Demografischer Wandel in Polen, Deutschland und Europa. Geschichte, Verflechtungen und neue Forschungsperspektiven

Demografischer Wandel in Polen, Deutschland und Europa. Geschichte, Verflechtungen und neue Forschungsperspektiven

Organisatoren
Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP), Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder; West-Institut, Poznań; Stiftung für das Collegium Polonicum, Słubice
Ort
Frankfurt an der Oder
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.10.2013 -
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Von
Max Spohn, Frankfurt an der Oder

Das vom Wissenschaftsministerium ausgerufene Jahr der demografischen Chancen gab den Anlass für eine gemeinsame Tagung des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP) der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), des West-Instituts in Poznań und der Stiftung für das Collegium Polonicum in Słubice. Am Beispiel des deutsch-polnischen Grenzraums wurden aus unterschiedlichen Perspektiven Chancen und Herausforderungen des demografischen Wandels erörtert. In drei Sektionen standen dabei historische Prägungen durch die Zäsuren von 1918 und 1945 ebenso im Mittelpunkt wie Verflechtungstendenzen seit 1989, aber auch aktuelle Entwicklungen in den älter werdenden Gesellschaften Europas.

In der Begrüßung würdigte der Präsident der Europa-Universität GUNTER PLEUGER (Frankfurt an der Oder) die historische Leistung der Europäischen Union, die es geschafft habe, dass nationale Identitäten heute eine Bereicherung und nicht mehr Anlass zu Bedrohung und Krieg seien. Ebenso habe sich die politische Haltung zu Migration im deutsch-polnischen Verhältnis zum Besseren gewandelt, nachdem die in den letzten Jahren geäußerten Ängste vor einer „Überflutung“ des deutschen Arbeitsmarktes oder vor dem „Aufkauf“ polnischer Grundstücke nicht bestätigt wurden. Migration bewirke heute eine stärkere Integration der Oder-Region, wie das positive Beispiel des Zuzugs von polnischen Bürgern nach Nordbrandenburg zeige. Demografischer Wandel, so fügte die Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP), DAGMARA JAJEŚNIAK-QUAST (Frankfurt an der Oder) hinzu, sei ein Schlüsselthema, welches „alte“ und „neue“ Produktionsfaktoren in der Wirtschaft verbinde. Durch interdisziplinäre, quantitative und qualitative Forschungen könnten gängige Faktoren wie „Boden“ und „Kapital“ auch in ihren ökologischen und kulturellen Dimensionen untersucht werden. Im Mittelpunkt stünden aber nach wie vor Menschen, die emigrieren und arbeiten, weshalb das Phänomen in all seiner Vielschichtigkeit erfasst werden müsse. Der Direktor des West-Instituts, MICHAŁ NOWOSIELSKI (Poznań), betonte die Notwendigkeit einer Verbindung von Theorie und Praxis in der Forschung. So könne man politische Akzente setzen, um die Auswirkungen des demografischen Wandels nicht nur zu bewerten, sondern zum Besseren zu gestalten.

Auf dem ersten Panel wurde demografischer Wandel aus der historischen Perspektive des 20. Jahrhunderts erörtert. TARA ZAHRA (Chicago) widmete sich den Migrationsströmen in Ostmitteleuropa von 1918 bis 1948. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten alle Staaten der Region, Emigration durch Gesetzesinitiativen und Repatriierungskampagnen zu verhindern, weil diese als Bedrohung für die Rekonstruktion von Gesellschaften galt. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise entstanden Pläne zur globalen Steuerung von Migration, wie der auf internationaler Ebene diskutierte „Madagaskar-Plan“ zur massenhaften Zwangsumsiedlung von jüdischen Bürgern. Diese Bevölkerungspolitik erfuhr im Zweiten Weltkrieg durch den Nationalsozialismus eine bisher ungekannte Radikalisierung. Demografische Steuerung, durch die „national erwünschte“ Bürger nach 1918 zum Verbleib in ihren Heimatländern bewegt werden sollten, trug aber schon den Keim für die Kampagnen der „ethnischen Säuberung“ nach 1945 in sich.

Der Beitrag von JANNIS PANAGIOTIDIS (Jena) verdeutlichte, wie zwischen Polen, der Bundesrepublik und der DDR ein Migrationsdreieck entstand, in dem bis 1990 ca. 1,4 Millionen Menschen auswanderten. Die Bevölkerungspolitik der jeweiligen Staaten wurde dabei von ethnischen Zuschreibungen und utilitaristischen Erwägungen bestimmt. Polen stand vor der Aufgabe, die Autochthonen in den durch die Westverschiebung gewonnenen Gebieten zu integrieren, was auf einer kulturell-linguistischen Ebene gelang, die Migration national ambivalent eingestellter Menschen aber förderte und zum Teil eine Destabilisierung der regionalen Strukturen nicht verhinderte. In der DDR wollte man in der Konkurrenz um Arbeitskräfte mit der Bundesrepublik nicht den Kürzeren ziehen, die in sozialistischen Staaten gängige Politik der nationalen Homogenisierung verhinderte aber ein größeres Maß an Einwanderung. Die Bundesrepublik entkoppelte ethnische von utilitaristischen Kriterien. Stattdessen betrieb sie eine auf humanitären Erwägungen fußende Politik der „Volkszugehörigkeit“ von Migranten aus ehemals deutschen Gebieten. Dieses Modell entwickelte, auch durch den Ausblick auf einen höheren Lebensstandard, die höchste Anziehungskraft.

Anhand der Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg im böhmischen Dorf Nachod befasste sich SARAH CRAMSEY (Berkeley) mit dem Wandel der Vorstellungen über jüdische Ethnizität. Eine gescheiterte Repatriierungskampagne in der Sowjetunion und der Pogrom von Kielce führten zu einem Flüchtlingsstrom von über 170.000 Juden, die zwischen 1945 und 1947 zu Fuß den Grenzort durchquerten. Während das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen mit dem Verweis auf einmalige Rekompensation eine finanzielle Entschädigung der tschechoslowakischen Regierung verweigerte, gewährte diese den Flüchtlingen Hilfe. In der Bewältigung der humanitären Krise kam die Frage, wer Angehöriger des jüdischen Volkes sei, zu neuer Dringlichkeit. Paradoxerweise bedienten sich Regierungen und Behörden aber in der Feststellung, wer Jude sei, bei Kriterien, die auch die Nürnberger Gesetze bestimmt hatten – eine für die Nachkriegszeit untypische Vorgehensweise.

LUDWIG ELLE (Bautzen) widmete sich am Beispiel der Geschichte der sorbischen Minderheit in Deutschland den Kriterien, anhand derer man nationale Minderheiten definiert. In Deutschland werden als solche neben Sorben auch die Nordfriesen, die dänische Minderheit und Sinti und Roma anerkannt, weil sie traditionell in Deutschland leben und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, aber eine eigene Sprache und Kultur in einem historisch gewachsenen Umfeld pflegen. Minderheitenrechte sind Menschenrechte, daher haben die meisten europäischen Länder entsprechende Bestimmungen nach Artikel 3 des Übereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats umgesetzt. Die Kriterien zur Klassifizierung von Minderheiten seien aber immer arbiträr. In der Folge stünden in Deutschland vergleichweise kleine Bevölkerungsgruppen mit 50.000 bis 70.000 Personen unter besonderem Schutz, während die Gesellschaft der Bundesrepublik wesentlich heterogener sei.

Das zweite Panel beleuchtete den Zusammenhang von demografischer Entwicklung und transnationaler Migration aus einer akteurszentrierten Perspektive. Vorgestellt wurden Auswirkungen von Migration auf die Bevölkerungsstruktur des deutsch-polnischen Grenzraums sowie die sozialen Auswirkungen von Arbeitsmigration in der Kinder-, Kranken- und Altenfürsorge, den sogenannten Care-Chains. Am Beispiel der Veränderung der Bevölkerungszahlen in ausgewählten Landkreisen beiderseits der deutsch-polnischen Grenze stellte MARCIN TUJDOWSKI (Poznań) das aktuelle Phänomen des demografischen Wandels unter dem Stichwort „neue polnische Migration“ dar. Der Rückgang der Bevölkerungszahlen in ostdeutschen Regionen wird dabei durch einen allmählichen Zuzug von polnischen Bürgern ausgeglichen. Zu den Beweggründen, sich in Ostdeutschland niederzulassen, zählten Firmengründungen, günstigere Miet- und Immobilienpreise oder die Nähe zur polnischen Heimat, die insbesondere deutsche Staatsbürger mit polnischer Herkunft suchen. Diese Migration unterscheide sich von früheren Entwicklungen dahingehend, dass Polen heute in ganz Deutschland nicht nur Arbeit suchen, sondern auch als Arbeitgeber auftreten. Dennoch löse die Stärkung von strukturschwachen Regionen in Teilen der örtlichen Bevölkerung Ängste und Ablehnung aus, wie der Zuwachs an Wählerstimmen für rechtsextreme Parteien zeige.

Mit dem Begriff „Eurowaisen“ beschrieb MATHIAS WAGNER (Bielefeld) die Kinder der häufig saisonal tätigen Wanderarbeiter und führte Untersuchungen für die Region Niederschlesien an, nach denen bis zu 20 Prozent der Familien von dieser Art Erwerbskultur betroffen sind. Häufig hätten Wanderarbeiter keine arbeitsrechtliche Organisation, was zur Persistenz patriarchalischer Arbeitsbeziehungen führe. Ebenso erhöht Fernpendeln das Gesundheitsrisiko, denn Kinder könnten von der Abwesenheit eines Elternteils traumatisiert werden. Zudem führt die Aussicht auf mehr Einkommen mit einfachen Tätigkeiten im Ausland zu Bildungsverdruss. Demgegenüber seien die positiven Auswirkungen durch mehr Familieneinkommen und die mit Arbeit verbundenen persönlichen Erfolge hervorzuheben. Es gelte daher, die psychosozialen Konsequenzen der Wanderarbeit zu bedenken.

Durch das Prisma familiärer Beziehungen betrachtete ŁUKASZ KRZYŻOWSKI (Kraków) den Wandel der Betreuungskultur polnischer Migranten. Mit transnationaler Migration findet eine Veränderung im Rollenverhältnis zwischen älterer und jüngerer Generation statt. Traditionell ist es die ältere Generation, die sich um die jüngere kümmert, um im Gegenzug Unterstützung im Alter zu erhalten. Nun sind es zunehmend die jüngeren Migranten, die ihren Eltern aufgrund eines höheren Verdienstes bei der Bezahlung von Rechnungen helfen oder Einkäufe über das Internet tätigen. Dem im Ausland erwirtschafteten Geld kommt ein hoher symbolischer Wert zu. Häufig wird es in getrennten Fächern des Portemonnaies aufbewahrt und anschließend an alle Mitglieder der Familie verteilt. Betreuung und Unterstützung wird aber nicht ausschließlich finanziell geleistet, sondern auch im emotionalen Sinne, bei Ratschlägen oder der Beschaffung von Dokumenten und Informationen. Die Arbeit fernab der Heimat stelle viele Migranten vor ein moralisches Dilemma, da sie befürchteten, ihre Familien auf diese Weise zu vernachlässigen.

Das dritte Panel lenkte den Blick auf das Altern in der polnischen und deutschen Gesellschaft und die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen, um das „Negativbild“ einer älter werdenden Gesellschaft zu hinterfragen. In ihrem Beitrag über die Lage älterer Menschen in Polen präsentierte KATARZYNA WIECZOROWSKA-TOBIS (Poznań) die Ergebnisse einer Studie, in der aus medizinischer Perspektive die psychologischen, soziologischen und ökonomischen Aspekte der Alterung von Menschen in Polen untersucht wurden. Dabei zeigte sich, dass der Alterungsprozess hier schneller voranschreitet als in anderen europäischen Ländern. Eine Herausforderung sei daher, die mit dem Altern verbundene sinkende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu bewältigen. Eine Besonderheit der polnischen Gesellschaft sei zudem die informelle Betreuung der Älteren durch Familie, Nachbarn oder Bekannte. Im Gegensatz dazu würden diese Aufgaben in Deutschland eher von dazu vorgesehenen Pflegeeinrichtungen gewährleistet.

Zum neuen Bild vom Älterwerden in Deutschland rechnete LORING SITTLER (Köln) zwar einen Arbeitskräftemangel und eine Überalterung der Gesellschaft. Studien über Senioren im Alter von 65-85 hätten aber eine Veränderung im subjektiven Gesundheitsgefühl gezeigt. Ältere empfinden sich demnach zunehmend nicht als alt, sondern körperlich und geistig leistungsfähig. Sie haben mehr Geld zur Verfügung als jüngere Altersgruppen, sind noch im hohen Alter mobil und engagieren sich in der Gesellschaft. Senioren wollen in Deutschland so lange wie möglich unabhängig sein und keine Hilfe seitens der Familie oder der Gesellschaft in Anspruch nehmen. Allerdings gäbe es, wie auch in Polen, einen Unterschied zwischen ländlicher und urbaner Bevölkerung. Dort, wo die Infrastruktur schwächer ist, seien Ältere weniger zufrieden als in der Stadt. Auch ein Ost-West-Unterschied im Einkommen lasse sich feststellen, der sich auf die Zufriedenheit von Senioren auswirke.

Als Ergebnis der Tagung wurde der interdisziplinäre Ansatz, Historiker, Soziologen, Politologen und Mediziner zum Thema Demographie zu befragen, um so neue Perspektiven des demographischen Wandels zu erschließen, als besonders gewinnbringend hervorgehoben. Dabei wurden systemische Vorschläge und Lösungen auch vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsproblematik diskutiert. Als Herausforderung für zukünftig ältere Gesellschaften wurden die im Vergleich zu anderen Weltregionen relativ starren Pensionierungsmodelle in Europa genannt.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Gunter Pleuger (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder)

Einführung in das Thema
Dagmara Jajeśniak-Quast (Frankfurt an der Oder) / Michał Nowosielski (Poznań)

Panel I: Minorities in New States: Demography and Ethnic Identity in the Twentieth Century
Moderation: Mark Keck-Szajbel (Frankfurt an der Oder)

Tara Zahra (Chicago), Emigration, Return Migration and the Remaking of East Central Europe, 1918-1948

Jannis Panagiotidis (Jena), The Resettlement of Ethnic Germans from Eastern Europe in both German States (1950s-1980s)

Sarah Cramsey (Berkeley), Homeward bound? How 170,000 Polish Jews and the "ethnic revolution" came to Nachod, Czechoslovakia in 1946

Ludwig Elle (Bautzen), Wie zählt man Sorben im wiedervereinigten Deutschland?

Kommentar: Beata Halicka (Słubice)

Panel II: Verflechtungen und Migrationsbewegungen im europäischen Kontext
Moderation: Katharina Kinga Kowalski (Frankfurt an der Oder)

Marcin Tujdowski (Poznań), Migrationsbewegungen und demographische Faktoren in deutschen und polnischen Ballungs- und Grenzräumen

Mathias Wagner (Bielefeld), "Eurowaisen" – verlorene Generation oder Europas Zukunft?

Łukasz Krzyżowski (Kraków), Polnische MigrantInnen und ihre alten Eltern. Moralische Dilemmas im transnationalen Pflegesystem

Kommentar: Krzysztof Wojciechowski (Słubice)

Panel III: Neue Blicke auf die „Überalterung der Gesellschaft“
Moderation: Tim Buchen (Frankfurt an der Oder)

Katarzyna Wieczorowska-Tobis (Projekt PolSenior, Poznań), Altern in Polen

Loring Sittler (Generali Stiftung, Köln), Ein ganz neues Bild vom Alter. Konzeption und Ergebnisse der „Generali Altersstudie 2013“


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