„Euthanasie“. Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus

„Euthanasie“. Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus

Organisatoren
KZ-Gedenkstätte Neuengamme; Evangelische Stiftung Alsterdorf
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.02.2014 - 08.02.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Meike Nieß, Universität Hamburg

Der zweitägige Workshop, veranstaltet von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Kooperation mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, stellte den Abschluss einer im Hamburger Rathaus gezeigten Ausstellung zu den „Euthanasie“-Verbrechen in Hamburg während des Nationalsozialismus dar. Zugleich diente er der Vorbereitung von Heft 17 der Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“. Thematisch waren drei Schwerpunkte gesetzt: Die Vorstellung neuerer Forschungsergebnisse zum Ablauf der Ermordungen sowie daran beteiligter Akteure (Panel 1), der Blick auf bislang vernachlässigte Betroffene der „Euthanasie“-Verbrechen (Panel 2) sowie der Umgang mit den Verbrechen nach Kriegsende und die Erinnerungskultur in der BRD und der DDR (Panel 3). Im Rahmenprogramm wurde die Rolle der „Euthanasie“-Morde in aktuellen medizinisch-ethischen Debatten diskutiert.

Nach der Begrüßung durch Detlef Garbe (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) fasste Michael Wunder (Evangelische Stiftung Alsterdorf) einleitend die Geschehnisse in den 1863 von Pastor Heinrich Matthias Sengelmann gegründeten „Alsterdorfer Anstalten“ während der NS-Zeit zusammen: Zahlreiche der rund 2000 hier lebenden Menschen wurden zwangssterilisiert, 70 Personen fielen der Aktion T4 zum Opfer und über 500 Menschen starben während der dezentralen Phase der Tötungen bis 1945. Bereits 1938 wurden 26 jüdische Bewohner/innen in einer Vermischung von theologisch motiviertem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus ausgeschlossen. Heute existiert ein aktiver Kreis von Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern, der unter anderem die Verlegung einer Stolperschiene auf dem Stiftungsgelände begleitete.

ASTRID LEY (Berlin) präsentierte im anschließenden Eröffnungsvortrag neuere Forschungsergebnisse zur Mordaktion 14f13 („Tod durch Gas“), die von 1941 – 1943 in den Konzentrationslagern stattfand und der mindestens 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Dabei charakterisierte sie die Aktion als Schritt des Übergangs von den Krankenmorden zum Genozid an jüdischen Bürger/innen und verdeutlichte, dass die Selektionsvorgänge von einigen lokalen Lagerkommissionen gezielt zur Ermordung bestimmter Häftlingsgruppen genutzt wurden. In Buchenwald waren beispielsweise 55 Prozent der im Juni 1941 begutachteten und anschließend getöteten Opfer jüdischen Glaubens. Durch die Beteiligung der ehemaligen T4-Gutachter an der Aktion 14f13 war Ley zufolge eine medizinische Legitimation auch bei der Ermordung von Personenkreisen gegeben, die aus anderen Motiven getötet wurden.

CAMIEL VAN ZILFHOUT (Amsterdam) eröffnete das erste Panel des Workshops mit einer Auswertung des von 1935 bis 1947 stattfindenden Briefwechsels zwischen Friedrich Mennecke und dessen Frau. Er kam zum Ergebnis, dass Mennecke nach Kriegsende die Beteiligung an den „Euthanasie“-Aktionen vor allem im Hinblick darauf bedauerte, dass er keine zentralere Rolle hatte einnehmen können. Weder die Aktion T4 an sich noch sein eigenes Handeln in diesem Zusammenhang stellte er aber moralisch in Frage. STEPHANIE SCHMITT (Berlin) präsentierte erste Ergebnisse der im Rahmen ihrer Dissertation vorgenommenen Auswertung von Krankenakten der Aktion T4 in Schleswig-Holstein. Sie rekonstruierte den räumlichen und zeitlichen Ablauf der Aktionen und stellte Selektionskriterien vor, die während der Aktion wirksam waren. REINHARD NEUMANN (Bielefeld) verdeutlichte anhand von Akten, die im Jahr 2012 durch einen Zufallsfund zugänglich geworden waren, das Zusammenspiel mehrerer Akteursgruppen bei den „Euthanasie“-Verbrechen in den „Neinstedter Anstalten“. Die Kriegsführung wirkte sich unmittelbar auf den Umgang mit den Bewohner/innen in Neinstedt aus, da in den Anstalten ein Lazarett für in Russland verwundete Wehrmachts-Soldaten eingerichtet wurde. Neumann betonte außerdem die zentrale Rolle der Anstaltsleitung bei den Mordaktionen. Diskutiert wurden während des Panels unter anderem die Notwendigkeit der kritischen Reflexion von Selektionskriterien, die durch die Nationalsozialisten festgelegt wurden, sowie die Frage, welche Generalisierungen auf Basis der Auswertung der erhaltenen T4-Akten vorgenommen werden können, da die Mehrzahl dieser Akten vernichtet worden ist.

Das zweite Panel befasste sich mit vernachlässigten und in Vergessenheit geratenen Opfergruppen der Tötungsaktionen, wobei hier deutlich wurde, dass medizinische Diagnosen zur Rechtfertigung sozialer Ausgrenzungsmechanismen eingesetzt wurden. CLAUDIA SCHAAF (Hadamar) stellte anhand einer rekonstruierten Lebensgeschichte dar, wie eine dem NS-Regime gegenüber kritische Haltung durch eine medizinische Diagnose entpolitisiert und zur „Geisteskrankheit“ gemacht wurde. Für den Betroffenen, Ernst P., bedeutete dies die zwangsweise Unterbringung in der Landesanstalt Weilmünster im Jahr 1943 sowie die „Verlegung“ nach Hadamar, wo er im Januar 1945 getötet wurde. THOMAS IRMER (Berlin) widmete sich in seinem Vortrag der Geschichte des Berliner Arbeitshauses Rummelsburg sowie den dort gefassten Plänen zur Ermordung sogenannter asozialer Personen. Er arbeitete heraus, wie sich die Funktion der Arbeitshäuser von der Rehabilitation und gesellschaftlichen Eingliederung „Asozialer“ während des 19. Jahrhunderts zu deren geplanter Tötung während der NS-Zeit radikalisierte. Die gesellschaftliche Exklusion des Personenkreises setzte sich auch nach dem Krieg insofern fort, als dieser nicht als Opfergruppe des Nationalsozialismus anerkannt und weiterhin diskriminiert wurde. FRIEDRICH LEIDINGER (Langenfeld) zeichnete die Entwicklung der Krankenmorde in Polen hin zum Holocaust nach. So zählten psychisch kranke Menschen zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten in Polen; auch die „Vergasung“ wurde an polnischen Psychiatriepatient/innen entwickelt. Insgesamt wurden dort rund 20.000 bis 30.000 psychisch kranke und behinderte Menschen gezielt ermordet, wobei die große Anzahl an Toten durch das Verhungernlassen in den Anstalten nicht mitgezählt ist. Abschließend thematisierte ROMAN BEHRENS (Oldenburg) die Situation der Militärpsychiatrie in der deutschen Kriegsmarine am Beispiel Wilhelmshaven und zeigte auf, wie die Militärpsychiatrie im Umfeld der Kriegsmarine in das „Krankenmordsystem“ involviert war. Zudem verwies Behrens darauf, wie traumatische, durch den Krieg verursachte psychische Belastungen bei Marinesoldaten im Nationalsozialismus als „erblich“ umgedeutet wurden.

Das dritte Workshop-Panel befasste sich mit dem Umgang mit den „Euthanasie“-Morden nach 1945 sowie Aspekten der Erinnerungskultur. INGO HARMS (Heidelberg) zeigte auf, dass die Verpflegungssätze in der Anstalt in Wehnen nicht nur im Nationalsozialismus sondern auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit so niedrig angesetzt waren, dass noch 1946 eine überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit herrschte. Grund hierfür war, dass die für die „Euthanasie“- Verbrechen Verantwortlichen im Amt blieben und die britischen Besatzungsbehörden die fortgesetzte Unterernährung nicht unterbanden. Die nationalsozialistischen Hungermorde wurden in der britischen Besatzungszone zwar thematisiert, nicht aber systematisch verfolgt und bestraft. CAROLA RUDNICK (Lüneburg) befasste sich mit der Frage des würdigen Gedenkens an die in der Lüneburger Kinderfachabteilung im Nationalsozialismus getöteten Kinder. Nachdem im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 2006 Gehirnschnitte von diesen Kindern gefunden worden waren, fand am 25. August 2013 eine Bestattung der getöteten Kinder in der Bildungs- und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psychiatrie“ in Lüneburg statt. Rudnick veranschaulichte an zwei Lebensgeschichten die Chancen, die in der Arbeit mit Angehörigen liegen. Allein mit den in den Akten enthaltenen Informationen könne kein angemessenes Bild der Kinder gezeichnet werden. Die Gespräche mit den Angehörigen ergaben, dass die Akten häufig falsche Diagnosen enthielten. Beendet wurde das Panel mit einem Vortrag von STEFANIE ENDLICH (Berlin), der sich Gedenkorten und -formen der „Euthanasie“-Verbrechen in der DDR und der BRD widmete. Neben einem Überblick über existierende Gedenkstätten präsentierte sie die Phasen des Umgangs mit den Verbrechen am Beispiel der Entwicklung der Gedenkstätte Tiergartenstraße 4 in Berlin. Einer Phase der Verdrängung folgten erste durch bürgerliches Engagement angestoßene Installationen von Info-Tafeln und Gedenkveranstaltungen, schließlich wurde 2007 ein Runder Tisch gegründet, welcher sich mit der Gestaltung eines Erinnerungsortes, der Gedenken und Information vereinen soll, befasste. Die Gedenkstätte soll im September 2014 eingeweiht werden. Im gesamten Workshop wurde die Frage des Umgangs mit Opferschicksalen thematisiert: Die in einigen Vorträgen vorgenommene Anonymisierung wurde mehrheitlich kritisiert und darauf verwiesen, dass der Schutz von Angehörigen gegenüber der Würdigung der Opfer als nachrangig einzustufen sei. Auf Unverständnis stießen demensprechend die von einigen Archiven vorgeschriebene Anonymisierung von Opfernamen sowie der beschränkte Zugang zu Dokumenten.

Die Podiumsdiskussion im Abendprogramm befasste sich mit der Frage, wie das Wissen um die „Euthanasie“-Verbrechen auf heutige medizinisch-ethische Debatten wie Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik (PID) und Pränataldiagnostik (PND) wirkt. INGRID SCHNEIDER (Hamburg) hob hervor, dass eine Überspitzung der Idee vom „selbstbestimmten Entscheiden“ die Wirkmacht von gesellschaftlichen Strukturen außer Acht lässt, betonte aber, dass in Deutschland aufgrund der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ein größeres Problembewusstsein vorhanden sei als in anderen europäischen Staaten. CHRISTIAN JUDITH (Hamburg) problematisierte eine zunehmend stärker werdende „eugenische Bedrohung“ behinderter Menschen und verwies auf das mit medizinischem Fortschrittsstreben und Machbarkeitsvorstellungen verbundene Existenzrisiko für Menschen mit Behinderung. CHRISTOPH SCHNEIDER (Frankfurt am Main) betonte die Zwiespältigkeit einer relativ konservativen Gesetzgebung in der Bundesrepublik einerseits und einer selektiven Praxis beispielsweise bei der Pränataldiagnostik im Sinne einer „Abstimmung mit den Füßen“ andererseits. FRIEDRICH LEIDINGER (Langenfeld) rief in Erinnerung, dass die Wurzel von Vorurteilen im psychiatrischen Denken selbst liege und plädierte dafür, der Stimme von Psychiatrie-Erfahrenen und behinderten Menschen in gesellschaftlichen und medizinisch-ethischen Diskursen mehr Gewicht zu geben. Das Plenum war sich darin einig, dass in der Bundesrepublik insofern eine paradoxe Situation herrscht, als einerseits aufgrund der Geschichte eine große Sensibilität in Bezug auf die Anfangs- und Endphase des Lebens besteht und in Debatten eine breite Diskurskoalition jenseits politischer Lager existiert (unter anderem aus der Behindertenbewegung, feministischen Gruppen, Wertkonservativen) – andererseits aber eine selektive Praxis vorherrscht, die beispielsweise dazu führt, dass rund 95 Prozent aller Föten mit der Diagnose Trisomie 21 abgetrieben würden. Unterschiedliche Einschätzungen bestanden jedoch hinsichtlich der Wirkmacht von gesellschaftlichen und diskursiven Strukturen einerseits und der Relevanz der Summe von Einzelentscheidungen von Individuen andererseits.

Insgesamt lassen sich drei große thematische Stränge benennen, welche die einzelnen Panels und den Workshop durchzogen: So wurde deutlich, dass Diagnosen und formale Informationen, welche aus Akten gewonnen werden, notwendigerweise kontextualisiert und bezüglich ihrer Aussagekraft kritisch hinterfragt werden müssen. Eine Problematik, die auch während einzelner Vorträge immer wieder deutlich wurde, ist die Wahl angemessener Begrifflichkeiten. Zuletzt wurde die Frage des würdevollen Umgangs mit den Opferschicksalen beispielhaft am Thema der Anonymisierung deutlich. Das Ausfallen der Abschlussdiskussion aus Zeitgründen war insbesondere auch deshalb schade, weil ein analytischer roter Faden und eine Einordnung der Vielzahl von Einzelergebnissen wünschenswert gewesen wären.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Detlef Garbe (Hamburg)

Einleitung
Michael Wunder (Hamburg)

Eröffnungsvortrag
Astrid Ley (Berlin): Die „Aktion 14f13“ in den Konzentrationslagern. Neue Forschungsergebnisse

Panel 1: Der Ablauf der „Euthanasie“-Verbrechen und die beteiligten Akteure
Moderation: Christl Wickert (Berlin)

Camiel van Zilfhout (Amsterdam): „Out we go, on a new and merry hunt!“ Nazi “euthanasia” doctor Friedrich Mennecke and his letters to his wife (1935 – 1947)

Stephanie Schmitt (Berlin): Die „Aktion T4“ in Schleswig-Holstein

Reinhard Neumann (Bielefeld): Vorgänge der „Euthanasie“ in Neinstedt (Bethel)

Panel 2: Vernachlässigte Betroffene der „Euthanasie“-Verbrechen
Moderation: Astrid Ley (Berlin)

Claudia Schaaf (Hadamar): Die „Psychiatrisierung“ von „Querulanten“ – ein Fallbeispiel

Thomas Irmer (Berlin): Rummelsburg – Das Berliner Arbeitshaus und die NS-„Euthanasie“-Planung zur Ermordung sogenannter Asozialer

Friedrich Leidinger (Langenfeld): Vom Krankenmord zum Holocaust – Wie die „Euthanasie“ von den deutschen Besatzern in Polen entfesselt wurde

Roman Behrens (Oldenburg): Vernichtung „lebensunwerter“ Soldaten? Die nationalsozialistische Militärpsychiatrie in der deutschen Kriegsmarine

Panel 3: Kontinuitäten und Brüche nach Kriegsende in der BRD und der DDR sowie Aspekte der Erinnerungskultur
Moderation: Oliver von Wrochem (Hamburg)

Ingo Harms (Heidelberg): Medizinische Verbrechen und Entnazifizierung. Kontinuitäten und Brüche der NS-Medizin in Oldenburg (Oldenburg) in der Nachkriegszeit

Carola Rudnick (Lüneburg): Den Opfern ein Gesicht geben, den Namen wiedergeben. Biografische Annäherungen an Opfer der „Euthanasie“

Stefanie Endlich (Berlin): Gedenkorte und Gedenkformen der Euthanasie-Verbrechen

Abschlussdiskussion (aus Zeitgründen entfallen), geplante Moderation: Hanno Billerbeck (Hamburg)

Podiumsdiskussion: Die „Euthanasie“-Morde in aktuellen medizinisch-ethischen Diskussionen
Moderation: Michael Wunder (Hamburg)
Podium: Christian Judith, Sozialpädagoge (Hamburg); Friedrich Leidinger, Arzt in der Klinik Langenfeld (Langenfeld); Christoph Schneider, Kulturwissenschaftler (Frankfurt a.M.); Ingrid Schneider, Politologin (Hamburg)


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