Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter. 4. Arbeitstreffen des Netzwerks ZeitenWelten

Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter. 4. Arbeitstreffen des Netzwerks ZeitenWelten

Organisatoren
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
08.11.2013 - 09.11.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Delia Kottmann, München; Patrizia Carmassi, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Im Mittelpunkt der Diskussion beim 4. Arbeitstreffen des seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Netzwerkes standen diesmal räumliche und bildliche Dimensionen des Zeitlichen. Reale Räume wurden nicht nur aus geografischen Gebieten (Sachsen, Aquitanien, Norditalien, Niederrhein, Lothringen), sondern auch aus unterschiedlichen Gattungen von Handschriften (unter anderem Homiliar, Pontifikale, Sakramentar, Devotionalsbuch, Chronik, Vorschläge für Machtgewinn oder wie man ein christliches Leben führt) gebildet; letztere öffneten wiederum fiktive Räume (zum Beispiel machtvolle Herrschaft, christliches Leben, kirchliche Zeremonie). Diese involvierten folgende, verschiedene zeitliche Dimensionen.

JÖRG BÖLLING (Göttingen) sprach über die zeitliche Dimension am Beispiel der liturgischen Feier in verschiedenen norddeutschen Diözesen während der Salierzeit. Die Petrus-Verehrung kann als ein Modell benutzt werden, um verschiedene Umgangsformen mit der Zeit zu untersuchen. Zum einen gibt es Phänomene, die als römischer Rückblick definiert werden können. Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit kirchlichen und rituellen Formen aus der Vergangenheit (besonders der frühen römischen Kirche) und ihre Bewertung und Wiederverwendung in der Gegenwart. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Modalitäten der Übernahme von Petruskult und Petrus-Patrozinien in den sächsischen Diözesen, wie Bremen, Minden, Osnabrück, Münster oder Naumburg; Petrus-Reliquien wurden nach dem historischen Beispiel Karls des Großen angekauft und Festtage für den heiligen Petrus in die Liturgie eingeführt (auch hier nach dem Modell des karolingischen Reichskalenders). In Minden wurde außerdem eine Reihe von liturgischen Codices von Bischof Siegebert gestiftet, in denen der Bezug auf Rom durch die Angaben der Stationen in den römischen Kirchen, unter anderem ad sanctum Petrum, gegeben war. Die eigene historische Gegenwart wurde hier durch die Nennung der Namen des aktuellen Kaisers und Königs in den Laudes regiae (Heinrich, Konrad) besonders zelebriert. Durch die offene Formel N Romanorum wurde aber auch versucht, die zukünftige Funktion der Kirche von Minden zu definieren und zu befestigen. Durch die Abschrift von Offizien und den Austausch von liturgischen Handschriften, zum Teil bis Norditalien, ist eine rege Kommunikation und ein Netzwerk unter den Kirchen Sachsens festzustellen, wenngleich nicht immer sicher ist, ob die liturgischen Texte, die zirkulierten, auch tatsächlich Eingang in die aktuelle liturgische Praxis der Adressaten fanden. In dieser Hinsicht kann man von einem synchronischen „sächsischen Kontext der Zeremonie“ sprechen. Als Ausblick wurde die päpstliche Zeremonie in der Frühen Neuzeit reflektiert. Dort entwickelten die verschiedenen Ämter durch das komplexe Zeremoniell zum Teil eine eigene Feier-Dynamik, unabhängig von den rituellen Abläufen der anderen Gruppen von Klerikern. So stellte sich die Frage nach verschiedenen Formen von Zeitlichkeit in Hinblick auf die liturgische Zeit wie die materielle Zeit, die für die Performanz notwendig war, bis zu den Phänomenen ihrer Ökonomisierung (jedes Amt ist autonom in der Bewältigung seiner Pflicht) und Dehnung (diese kann speziell durch die musikalische Gestaltung hervorgerufen werden).

Angeregt von Althistorikern und Zeithistorikern (etwa Meier, Doering-Manteuffel, Raphael), die einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Gegenwartsbetrachtung und Prognose ausmachen, hat BARBARA SCHLIEBEN (Berlin) frühmittelalterliche Beschreibungen von Gegenwart als Ort des Künftigen, Antizipatorischen und Prognostischen untersucht. Als Beispiele dienten der Liber manualis der Dhuoda (um 840), das Polipticum des Atto von Vercelli (Hs. nicht datiert, † um 960) sowie die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg (1012-1018). Die Beispiele teilen weder den Entstehungskontext noch den Gegenstand oder die Gattung und können so gerade in ihrer Diversität darauf aufmerksam machen, dass es nicht die eine Gattung für Gegenwartsbetrachtung im Frühmittelalter gegeben hat, dass Beschreibung von Gegenwart mit prognostischem Potential vielmehr in sehr unterschiedlichen Textzusammenhängen artikuliert worden sind. Alle drei, Dhuoda, Atto und Thietmar, beschäftigten sich mit der Gegenwart und eben deshalb mit der nahen Zukunft. Sie prognostizierten das Ende einer Königsfamilie, ein Machtgefüge jenseits zentraler Königsgewalt, eine Welt, die aufgrund eines Thronraubs im Chaos versinkt. Doch obwohl sie Voraussagen trafen, Propheten waren sie nicht, jedenfalls nicht im engeren Sinn. Ihre Prognosen waren weder göttlich inspiriert noch sanktioniert. Jedenfalls explizierten ihre Verfasser dies nicht. Weil sich ihre Prognosen (wie jede Prognose) auf Künftiges und damit per se Unsicheres bezog, bedurften diese der Absicherung, der autoritativen Beschreibung und Begründung. Die Verfasser bedienten sich hierfür der Exegese, der Eschatologie, des Analogieschlusses oder der kausal-rationalen Argumentationsmuster, die sie auf je spezifische Weise miteinander kombinierten.

CHRISTINA LECHTERMANN (Universität Bochum) thematisierte die Performanz des Momentes in einer spätmittelalterlichen Handschrift aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts. Graf Jülich von Kleve hatte sie als Devotionsbuch für seine Frau Margarete fertigen lassen (heute St. Petersburg, Nationalbibliothek, Raznojaz. O. v. XIV.1). Hervorstechen tut diese niederrheinische Handschrift unter denjenigen ihrer Zeit, da sie in Vulgärsprachen, in Deutsch, gemischt mit Niederländisch, verfasst wurde 1. Ein Bruder Hans schildert in sieben Liedern Szenen der Marienvita, welche mit dem Tanz Mariens enden. Die Mariengebete beschreiben verschiedene Himmel, deren Geometrie Christina Lechtermann als eine Verräumlichung von Zeit bzw. Verzeitlichung von Raum sieht. Raum wird in Bewegung hervorgebracht (wie Reiten, Schreiten, Tanzen, usw.), welche geometrische Prozesse anstößt. Im vierten Lied wird die chronologische Reihenfolge von altem und neuem Testament umgedreht, die Geschichte sperrt sich also im Zeitindex. Eine ähnliche Sperrung findet sich im Übrigen in der chronologischen Reihenfolge des Marienlebens, sowohl ihre Geburt als auch ihr Tod bzw. die Auferstehung ihrer Seele werden verschwiegen. Gegen die logische Reihenfolge von Zeit stellt sich auch die Tatsache, dass die Vergangenheit durch Gebetsreihen von Aves gereinigt, also in der Gegenwart geändert werden kann. Das in ihrem Vortragstitel erwähnte Hier und Jetzt als Annäherungen an den Moment mittelalterlicher Literatur lasse sich am besten mit der Definition des Augenblicks als kleinste Zeiteinheit (Hans bezeichnet die Gegenwart mit Stunde) von Augustinus von Hippo oder Isidor von Sevilla erklären.

CHRISTOPH WINTERER (Rheinland-Pfalz) zentrierte seinen Vortrag um die Miniatur auf dem einstmals ersten Blatt des um 1130/40 entstandenen Verduner Homiliars (Verdun, Bibliothèque municipale, ms. 1), die in Form einer Rota den Ablauf der sieben Schöpfungstage zeigt: Sechs Tage bilden Kompartimente des Kreises, der siebte Tag befindet sich in dessen Zentrum. Obwohl die Schöpfung in der romanischen Buchmalerei im Zusammenhang mit der Genesis nicht eben selten dargestellt wurde, ist es völlig außergewöhnlich, dass in dem Verduner Bild die Schöpfungstage durch Bilder mit zudem noch zeitgenössisch gekleideten Männern dargestellt werden. Auch die Anordnung in einer Rota sowie die Darstellung der vier Winde in den Ecken des Blattes sind ungewöhnlich, beides ist weit häufiger in Darstellungen des Kalenderjahres zu finden. Als auffällig wurde von den Teilnehmern die Betonung der Sechs-Zahl, Beda Venerabilis’ goldene Zahl, empfunden. Für die Rota-Form wurde auch auf mögliche Parallelen in Darstellungen der Fortuna oder Illustrationen der Scivias Hildegards von Bingen hingewiesen. Die engen motivischen Übereinstimmungen mit dem seit der Karolingerzeit hochgeschätzten römischen Kalender von 354 und die Entscheidung für die Kreisform lassen nach Christoph Winterer die Deutung zu, dass hier zusammen mit der Schöpfungswoche die Entstehung des Jahreslaufs und damit der Zeit in ihren verschiedenen Schichten ins Gedächtnis gerufen werden sollten. In der Diskussion wurde vorgeschlagen, die Hinzufügung der vier Winde, die sicher als Ecken der Welt eine räumliche Dimension anzeigen, auch als eschatologisch gemeinte Anspielung auf die in Offenbarung 7,1 mit der Zurückhaltung der Winde prophezeite Zeit zu sehen, die dauert, bis die Auserwählten besiegelt sind. Die Texte des Verduner Homiliars bieten ebenfalls verschiedenste Zeitebenen, neben dem durch die Homilien und Heiligenlegenden vertretenen liturgischen Jahr steht die Erinnerung an das Leben der lokalen Heiligen und, in der Form von Chroniken und Bischofsgeschichten, die Verschränkung lokaler Geschichte und universaler Heilsgeschichte.

Es gibt also nicht ein einziges Zeitmodell, das Raum und Zeit verbindet, sondern sehr viele unterschiedliche Zeitschichten und -arten, die sich aus verschiedenen realen und fiktiven Räumen ergeben. Einzelne Raummodi von jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Schichten bedingen nicht bestimmte Zeittypen. Vielmehr ist die jeweilige Zeitwahrnehmung überaus dynamisch. Das nächste Netzwerktreffen findet am 13./14. Juni 2014 in Basel statt.2

Konferenzübersicht:

Jörg Bölling (Universität Göttingen): Zeremonie und Zeit. Zur Petrus-Verehrung in sächsischen Kathedralen der Salierzeit

Barbara Schlieben (Humboldt-Universtität zu Berlin): Zum Zusammenhang von Gegenwartsbetrachtung und Prognose im Frühmittelalter

Christina Lechtermann (Universität Bochum): Hier. Jetzt. Annäherungen an den Moment in mittelalterlicher Literatur

Christoph Winterer (Handschriftencensus Mainz): Das Jahr und die Woche im Verduner Homiliar

Anmerkungen:
1 Johan B. Oosterman, In daz Niderlant gezoget. De periferie in het centrum: het Maas-Rijngebied als speelveld voor filologen, Nijmegen 2007, S. 16-25.
2 Aktuelle Mitteilungen, weitere Informationen und Kontaktdaten finden Sie unter <http://www.zeitenwelten.unibas.ch> (28.03.2014).


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