Staatliche Mittelinstanzen in Europa nach 1945 – Machtkonstellationen und Planungskulturen

Staatliche Mittelinstanzen in Europa nach 1945 – Machtkonstellationen und Planungskulturen

Organisatoren
Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2013 -
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Von
Andrea Bahr, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Welche Aufgaben, Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hatten die staatlichen Mittelinstanzen in Europa nach 1945 und welche Funktionen erfüllten sie in ihren Systemen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der zweiten Arbeitstagung des DFG-geförderten Projektes „Die DDR-Bezirke – Akteure zwischen Macht und Ohnmacht“ am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner. Stand die Forschung zu den DDR-Bezirken im Mittelpunkt eines ersten Treffens im November 20121, wurden nun die staatlichen Mittelinstanzen sowohl in ost- und mitteleuropäischen als auch westeuropäischen Staaten einbezogen.

Dieser vergleichende Blick habe zum Ziel, wie CHRISTOPH BERNHARDT (Erkner) in seiner Einführung betonte, unterschiedliche Entwicklungspfade aber auch Gemeinsamkeiten über die Systemgrenzen hinweg auszumachen. Die Mittelinstanzen repräsentierten nach 1945 in Europa zentralstaatliche Steuerungsinstanzen und waren gleichzeitig Träger und Verfechter regionaler Interessen. Im Fokus der Tagung standen neben den sich wandelnden Aufgabengebieten und Einflussmöglichkeiten der Mittelinstanzen auch deren Handlungsmuster sowie die jeweils spezifischen Machtkonstellationen, in denen sie agierten. Das IRS-Projekt knüpfe damit – so Bernhardt – sowohl an den Ansatz einer Socio-Histoire2 der Herrschaft sowie an Überlegungen zu einer Histoire Croisée3 (Verflechtungsgeschichte) an.

In einem Impulsreferat gab LENA KUHL (Erkner) Einblick in ihr Projekt zu den Bezirken der DDR. Anhand zweier politischer Umbruchssituationen – der Einführung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖSPL) in den 1960er-Jahren sowie des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker 1971 – verdichtete sie erste Überlegungen. Dabei ging sie von der formalen Stellung der Bezirke aus, die sie als ausführende Organe ohne Planungsautonomie charakterisierte. In einem zweiten Schritt stellte sie dann informelle Handlungsspielräume und die Rolle der Bezirke als Kompensatoren zentraler Planungsdefizite heraus. Diese Ambivalenz verdeutlichte Kuhl am Beispiel der Einführung des NÖSPL, dessen klares Ziel eine Effizienzsteigerung in der Wirtschaft gewesen sei. Diese Reformphase könne zwar als Ansatz einer Dezentralisierung in der DDR beschrieben werden, da Kompetenzen auch an die Bezirke und wirtschaftliche Akteure abgegeben wurden. Dennoch sei dieser Prozess stark begrenzt gewesen und rasch revidiert worden. Eine generelle Infragestellung des zentralen Planungsanspruchs sei nicht möglich gewesen. Mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker 1971 hätten sich wiederum die Rezentralisierungstendenzen in der Regionalpolitik der SED verstärkt.

In der Diskussion wurden unter anderem der Planungsbegriff sowie die Zuständigkeiten der staatlichen Mittelinstanzen im Planungsprozess thematisiert. Thomas Schaarschmidt (Potsdam) wies darauf hin, dass von den DDR-Bezirken wahrgenommene Freiräume eindeutig der zentralen Planung widersprachen. Oliver Werner (Erkner) merkte dazu an, dass man den Planungsbegriff für die weitere Diskussion differenzieren müsse, um ihn sowohl auf die west- als auch die osteuropäischen Beispiele anwenden zu können. In der DDR habe das zentrale Planungssystem bis 1989 nicht zur Disposition gestanden.

SABINE MECKING (Duisburg), JAY ROWELL (Straßburg) und HÅKAN FORSELL (Stockholm) fokussierten mit ihren Impulsreferaten auf westeuropäische Beispiele. Mecking zeigte in Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland eine starke Differenzierung der Strukturen und Aufgabenstellungen der staatlichen Mittelinstanzen in den unterschiedlichen Bundesländern auf. In den Mittelpunkt stellte sie die Bündelungsfunktion dieser Instanzen: Die Bezirksregierungen verknüpften Staat und Selbstverwaltung. Als Fallbeispiel wählte sie Nordrhein-Westfalen und stellte die dortige Akteurskonstellation aus Bezirksregierungen und kommunalen Landschaftsverbänden auf der mittleren Verwaltungsebene dar. Reformen zugunsten einer effizienteren Verwaltung seien in den 1960er- und 1970er-Jahren an Beharrungskräften in den traditionell geprägten Regionen sowie an der Befürchtung gescheitert, bei den Mittelinstanzen könnte es zu einer starken Machtkonzentration kommen.

Rowell richtete den Blick auf die französischen Mittelinstanzen, die Departements. Sie seien direkt von der Zentralregierung abhängig und für die Umsetzung der zentralen Politiken in ihren Territorien zuständig. Dabei hätten sie keine entscheidenden Kompetenzen in Hinblick auf wirtschaftliche oder infrastrukturelle Entwicklungen. In Hinblick auf die Wohnungsbau- und Urbanisierungspolitik beschrieb er Zentralisierungsprozesse, die ab 1953 eingeleitet worden seien, um Defizite im Wohnungsbau zu überwinden. Für diesen Kurswechsel machte Rowell jedoch nicht nur politische Entscheidungen, sondern auch technokratische Netzwerke von Ingenieuren und Architekten verantwortlich.

Forsell richtete den Blick auf die staatlichen Mittelinstanzen in Schweden. Die dreigliedrige Verwaltungsstruktur des Landes – Zentralregierung, Provinzen (län) und Gemeinden (kommun) – verändere sich immer wieder und es gebe keine eindeutig festgelegte Aufgabenverteilung. Während die Gemeinden und Provinzen bis 1952 eher Beharrungskräfte im politischen System dargestellt hätten, seien sie nach der Strukturreform von 1952 zum Motor der Modernisierung und Urbanisierung avanciert. Ziel der Zentralregierung sei neben der Industrialisierung und Urbanisierung auch die Etablierung und der Ausbau eines Wohlfahrtsstaates gewesen.

Die anschließende Diskussion konzentrierte sich zunächst auf die Wirkung von Traditionen in Hinblick auf Strukturreformen. MARTIN ZÜCKERT (München) fragte danach, inwiefern staatliche Mittelinstanzen versucht hätten, ihre Existenz durch eigene Traditionsbildung und deren Repräsentation nach außen zu legitimieren. Im westdeutschen Fall sei zu beobachten, so Bernhardt, dass die Bezirksregierungen zwar eine eigene Geschichtsschreibung und Traditionsbildung anstrebten, diese aber von älteren Traditionslinien der historisch gewachsenen Provinzen und Landschaften überlagert würden. Schaarschmidt verwies auf eine geringe Identifikationskraft staatlicher Mittelinstanzen für die Bevölkerung. So habe sich die überwiegende Mehrheit der DDR-Bevölkerung kaum mit den Bezirken identifiziert, was allein daran festzumachen sei, dass es nach 1989/90 keine Bestrebungen zum Erhalt dieser staatlichen Mittelinstanzen gegeben habe. In Schweden, so Forsell, seien der kommunale Bezugsrahmen und traditionelle Zugehörigkeiten wichtiger, woraus der Widerstand gegen Reformen zu erklären sei. Dominik Scholz (Berlin) wies auf das Beispiel Belgien hin, wo die erst kurze Zeit bestehenden Regionen stärkere Identifikationskräfte in der Bevölkerung aktivierten als der Nationalstaat.

Neben der kulturgeschichtlichen Perspektive wurde insbesondere der Aufbau neuer Städte in Schweden thematisiert und die Parallelen zur DDR herausgestellt. Werner richtete den Blick auf die Planungskompetenz, die sowohl in Schweden als auch in der DDR bei der staatlichen Zentralregierung gelegen habe. Er warf die Frage auf, warum in Schweden der Aufbau neuer Städte offensichtlich erfolgreicher als in der DDR verlaufen sei. Forsell relativierte diese Einschätzung, indem er darauf verwies, dass bis in die 1970er-Jahre die Etablierung neuer Städte und Industriezentren sowohl für die staatlichen Instanzen als auch für die Bevölkerung Vorteile gebracht habe. Insbesondere seien dadurch wenig besiedelte und wirtschaftlich rückständige Regionen modernisiert und industrialisiert worden. In den 1970er-Jahren habe sich dies jedoch gewandelt und unter anderem zur politischen Radikalisierung in diesen Gebieten geführt.

JONAS GRYGIER (Frankfurt/Oder) und MARTIN ZÜCKERT (München) richteten mit ihren Impulsreferaten den Blick schließlich auf ostmitteleuropäische Fallbeispiele – Polen und die Tschechoslowakei. Grygier skizzierte die polnische Urbanisierungspolitik zwischen Planbarkeit und vorhandenen Ressourcen. Als zentrale Akteure der Urbanisierungspolitik benannte er die Nationalräte der Wojewodschaften. Allerdings müssten auch die kommunalen Akteure (vor allem Kreis- und Stadtverwaltungen) als ausführende Instanzen einbezogen werden, da sie ebenfalls planerische Kompetenzen gehabt hätten. Während man in den 1950er-Jahren eher eine Leuchtturmpolitik mit der Fokussierung auf regionale Spezifika und einer monothematischen Industriekonzentration beobachten könne, setze ab den 1960er-Jahren ein Prozess ein, der vielmehr auf eine Verdichtung der Siedlungsräume und einen gleichmäßigen Ausbau aller Bereiche und Regionen gerichtet gewesen sei. In Polen hätten kleinräumige Interessen eine flächendeckende Planurbanisierung behindert und teilweise verhindert. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken sei Ende der 1960er-Jahre die Regionalentwicklung wieder stärker an die zentralen Entscheidungsinstanzen sowie die staatlichen Mittelinstanzen rückgebunden worden. Zunehmend sei das Zutrauen in die Mobilisierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der regionalen und kommunalen Akteure geschwunden. Die Wojewodschaften seien aufgewertet worden und ihnen kam wieder eine stärkere Kontrollfunktion gegenüber den unteren Ebenen zu.

Zückert stellte das Fallbeispiel Tschechoslowakei und insbesondere die staatliche Strukturpolitik in den slowakischen Karpaten dar. Er betonte, dass hierbei das Verhältnis zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Teil von wesentlicher Bedeutung gewesen sei. Bereits nach 1945 habe sich eine Dominanz der zentralstaatlichen Ebene herausgebildet, die Einteilung in Länder wurde aufgelöst und Kreise (kraj) gebildet, die in ihrer Stellung den Bezirken in der DDR entsprachen. Durch eine Strukturreform wurde 1960 die Anzahl der Kreise verringert, was als Höhepunkt der Zentralisierung gesehen und oft als anti-slowakische Maßnahme gedeutet worden sei. Diese Reform habe indes den Kreisen auch mehr Kompetenzen übertragen, sodass diese als staatliche Mittelinstanzen gestärkt worden seien. Die 1960er-Jahre seien auch eine Zeit starker regionaler Förderpolitiken gewesen, wobei Freiräume für die Mittelstanzen entstanden seien.

Insbesondere der Paradigmenwechsel im Planungsverständnis, die Zielrichtung der Strukturpolitik sowie supra- und transnationale Einflüsse wurden diskutiert. So wurde das Umdenken im Planungsprozess in Polen in den 1950er- und 1960er-Jahren thematisiert. Als Auslöser wurden personelle Veränderungen sowie die Verstärkung der Politikberatung durch Experten in Betracht gezogen. Zudem dürften auch supra- und transnationale Prozesse nicht außer Acht gelassen werden. Grygier konstatierte, dass in Polen durchaus Entwicklungen in der DDR und der Tschechoslowakei rezipiert worden seien.

Die Abschlussdiskussion bündelte viele der im Laufe der Tagung aufgeworfenen Fragen. Unabhängig vom politischen System, so Werner, müssten die 1960er-Jahre als entscheidendes Jahrzehnt der Entwicklung der staatlichen Mittelinstanzen in den Fokus gerückt und ihre bisherige Deutung als Zeit der Reformeuphorie hinterfragt werden. Außerdem wurde erneut die Identitätsstiftung und die Akzeptanz der Mittelinstanzen in der Bevölkerung thematisiert. Mecking verwies etwa darauf, dass man untersuchen müsse, ob Mittelinstanzen lediglich als Verwaltungseinheiten oder als eigene Regionen mit gemeinsamen kulturellen Werten und einer gemeinsamen Geschichte wahrgenommen wurden und werden.

Von mehreren Teilnehmer/innen wurde letztlich gefordert, die Mittelinstanzen stärker in ihrem sozialen Feld zu analysieren, die spezifischen Machtkonstellationen und die Beziehungen der verschiedenen regionalen Akteure stärker in den Blick zu nehmen. Auch wenn mit der Betonung der Bedeutung von personalen Netzwerken die handlungsanalytische Ebene kurz thematisiert wurde, kam sie während der Impulsreferate und Diskussion etwas zu kurz und sollte in der weiteren Forschung noch stärker beachtet werden. Besonders interessant war jedoch die Öffnung hin zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen, die jenseits der strukturanalytischen Ansätze den Blick auf Beharrungs- und Modernisierungskräfte lenkte.

Konferenzübersicht:

Panel 1:

Christoph Bernhardt (Erkner): Begrüßung und Einführung

Lena Kuhl (Erkner): Die DDR-Bezirke – Akteure zwischen Macht und Ohnmacht

Panel 2:

Sabine Mecking (Duisburg): Die Bezirksregierungen in Westdeutschland – Aufgaben und Funktionen einer staatlichen Mittelinstanz

Jay Rowell (Straßburg): Staatliche Mittelinstanzen und Urbanisierungspolitik in Frankreich

Håkan Forsell (Stockholm): Staatliche Mittelinstanzen und Urbanisierungspolitik in Schweden nach 1945

Panel 3:

Jonas Grygier (Frankfurt/Oder): Urbane Verfügungsräume als Projekt der Moderne – Staat und lokale Verwaltung im Spannungsfeld zwischen Planbarkeit und Ressourcen in Polen

Martin Zückert (München): Staatliche Strukturpolitik, Nutzungskonflikte und ökologische Veränderungen im Staatssozialismus am Beispiel der Karpaten, 1945–1989

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Rüdiger Bergien auf H-Soz-Kult, 15.01.2013: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4573> (Zugriff am: 11.03.2014).
2 Jay Rowell, Socio-Histoire der Herrschaft, in: Sandrine Kott / Emmanuel Droit (Hrsg.), Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006, S. 26–34.
3 Siehe u.a. Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.


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