6. Hohenschönhausen-Forum: Die Schuld der Vielen – Mitläufer gestern und heute

6. Hohenschönhausen-Forum: Die Schuld der Vielen – Mitläufer gestern und heute

Organisatoren
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen; Konrad-Adenauer-Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.11.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Pia Heine, Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Am 4. November 2013 kamen im Rahmen der gemeinsamen Tagung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und der Konrad-Adenauer-Stiftung namhafte Experten aus der ganzen Bundesrepublik zusammen, um über die Mechanismen menschlicher Anpassung und ihre Funktionalisierung durch totalitäre Systeme zu diskutieren. Unter der Überschrift „Die Schuld der Vielen – Mitläufer gestern und heute“ wandten sich damit Experten und Zeitgenossen erstmals einem Thema zu, das zwar für die Zeit des Nationalsozialismus bereits breit diskutiert, in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland bis heute jedoch weitgehend vernachlässigt wurde. Nach dem Sturz einer Diktatur werden zuerst nur einige wenige für ihre Vergehen zur Verantwortung gezogen – die eigentliche Debatte um die Mitschuld breiter Massen setzt für gewöhnlich erst später ein. Doch wie definiert sich ein Mitläufer und welche Motive treiben ihn an? Neben der Ergründung des Typus „Mitläufer“ und Formen von Anpassung und Aufbegehren des Einzelnen in den beiden deutschen Diktaturen beschäftigte sich das 6. Hohenschönhausen-Forum vor allem mit der Anpassung von Institutionen und Intellektuellen an neue Machtstrukturen und stellte die Frage nach der anhaltenden Aktualität des Phänomens „Mitläufer“ in totalitären Regimen heute.

Mit dem Wechselspiel von Anpassen und Widersetzen beschäftigte sich ROLAND JAHN (Berlin) in seinem Auftaktvortrag auf sehr persönliche Art. Auch er sei zeitweise „mitgelaufen“, auch er sei „ein Rädchen“ gewesen, „das sich drehte im Mechanismus der Diktatur“. Um studieren zu können habe er den Wehrdienst abgeleistet, aus Angst um seine Zukunft und Rücksicht auf die Familie zuweilen geschwiegen, sich angepasst und damit die Diktatur gestützt. Der endgültige Bruch habe bei ihm mit dem Tod seines Freundes Matthias Domaschk in der Stasi-Untersuchungshaft 1981 eingesetzt. Jahns anschließend offensives Aufbegehren gegen das System habe nicht nur ihn in Haft gebracht, sondern auch den Vater das Lebenswerk, die Ehrenmitgliedschaft im Fußballclub, gekostet. Auch angesichts der Biografien anderer resümiert Jahn für sich, dass jeder die individuelle Verantwortung dafür trage, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlasse. Die Auseinandersetzung und das Bekenntnis zur Biografie statt vielfacher Beschönigung und Rechtfertigung eigener Handlungsmuster seien notwendig, um zu begreifen, wie Diktatur funktioniert und warum sie so lange existieren konnte.

Dass es in jeder Diktatur neben den Herrschenden oftmals eine Opposition, auf jeden Fall aber eine breite Masse an Mitläufern gibt, wurde von den Teilnehmern des ersten Panels im Anschluss zum Ausgangspunkt für ihre Diskussion genommen. Schnell wurde jedoch klar, dass es nicht den Mitläufer gibt, sondern sich hinter dem Begriff eine sehr heterogene Gruppe von Menschen mit teils ganz unterschiedlichen Handlungsmotiven verbirgt. Einer vorangegangenen Kategorisierung in Täter, Oppositionelle und Mitläufer fügte der Schriftsteller MARKO MARTIN (Berlin) die Kategorie derer hinzu, die das Bedürfnis haben, sowohl vom Staat als auch von der Opposition in Ruhe gelassen zu werden, und somit als eine Art unbeteiligte Zuschauer agieren. Die Politikwissenschaftlerin BARBARA ZEHNPFENNIG (Passau) wies in ihren Ausführungen besonders auf die Totalität der beiden Systeme Nationalsozialismus und Sozialismus hin, die den Menschen nicht nur von außen, sondern auch von innen heraus für sich gewinnen wollen. Durch diese doppelte Einflussnahme sei es schwieriger, sich zu widersetzen als in anderen Diktaturen. Der Psychologe STEFAN TROBISCH-LÜTGE (Berlin) brachte zudem das Verführungsmoment totalitärer Systeme ins Spiel, immer auch Teilnahme an der Macht zu versprechen. Er gab zu bedenken, dass sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR Verführungsmechanismen zum Tragen kamen, die unter Umständen auch heute noch wirksam sein können. Der Historiker HENDRIK THOSS (Chemnitz) merkte als Versäumnis in der Geschichte an, dass sich viele NS-Mitläufer in der jungen Bundesrepublik nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen mussten und sich stattdessen neu etablieren konnten. Der Frage, ob man denn das Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit unbedingt verlangen könne, begegnete Trobisch-Lütge mit dem Hinweis auf die hohen Risiken, denen man sich damit aussetzt. Das Gefühl der eigenen Feigheit sei für viele Betroffene auf Dauer jedoch unerträglich. Das von Martin ins Gespräch gebrachte „Umlegen des Relais“, dem schnellen Übergang in ein neues System nicht nur nach 1945, sondern auch nach dem Ende der DDR, begründete Trobisch-Lütge mit der Fähigkeit vieler Menschen, sich relativ problemlos an neue Machtstrukturen anzupassen und sich eigene Handlungsweisen schön zu reden.

Das zweite Panel beschäftigte sich dann mit der Frage, wie Diktaturen mithilfe von institutionellen Apparaten ihre Politik durchsetzen können und ihre Verbrechen exekutieren lassen. Die Verwaltungshistorikerin SABINE MECKING (Gelsenkirchen) resümierte in ihrem Eingangsvortrag, dass sich beispielsweise die Finanzverwaltung dem nationalsozialistischen System sehr schnell angeboten habe. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sei es zu keinem erwähnenswerten Austausch des Behördenpersonals gekommen, stattdessen habe man sich ohne erkennbaren Widerstand in den Dienst der NSDAP gestellt. Als Gründe benennt Mecking neben gewöhnlichem Opportunismus und Machtdenken auch Kategorien wie Faszination und Angst. Zudem argumentiert sie mit der Dienstpflicht der Finanzbeamten, die auch nach 1933 mit der gleichen bürokratischen Routine wie zuvor gearbeitet hätten. Der Jurist CHRISTOPH SAFFERLING (Marburg) führte aus, dass sich nach 1933 auch die Gleichschaltung der Justiz und die damit einhergehende Arisierung des Personals vergleichsweise schnell vollzogen habe; jedoch seien im Rechtswesen gleichzeitig Parallelstrukturen etabliert worden, die dem Misstrauen Hitlers gegenüber der Justiz entsprungen seien und besonders für junge Absolventen als Sprungbrett für eine rasche Karriere gedient hätten. Während es im Nationalsozialismus nachweislich von Vorteil für die Karriere gewesen sei, der Partei beizutreten und „vorauseilenden Gehorsam“ zu leisten, so habe ein passiver Widerstand zwar das Ende der Karriereleiter, jedoch keinerlei Gefahr für Leben und Familie des Juristen bedeutet. Keiner der NS-Richter habe aber bisher offen über seine Vergangenheit gesprochen. Beeindruckend war demgegenüber dann das Bekenntnis RUDI BECKERTs (Berlin), zwischen 1956 und 1990 Richter beim Obersten Gericht der DDR, der sich heute selbst rückblickend als Opportunist bezeichnet, der in der DDR Karriere machen wollte und in seiner Tätigkeit davon überzeugt gewesen sei, Recht und Staat zu dienen. Reflektiert stellte Beckert seine Bemühungen dar, die eigene Vergangenheit nach dem Ende der DDR aufzuarbeiten. Er resümiert für sich im Nachhinein, dass die DDR zumindest in Bezug auf politisch motivierte Urteile eindeutig ein Unrechtsstaat gewesen sei. Der Politologe JOCHEN STAADT (Berlin) stellte dann noch einmal deutlich heraus, dass es keinen Prototypen des Mitläufers gebe. Seiner Meinung nach haben sowohl Nationalsozialismus als auch DDR nur existieren können, weil sich aus verschiedenen Gründen genügend Menschen fanden, die mitgemacht haben. Dabei, so hob er hervor, sei die Zustimmung der Bevölkerung zur DDR jedoch deutlich geringer gewesen als zum Nationalsozialismus. Die DDR konnte seiner Meinung nach nur existieren, weil sie unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht gestanden habe.

Das letzte Panel befasste sich abschließend mit der Rolle der Intellektuellen in Diktaturen und legte den Fokus besonders auf die Motive, die Schriftsteller und Schauspieler dazu antreiben, sich anzupassen. Der Rundfunkjournalist und Schriftsteller KARL CORINO (Tübingen) skizzierte eingangs die Rolle des Staatskünstlers in der DDR am Beispiel Hermann Kant, um zu zeigen, welche Karriere die SED demjenigen ermöglichte, der mit ihr kollaborierte. Er warnte jedoch davor, die Rolle der Intellektuellen zu überschätzen und wies darauf hin, dass sich die Mechanismen in Diktaturen stark gleichen und so „die Braven“ stets belohnt würden. Im Anschluss verdeutlichte der rumäniendeutsche Schriftsteller und stellvertretende Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, HELMUTH FRAUENDORFER (Berlin), am Beispiel Johannes R. Becher, wie sich ein seiner Meinung nach anfangs exzellenter Expressionist durch die Anpassung an die Macht zu einem schlechten Schriftsteller, dessen Sätze austauschbar geworden seien, wandeln konnte. Es sei ein Kennzeichen jeder Diktatur, dass sie „Hofdichter“ habe, die sie „besingen“. Dem ästhetischen Werteverlust gehe dabei immer ein humaner Werteverlust voran. Frauendorfer warnte davor, zu viel in die Intellektuellen hineinzuprojizieren, denn viele Schriftsteller seien im Nachhinein nicht aufgrund ihrer künstlerischen Leistung so hochgelobt worden, sondern nur, weil sie Dissidenten gewesen sind. Der künstlerische Direktor der Deutschen Kinemathek Berlin, RAINER ROTHER (Berlin), wies dann auf die unterschiedlichen Systemumstände im Nationalsozialismus und der DDR hin und lobte die hohe Qualität von DDR-Schauspielern, die nach ihrem Weggang aus der DDR eine deutliche Bereicherung für den westdeutschen Film gewesen seien. Besonders in Hinblick auf Schauspieler im Nationalsozialismus warnte er vor Bagatellisierungen, die Anpassung allein mit der Natur des Schauspielers, spielen zu wollen, zu entschuldigen. IRINA SCHERBAKOWA (Moskau) berichtete im Anschluss darüber, wie sich die Rolle von Kunst und Literatur in Russland nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems verändert habe. Scherbakowa konstatierte den Verlust einer moralischen Autorität im heutigen Russland und stellte mit Besorgen das Erstarken einer Gruppe von Künstlern fest, die die heutigen Machthaber stütze. Nichtkonformes Verhalten und Aufbegehren gegen die Macht werde, wie das Beispiel der Punkgruppe Pussy Riot erst jüngst wieder verdeutlicht habe, nach wie vor mit erschreckenden Urteilen geahndet. Trotzdem sei sie der Ansicht, dass man seine Meinung offen sage müsse, um heute noch anständig in Russland zu leben. Am Ende der Konferenz dankte Rita Schorpp von der Konrad-Adenauer-Stiftung (Berlin) in ihrem Schlusswort allen Beteiligten und lud bereits zum nächsten Hohenschönhausen-Forum 2014 ein.

Zusammenfassend stellte sich bei diesem mittlerweile 6. Hohenschönhausen-Forum heraus, dass der Begriff des Mitläufers nicht pauschal gesetzt werden kann, sondern auch hier verschiedene Gruppen mit verschiedenen Handlungsmotiven differenziert werden müssen. Die Teilnehmer diskutierten neben den verschiedenen Facetten des Mitlaufens auch dessen Beweggründe und zeigten auf, dass sich diese zwar in vielen Diktaturen ähnelten, aber länder- und zeitenspezifisch auch unterscheiden können. Deutlich wurde, dass noch immer gravierende Unterschiede in der Wahrnehmung des Mitlaufens in den beiden deutschen Diktaturen bestehen – so hat für die Zeit des Nationalsozialismus bereits eine kritische Bewertung stattgefunden, während dem Mitlaufen in der DDR nach wie vor mehrheitlich mit Verständnis begegnet wird. Besonders die beim Hohenschönhausen-Forum übliche Betrachtung von Nationalsozialismus und DDR, aber auch der Blick auf andere, noch existierende repressive Systeme weltweit führte die anhaltende Aktualität des Phänomens „Mitläufer“ vor Augen und verdeutlichte einmal mehr, dass Verführungsmechanismen von Diktaturen auch heute noch wirksam sein können.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Hubertus Knabe (Direktor Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin)

Andreas Kleine-Kraneburg (Leiter Akademie Konrad-Adenauer-Stiftung)

Einführung
Roland Jahn (Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, Berlin), Warum ich kein Mitläufer wurde

Panel I: Die Anpassung der Masse
Moderation: Sven Felix Kellerhoff (Die Welt, Berlin)

Barbara Zehnpfennig ( Universität Passau), Die Last, ein Einzelner zu sein – Mechanismen der Macht

Hendrik Thoß (Technische Universität Chemnitz), Hitlers stumme Helfer – Mitläufer im Nationalsozialismus

Marko Martin (Berlin), Anpassen oder Widersetzen – Mitläufer in der DDR

Stefan Trobisch-Lütge (Berlin), Zur Psychologie des Mitläufers – Menschen in der Masse

Panel II: Anpassung in den Institutionen
Moderation: Hubertus Knabe (Direktor Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen)

Sabine Mecking (Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Gelsenkirchen), Bürokratische Routine – Finanzverwaltung in Diktatur und Demokratie

Christoph Safferling (Philipps-Universität Marburg), Furchtbare Juristen – Die Rolle der Justiz im Nationalsozialismus

Rudi Beckert (Berlin), Glücklicher Sklave – Erinnerungen eines DDR-Richters

Jochen Staadt (Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin), Die Partei hat immer Recht – Kadergehorsam in der DDR

Panel III: Die Anpassung der Intellektuellen
Moderation: Norbert Seitz (Deutschlandfunk)

Karl Corino (Tübingen), Die Staatskünstler – Schriftsteller in der SED-Diktatur

Rainer Rother (Deutsche Kinemathek Berlin), Anpassung als Rolle – Schauspieler in der DDR und im Nationalsozialismus

Helmuth Frauendorfer (Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen), Lobreden auf den Führer – Intellektuelle im kommunistischen Rumänien

Irina Scherbakowa (MEMORIAL, Moskau), Mitmachen oder Aufbegehren – Die Rolle der Intellektuellen in Russland heute

Schlusswort
Rita Schorpp (Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin)


Redaktion
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