Bisherige Forschungen banden Ergebnisse zu den Deutschen und Böhmen am Hof Sigismunds nicht zu einem Gesamtbild zusammen. Neuere Erkenntnisse zum zweiten – dem ungarischen – Hof Sigismunds wurden in der deutschen Forschung ohnehin noch nicht berücksichtigt. Elbel zeigte auf, dass böhmische und mährische Adlige seit 1387 am ungarischen Hof nachweisbar sind, wobei einige ab der Festigung von Sigismunds ungarischer Herrschaft 1403 auch in wichtige Positionen der Außenverwaltung einrücken konnten. Am römisch-deutschen Königshof waren Böhmen nach Sigismunds Wahl 1410 zunächst weniger vertreten als am ungarischen Hof. Ab 1411 und vermehrt ab dem Konstanzer Konzil finden sich jedoch böhmische Adlige am deutschen Hof, was Elbel mit Sigismunds Bestreben, die hussitische Häresie in Böhmen zu bekämpfen und ggf. seinen Bruder Wenzel in der böhmische Königswürde abzulösen, in Verbindung bringt. Nach der Übernahme der Herrschaft im Königreich Böhmen erfolgte bis 1422 der Aufbau eines Personennetzwerkes, wobei Sigismund vor der Aufgabe stand, Eliten zu binden, die ihm und der Kirche loyal gegenüber standen. Als Mittel der Bindung benannte Elbel außer finanziellen Vergünstigungen das Integrationspotential der höfisch-ritterlichen Kultur. An die Phase des Aufbaus schloss sich zwischen 1422 und 1436, d.h. bis zum Abschluss der Prager Kompaktaten und der Anerkennung der Herrschaft Sigismunds in Böhmen, eine statische Phase an, die der Ablehnung seines Königtums durch die Hussiten geschuldet war. Für die letzte Phase zwischen 1436 und dem Tod Sigismunds lässt sich laut Elbel der Versuch greifen, durch Besetzung aller Hofämter und ein „bescheidenes Repräsentationsprogramm“ zur höfischen Normalität zurückzukehren. Jenseits der Benennung unterschiedlich dichter Phasen der Adelsbindung an Sigismunds Hof konnte Elbel außerdem aufzeigen, dass die böhmischen Höflinge keinen homogenen Personenverband am Hof Sigismunds bildeten, sondern ihrerseits Personenverbänden angehörten, die politische Protagonisten um sich scharten.

In der vierten und letzten Sektion wurden vier Vorträge gebündelt, die der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs sowie dessen Konzeptionalisierung gewidmet waren. THOMAS ZOTZ (Freiburg) ließ als langjähriger Vorsitzender des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte „Peter Moraw und de(n) Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte“ Revue passieren. Dabei rekapitulierte er nicht nur die Vorträge, die Moraw auf den Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises auf der Insel Reichenau gehalten hatte, sondern würdigte insbesondere die konzeptionellen Impulse, die von dem Gießener Gelehrten ausgegangen waren. Konsequenterweise wurde Moraw bald nach seinen ersten Tagungsteilnahmen und Vorträgen auf der Reichenau 1983 in den Konstanzer Arbeitskreis kooptiert und 1994 zu dessen Vorsitzenden gewählt, ein Amt, das er bis 1998 ausübte. Sowohl die Öffnung der bislang stark hierarchisch strukturierten Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises als auch die Aufnahme innovativer Impulse wie des „spatial turn“ sind nach Zotz Moraws Wirken zuzurechnen. Über derartige Informationen hinaus bot Zotzens „warmherzige Charakteristik“ (so die Moderatorin Anne Nagel) des Forschers Peter Moraw wertvolle Erinnerungen eines Zeitzeugen an einen geschätzten Kollegen.

Moraws Leistung für die Neukonzeption der Universitätsgeschichte galt der Beitrag von MATTHIAS ASCHE (Tübingen). Dabei grenzte Asche die Universitätsgeschichte älterer Prägung, die – gleichsam romantisch-idealisierend – den Mythos der angeblich allein Forschung und Lehre verpflichteten, sozialen Aufstieg ermöglichenden Universität Humboldt’scher Prägung ins Mittelalter zurückverlagerte, von Moraws Ansatz ab, der, auf personen- und sozialgeschichtliche Daten basierend, in Anlehnung an die westeuropäische Forschung die mittelalterlichen Universitäten als „Knotenpunkte von Personalbeziehungen“ betrachtete. Extreme Unterschiede zwischen den Studierenden, Klientel- und Patronagebeziehungen sowie Teilunternehmerschaft der Lehrenden kennzeichneten demnach die Universität. Der sozialgeschichtliche Zugriff ermöglichte es Moraw, auch die frühneuzeitliche „Familienuniversität“ besser einzuordnen. Auch die kulturgeschichtliche Annäherung an die vormoderne Universität sah Asche in Moraws Ansätzen „gedanklich vorbereitet“, ja implizit vorweggenommen.

In seinem Beitrag thematisierte BERND SCHNEIDMÜLLER (Heidelberg) auf einer sehr grundsätzlichen Ebene den von Moraw programmatisch geforderten und selbst geleisteten Brückenschlag zur Frühen Neuzeit, indem er das Profil der „Zeitschrift für Historische Forschung“ darstellte, zu deren erstem Herausgebergremium Peter Moraw gehörte. Die ZHF war nach Schneidmüller infolge der prägenden Impulse, die Peter Moraw und Volker Press der Zeitschrift gaben, zum einen stark der Sozial-, Verfassungs- und Strukturgeschichte verpflichtet. Zum anderen wurde bekanntlich ein neues historisches Periodisierungsmodell propagiert, das Spätmittelalter und Frühe Neuzeit zu einem „alteuropäischen Zeitalter“ verband, von welchem ein „archaisches Mittelalter“ und ein industrielles Zeitalter abzusetzen seien. Durch diese Neuperiodisierung wurde erhebliches Gewicht auf das von der Forschung lange gering geschätzte Spätmittelalter gelegt. Dabei leitete Schneidmüller Moraws Forschungsinteresse am Spätmittelalter von dessen eigener biographischer Prägung – der mährischen Heimat und der akademischen Heidelberger Sozialisation – her. Während die Profilierung von Spätmittelalter und Früher Neuzeit als Forschungsfelder mit großem Erkenntnispotenzial zweifellos ein bleibendes Verdienst der ZHF darstellt, sah Schneidmüller in der Dominanz der Sozial- und Verfassungsgeschichte innerhalb der ZHF den Grund dafür, dass weder die „kulturgeschichtliche(.) Renaissance-Forschung“ aufgenommen noch spätere „turns“ von der ZHF lanciert wurden. Die „konsequente Öffnung“ der ZHF „zu kulturwissenschaftlichen Themen“ schrieb der Referent denn auch Johannes Kunisch und besonders Barbara Stollberg-Rilinger, nicht aber Peter Moraw, zu. Schneidmüller thematisierte demnach paradigmatisch die Gefahr, die erfolgreichen innovativen Ansätzen droht, wenn sie allzu kanonisiert werden und dadurch ihrerseits veralten.

Der letzte Beitrag der Tagung war GEORG SCHMIDT (Jena) zu verdanken. Er erläuterte der Referent gleichsam werkimmanent Moraws Konzept der „Verdichtung“, mit dem dieser habe zeigen wollen, dass Deutschland im Vergleich zu Westen Europas „zwar verspätet, aber nicht prinzipiell anders“ gewesen sei. Das „Zeitalter der Verdichtung“ sei daher parallel zur Koselleck’schen „‘Sattelzeit‘ um 1800“ für die „Transformationsphase“ zwischen 1470 und 1555 konstruiert. Es sei zur Erklärung des Prozesses der Staatswerdung bzw. der „Mehrebenen-Staatsbildung“ hin formuliert und könne europaweit analoge Prozesse beschreiben, solle aber nicht auf andere Zeiten und Entwicklungen übertragen werden.

Alle Vorträge der Tagung, die insbesondere von der Gießener Hochschulgesellschaft und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen finanziell gefördert wurde, wurden lebhaft diskutiert. Manche Beiträge legten eher den Akzent auf die Forschungsgeschichte, andere auf die Impulse, die von den Moraw’schen Konzepten für künftige Forschungen ausgehen können. 'Interpretatio authentica' und 'rélecture', kritisches Hinterfragen und Weiterentwickeln der Thesen unter Ausnutzen der ihnen innewohnenden inspirierenden Potenziale, forschungsgeschichtliche Kontextualisierung und weiterführende Adaptation waren demnach die Pole von Vorträgen und Diskussion. Bei den Diskussionen schien sich abzuzeichnen, dass die Moraw’schen Begriffe und Konzepte noch stärker als die inhaltlich definierten Forschungsfelder Anknüpfungspunkte für produktive Adaptation bieten. Doch gerade Petr Elbels Vortrag zeigte paradigmatisch, welche grundsätzlich neuen wertvollen Erkenntnisse Grundlagenforschung auf den von Moraw benannten Feldern erbringen kann. Insgesamt scheint sich die neuere Forschung unter dem Einfluss kulturgeschichtlicher Fragestellungen jedoch eher zu sozialen Praktiken und Akteuren, zu Denk- und Vorstellungswelten, zu Habitus und Performativität als zu als Cluster betrachteten und summarisch analysierten Personenverbänden hinzuwenden. Auch den „blinden Flecken“ innerhalb des Moraw’schen Ordnungssystems, Kultur und Religion, Kirche in ihrem Eigenwert und Konfession, schenkt sie viel stärkere Beachtung. Wie inspirierend Peter Moraws Werk jedoch nach wie für künftige Forschungen ist, wurde durch die Vorträge der Tagung und die anschließenden Diskussionen eindrucksvoll untermauert.

Konferenzübersicht

1. Sektion: König und Reich im Spätmittelalter
Moderation: Frank Wagner (Gießen); Stefan Tebruck (Gießen); Gisela Naegle (Gießen)

Claudia Märtl (München): Peter Moraw und die MGH (Grußwort)

Paul-Joachim Heinig (Mainz): ‚Mittelfristig sollten alle RI-Dateien verknüpft sein, so dass man neue Fragen stellen kann‘. Die konzeptionelle Bedeutung der Regesta Imperii für Peter Moraw

Mikhail Boytsov (Moskau): Elemente der politischen Retrospektion in der Goldenen Bulle 1356

Oliver Auge (Kiel): Kleine Könige und mindermächtige Fürsten? Peter Moraw und das Phänomen ‚starker Herrschaft‘ im Spätmittelalter

Martin Bauch (Darmstadt / Rom): Herrschen mit den Heiligen? Das hegemoniale Königtum Karls IV. jenseits der Politik- und Verfassungsgeschichte

Gabriel Zeilinger (Kiel): Anwesenheit und Abwesenheit. Hoffeste, Kriege und die ‚Verdichtung‘ des Reichs im 15. Jahrhundert

Julia Burkhardt (geb. Dücker) (Heidelberg): Vom Hoftag zur Reichsversammlung. Politische Willensbildung in Mitteleuropa

2. Sektion: Residenzen und Regionen
Moderation: Andreas Rüther (Bochum)

Werner Paravicini (Kiel): Residenz, Hof, Dynastie: Peter Moraw in der Arbeit der Residenzen-Kommission

Enno Bünz (Leipzig): Zwischen Kirche und Welt – Peter Moraw und die Erforschung des weltlichen Kollegiatstifts

3. Sektion: Prosopographische Forschung
Moderation: Rainer C. Schwinges (Bern)

Christian Hesse (Bern): Das Repertorium Academicum Germanicum

Petr Elbel (Brünn/Wien): Personenforschung zum Hof Kaiser Sigismunds am Beispiel der Böhmen am Hof Sigismunds

4. Sektion: Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs
Moderation: Anne Nagel (Gießen)

Thomas Zotz (Freiburg): Peter Moraw und der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte

Matthias Asche (Tübingen): Peter Moraw und die Anfänge der deutschen Forschungen zur Sozialgeschichte der Universität

Bernd Schneidmüller (Heidelberg): Peter Moraw - Von Heidelberg zur ZHF

Georg Schmidt (Jena): ‚Verdichtung‘ als Konzept frühneuzeitlicher Verfassungsgeschichte

Anmerkungen:
1 Würdigungen Peter Moraws finden sich etwa anlässlich seines 60. und 70. Geburtstags in den dazu gehörigen Publikationen sowie anlässlich seines Todes, vgl. Rainer C. Schwinges, Vorwort, in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, aus Anlass des 60. Geburtstags von Peter Moraws am 31. August 1995, Sigmaringen 1995, S. XIII – XV; Oliver Jungen, Königsnaher Staatsfeind. Der Gießener Mittelalterhistoriker Peter Moraw wird siebzig, in: FAZ, 30.08.2005, Nr. 201 S. 36; Stefan Tebruck, Zum Tod von Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Peter Moraw († 8. April 2013), in: http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb04/institute/geschichte/nachruf (zuletzt eingesehen am 24.1.2014); Johannes Kunisch, Nachruf auf Peter Moraw, in: Zeitschrift für Historische Forschung 40 (2013) S. 181f.; Frank Rexroth, Nekrolog Peter Moraw (1935-2013), in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 877-880; Werner Paravicini, Peter Moraw, in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission N. F. 2 (2013) S. 11-22; sowie künftig: Eva-Marie Felschow, Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Moraw, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 98 (2013). Zu den Lebensdaten und den Publikationen Moraws vgl. außerdem den Artikel „Peter Moraw“, in: Jürgen Petersohn (Hrsg.), Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 1951-2001. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation, bearb. von Jörg Schwarz (Veröffentlichungen des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte aus Anlass seines fünfzigjährigen Bestehens 1951–2001, Bd. 2), Stuttgart 2001, S. 283–294.
2 Zitate, die hier und im folgenden nicht näher ausgewiesen werden, stammen vom jeweiligen Redner; ihnen liegt das der Verf. überlassene Vortragsmanuskript bzw. ein vorgelegtes Abstract des Vortrags zugrunde.
3 Peter Moraw, Vom langen und nur kurze Zeit erfolgreichen Weg zu einem einheitlichen Verfassungsverständnis in der älteren deutschen Geschichte, in: Hartmut Boockmann / Ludger Grenzmann / Bernd Moeller / Martin Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil 2 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Nr. 239), Göttingen, 2001, S. 387 – 405, hier S. 392.
4 Vgl. künftig Michail A. Boycov, Der Kern der Goldenen Bulle, in: Deutsches Archiv 69 (2013) S. 581-614.
5 Peter Moraw, Was war eine Residenz im deutschen Spätmittelalter?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991) S. 461-468.
6 Peter Moraw, Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift, hg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 68), Göttingen 1980, S. 9-37; ND in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, Sigmaringen 1995, S. 151-174, hier S. 153.


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