Literatur – Kultur – Zivilgesellschaft: Zur Habsburger Prägung des Bildungswesens in der Bukowina und Nachbarregionen zwischen 1848 und 1940

Literatur – Kultur – Zivilgesellschaft: Zur Habsburger Prägung des Bildungswesens in der Bukowina und Nachbarregionen zwischen 1848 und 1940

Organisatoren
Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Nationale Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi
Ort
Tscherniwzi
Land
Ukraine
Vom - Bis
16.10.2013 - 20.10.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Markus Winkler, Catedra de Germanistică, Facultatea de Litere, Universitatea "Alexandru Ioan Cuza" Iaşi (Rumänien)

Die internationale Tagung an der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi führte 21 Wissenschaftler/-innen unterschiedlicher Fachdisziplinen zusammen. Historiker, Literatur-, Sprach-, Kultur- und Erziehungswissenschaftler aus neun europäischen Ländern beförderten eine interdisziplinäre Auseinandersetzung zum Bildungswesen und zu den transkulturellen Verbindungen innerhalb eines multiethnischen und -lingualen Großraums Mittelosteuropas. In sieben Panels wurden institutionelle, gruppen- und akteursbezogene Perspektiven vorgestellt und aufgezeigt, welche Funktionen Schulen und Universitäten in der damaligen Bildungslandschaft der Bukowina und Galiziens einnahmen, wie bestimmte Bildungsakteure ihre Umgebung mit neuen Ideen beeinflussten, inwieweit sich spezifisch nationale Bildungsinitiativen auf die Gesellschaft in einer multikulturell geprägten Region auswirkten und wie (Aus)Bildung literarische und kulturvermittelnde Prozesse in Gang bringen konnte. Die Blickrichtung auf Nationen, Ethnien, Religionen, Geschlechter und soziale Schichten verdeutlichte, dass es einerseits zu einer „Emanzipation durch Bildung“ kam, in deren Folge sich ein Bildungsbürgertum in den einzelnen hier lebenden Nationen entwickeln konnte. Bildung hatte einen humanistischen Wert und führte im Idealfall zu philanthropischen Unternehmungen, zu einem Bildungsauftrag, der die Teilhabe auch von bildungsfernen Schichten an einem sozialen Aufstieg fördern sollte. Die Relevanz des Tagungsthemas für Gegenwart und Zukunft zeigte die Untersuchung eines historischen Bildungsmanagements, das durch bestimmte Formen der Partizipation zur Entstehung und Stärkung zivilgesellschaftlicher Prozesse beitragen konnte. Andererseits führte jedoch eine Forcierung von nationaler Bildung auch zu Ab- und Ausgrenzung. Dann ging Bildungserwerb einher mit der Segregation und Nationalbewegungen glitten ins Nationalistische ab.

Die Konferenz wurde vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, der Fritz Thyssen Stiftung, dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen und der Universität „Alexandru Ioan Cuza“ Iaşi gefördert.

Im ersten Panel, das sich mit dem Universitätswesen in der Bukowina und in Galizien auseinandersetzte, unterstrich JAN SURMAN (Marburg/Wien), dass mit der Gründung der deutschsprachigen Czernowitzer Universität (1875) beabsichtigt worden sei, nicht nur die Provinz durch Bildung zu modernisieren, sondern auch für ruthenisch- und rumänischsprachige Studenten eine Alternative zu Einrichtungen in Galizien und im Fürstentum Rumänien anzubieten. Im Unterschied zu Lemberg und Krakau stand die Universität Czernowitz sprachlich vermittelnd zwischen unterschiedlichen Gruppen und auch der Austausch mit anderen Universitäten Zisleithaniens sei in Czernowitz intensiver gewesen. KATRIN STEFFEN (Lüneburg) fokussierte die Lebensläufe bedeutender Naturwissenschaftler, die an der Universität Lemberg und am Polytechnikum Lemberg sowohl zu Habsburger Zeiten als auch im polnischen Nationalstaat tätig waren (Hugo Steinhaus, Stefan Banach, Rudolf Weigel, Ludwik Fleck unter anderem). Hinterfragt werden müsse jedoch, so Steffen, inwiefern dieses kreative Milieu auch als eine Konstruktion und damit als ein (weiterer) Mythos Galiziens gelesen werden könne. Mit zwei prominenten Professoren der Czernowitzer Universität, die eine Doppelfunktion ausübten, setzte sich MARIANA HAUSLEITNER (Berlin) auseinander. Raimund Friedrich Kaindl und Ion Nistor waren die ersten, die eine Beschäftigung mit der Bukowina zum wissenschaftlichen Thema an der Universität machten, die aber auch gleichzeitig einem nationalen Denken verbunden blieben. Hausleitner legte dar, warum Kaindls Schriften nach dem Zerfall des Habsburger Reiches und unter neuen politischen Vorzeichen heftig kritisiert wurden, für Nistor hingegen nach 1919 eine Karriere als Historiker und Politiker beginnen konnte. JEROEN VAN DRUNEN (Amsterdam) untersuchte die sozialen und nationalistischen Verwerfungen, die mit der Czernowitzer Universität einhergehen konnten. Als Bildung immer mehr zu einem Statussymbol nationalistischer Bewegungen geworden sei, wuchs die Zahl der Uni-Absolventen derart an, dass ein „akademisches Proletariat“ entstehen konnte. Statt als Motor zur Wohlstandsmehrung in der Bukowina wurde die Universität nun als ein hemmendes Element betrachtet, das maßgeblich zur Einfuhr und Förderung des Nationalismus beigetragen habe.

Das zweite Panel behandelte Bildungsbiographien zweier Frauen, die durch ihre jahrzehntelange Arbeit zu einer veränderten Wahrnehmung von Frauen im Bildungswesen im frühen 20. Jahrhundert beigetragen haben. PETER RYCHLO (Czernowitz) stellte in seinem Beitrag eine legendäre Persönlichkeit des Wiener Bildungs- und Kulturlebens vor. Die in Czernowitz ausgebildete Eugenie Schwarzwald (1872-1940) gründete die „Schwarzwaldschen Schulanstalten“ und richtete mit innovativen pädagogischen Ideen Lyceen, Gymnasialkurse und wissenschaftliche Fortbildungskurse speziell für Mädchen ein, an denen auch prominente Künstler (Oskar Kokoschka und Adolf Loos) und Musiker (Arnold Schönberg und Egon Wellesz) unterrichteten. Sie selbst war umfänglich publizistisch tätig und veröffentlichte als dann schon bedeutende Reformerin des österreichischen Schulwesens ihre pädagogischen Ideen in Blättern wie „Neue Freie Presse“, „Neue Zürcher Zeitung“ und „Vossische Zeitung“. Mit einer weiteren wichtigen Frauenfigur des Bildungswesens beschäftigte sich ANDREI CORBEA-HOISIE (Iaşi). Susanna Rubinstein (1847-1914), Tochter eines jüdischen Reichsratsabgeordneten und aus einer wohlhabenden Czernowitzer Familie stammend, gehörte zu jenem Prototyp der „lateinischen Mädchen“, die für Karl Emil Franzos das Symptom der Emanzipation und der Assimilation des jüdischen Bürgertums der Bukowina durch die deutsche Kultur bildete. Corbea-Hoisie konnte trotz weniger biographischen Quellen die Umstände der Bildungslaufbahn Rubinsteins von Czernowitz, Prag, Bern bis nach Deutschland rekonstruieren und aufzeigen, welchen Hindernissen sich die promovierte Psychologin und Exegetin des Werkes Schillers als Frau und Jüdin ausgesetzt sah.

Das äußerst facettenreiche Bildungswesen jüdischer Gemeinden in Czernowitz, Lemberg und Tarnopol war Thema des dritten Panels, das in den Räumen der ehemaligen Jüdischen Toynbeehalle in Czernowitz durchgeführt werden konnte. MARKUS WINKLER (Iaşi) stellte die Entstehungsgeschichte dieser am 15. November 1913 eröffneten jüdischen Bildungseinrichtung vor. Das Angebot und die Struktur der Jüdischen Toynbeehalle umfasste Vorleseabende, soziale und Bildungsaktivitäten und in das Haus integrierte Einrichtungen der(Aus)Bildung, Erziehung und Unterhaltung (Sprachschule, Lehrlingsheim, Bibliothek, Kindergarten, Theater). Die Czernowitzer Einrichtung habe sich jedoch nur noch indirekt an der Settlementidee und den sozialutopischen Gesellschaftsideen Arnold Toynbees orientiert. Sie war eine spezifische Variante dieser Bewegung und nahm in Konkurrenz zum Jüdischen Nationalhaus in Czernowitz auch eine machtpolitische Position ein. PÉTER VARGA (Budapest) skizzierte die Initiativen Wiens zur Reformierung des jüdischen Bildungswesens Anfang des 19. Jahrhunderts und ging damit auf die Vorgeschichte der 1891 gegründeten und von der Baron-Hirsch-Stiftung betriebenen Schulen in Galizien ein. Als maßgebende Reformer des deutschsprachig-jüdischen Schulwesens in Galizien agierten Herz Homberg und Josef Perl, die parallel zu den traditionellen jüdischen Schulen Cheder und Jeschiwa das Schulsystem ausgebaut hatten. Nachhaltiger seien jedoch die Initiativen und Reformen Perls gewesen, insbesondere durch die Gründung der „Deutsch-israelitischen Hauptschule zu Tarnopol“ 1819. Auf die Reformgeschichte des jüdischen Schulwesens ging auch MYKOLA KUSCHNIR (Czernowitz) ein. Er legte dar, wie stabil das traditionelle Schulsystem der Juden trotz der Säkularisierungsbestrebungen der josephinischen absolutistischen Politik gewesen sei. Zwar erschien durch den reformorientierten Landesrabbiner Lasar Eliahu Igel und die Gründung einer deutsch-jüdischen Schule in Czernowitz 1855 kurzzeitig eine andere Entwicklung in der Bukowina möglich. Doch Assimilationsprozesse in den breiteren Schichten der jüdischen Bevölkerung nach 1867 hätten das Reformwerk in Frage gestellt und zum Fortbestehen des traditionellen jüdischen Schulsystems, vor allem in Form eines Netzes von Elementarschulen, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen.

Im vierten Panel, das sich – analog zum ersten Panel der Tagung – der Bildungsadministration widmete und auf die Zusammenhänge von Gesetzgebungen, Reformvorschlägen, Schul- und Unterrichtswesen einging, stellte BOHDANA LABINSKA (Kiew) drei Entwicklungsphasen der Methodik des Fremdsprachenunterrichts in Galizien und der Bukowina zwischen 1867 und 1939 vor – unter dem Aspekt des Unterrichts von Deutsch an ruthenischen Schulen. Historische und politische Faktoren, generelle Reformen der Fremdsprachendidaktik und Impulse aus dem Ausland hätten jeweils die Entwicklung der Lehr- und Lernmethoden beeinflusst und sich auf die methodischen Ziele, die Lernmittel und Unterrichtscurricula in den Schulen Galiziens und der Bukowina ausgewirkt. Den Landesschulrat Galiziens als Bildungsadministration thematisierte SERHIJ LUKANJUK (Czernowitz) und stellte fest, dass diese Einrichtung auch auf das Selbstverständnis als „aufgeklärte“ Monarchie zurückgehe, die einen völligen Neuaufbau des Schulwesens für alle Nationalitäten des Landes angestrebt habe. Als ein Teil des Neuaufbaus sei der Landesschulrat (gegründet 1867) zu werten, der sich bis zur Jahrhundertwende wegen der kritischen wirtschaftlichen Lage und der kurzsichtigen Politik der Konservativen kaum entfalten konnte, nach 1900 jedoch nachhaltig zur Entwicklung des Schul- und Bildungswesens in Galizien beigetragen habe. Wie rasant sich eine Bildungsinfrastruktur im Sekundarbereich innerhalb kurzer Zeit verändern kann, demonstrierte CONSTANTIN UNGUREANU (Chişinău) abschließend mit zahlreichen statistischen Angaben zu den Gymnasien, Mädchenlyzeen, Realschulen und weiteren Bildungsanstalten in der Bukowina zwischen 1900 und 1914. 13 Gymnasien in der Bukowina, darunter vier deutsche, vier deutsch-rumänische, zwei deutsch-ukrainische, zwei ukrainische und ein polnisches Gymnasium, stellten das dichteste Netz an Gymnasien aller österreichischen Kronländer dar.

Das fünfte Panel der Tagung löste sich geographisch aus dem Bukowina/Galizien-Kontext. JOSEF SALLANZ (Magdeburg) referierte über die kritische Bildungssituation der Dobrudschadeutschen vor 1918. Insbesondere nachdem die Dobrudscha ab 1878 eine rumänische Provinz geworden war, hätte sich die Situation des Bildungswesens radikal geändert. Nach einer Übergangsphase wurden deutschsprachige Lehrkräfte ab der Jahrhundertwende aus den Staatsschulen verdrängt und durch rumänische Lehrer ersetzt. Der deutschsprachige Unterrichtsbetrieb musste in vielen Siedlungen in dieser Zeit aufgegeben werden. In den meisten Gemeinden versuchten die Siedler durch die Finanzierung einer deutschsprachigen Lehrkraft dieser Entwicklung entgegenzusteuern. ION LIHACIU erörterte in seinem gemeinsam mit ANA-MARIA MINUŢ (beide Iaşi) erarbeiteten Vortrag, welchen Beitrag die deutsche Sprache zur Modernisierung und Standardisierung des Rumänischen im 19. Jahrhundert leisten konnte. Deutsch sei zu Beginn der modernen Periode des Rumänischen oft als Hilfsinstrument herangezogen worden und es kam zu zahlreichen Lehnübersetzungen. Darüber hinaus hätten Übersetzungen von Lehrbüchern oder populärwissenschaftlichen Schriften aus dem Deutschen durch die sogenannten Anhänger des Latinismus (Ioan Molnar, Petru Maior) das Rumänische beeinflusst, wie Lihaciu an mehreren Beispielen nachweisen konnte.

Das sechste Panel setzte sich mit den Konsequenzen national geprägter Bildungsarbeit bzw. der Steuerungsfunktion einer Religionseinrichtung auf dem kulturellen Feld auseinander. BENJAMIN M. GRILJ (Wien) befasste sich mit dem „Deutschen Kulturverein“ und der „Rumänischen Kulturliga“ in der Bukowina und den von ihnen ausgehenden Segregationsmechanismen. Trotz liberaler Verfassungen und kosmopolitisch urbaner Organisationen habe eine nationale Segregation ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine soziale ersetzt. Die beiden Vereine übten einen starken Einfluss auf die Universität und universitätsnahe Organisationen aus und begründeten eine xenophobe und antisemitische Politik. In einer Vergleichsstudie wurden Aspekte der lokalen Ausbreitung, des antisemitischen Gehalts der Statuten, Verbindungen zur Universität und zwischen den Vereinen vorgestellt. TETYANA KLOUBERT (Augsburg) untersuchte die Entwicklung der Nationalhäuser in Czernowitz und stellte gleichzeitig ein mit diesem Thema befasstes Forschungsprojekt vor. In Czernowitz existierten fünf Nationalhäuser, deren Bildungsaktivitäten auch als Orientierungshilfe im gesellschaftlich-politischen Leben verstanden werden können. Hauptziel der Volkshäuser sei zwar die Verbreitung einer jeweils nationalen Bildung und Aufklärung im Volk gewesen, dennoch hätten alle auch in einer produktiven Konkurrenz zueinander gestanden. Nichtsdestotrotz müsste hinterfragt werden, inwiefern die Nationalhäuser auch zu einer „kulturellen Ghettoisierung“ in der Bukowina beigetragen hätten. Auch der Vortrag von KURT SCHARR (Innsbruck) über den Bukowinaer griechisch-orientalischen Religionsfonds befasste sich mit einem aktuellen Forschungsprojekt. Ein wesentlicher Teil der kaiserlichen Politik zielte auf die Arrondierung und Ausrichtung der griechisch-orientalischen Kirche auf die neuen territorialen Gegebenheiten des Habsburgerreiches ab, sodass bereits 1783 ein dezidiert der Bukowina zugeordneter griechisch-orientalischer Religionsfonds staatlicherseits eingerichtet wurde. Durch seine wachsende wirtschaftliche Bedeutung als größter Grundbesitzer der Bukowina und seinen zunehmenden Einfluss habe sich der Religionsfonds bis zu seiner Auflösung 1949 zu einem die Region sowohl politisch als auch sozioökonomisch maßgeblich prägenden Modernisierungsfaktor entwickelt.

Im siebten und letzten Panel nahmen die Vorträge wiederum eine dezidiert akteursbezogene Perspektive ein. Für die Tätigkeit des Kulturvermittlers Georg Drozdowski, an der Schnittstelle verschiedener Kulturen und kultureller Überschneidungen situiert, sei nach Ansicht von CRISTINA SPINEI (Iaşi) besonders die kulturelle Praxis des Übersetzens charakteristisch gewesen. Dem deutschsprachigen Leser habe Drozdowski eine Reihe rumänischer, polnischer und spanischer Dichter erschlossen. Sein Werk enthalte darüber hinaus wichtige Informationen über das akademische Leben an der Universität Czernowitz und das Bildungswesen in der Region. Zur ukrainischen Schriftstellerin Olha Kobylanska, die ihre ersten Texte noch auf Deutsch verfasste, lieferte KATI BRUNNER (Czernowitz) zunächst einen Einblick in den spezifischen biographischen Hintergrund und die Bildungslaufbahn, um dann auf Kobylanskas Verortung im Spannungsfeld zwischen Imperium und Nation einzugehen, die anhand der Repräsentationen von Bildung und den ihnen immanenten diskursiven Strategien in den literarischen Werken erkennbar werde. Bildung sei ein Instrument imperialer Integration und ein Faktor sozialer sowie nationaler Emanzipation gewesen. FRANCISCA SOLOMON (Iaşi) setzte sich mit literarischen Projektionen zum Cheder auseinander und hob hervor, dass in der jüdischen Tradition die Bildung mit komplexer religiöser Bedeutung befrachtet sei, indem sie sich zur identitätsstiftenden Konstante des jüdischen Wesens entwickelt habe. Die Ausbildung im Cheder wurde sowohl als die erste Stufe der jüdischen Erziehung als auch als Auslöser von emanzipatorischen Wünschen wahrgenommen. Texte repräsentativer Autoren aus der Bukowina und Galizien verdeutlichten die verschiedenen literarischen Perspektiven auf den Cheder und narrative, aber auch diskursive Positionierungen. In einem als Exkurs zum Panel angelegten Vortrag stellte NATALIA MASIJAN (Czernowitz) die Bestände zum Bildungswesen in der Bukowina zwischen 1770 und 1940 vor, die heutzutage im Staatlichen Czernowitzer Gebietsarchivs lagern.

In der Abschlussdiskussion wurde bilanziert, dass die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen ein wichtiges Qualitätsmerkmal der Tagung gewesen seien und sich auf diese Weise auch die Zusammenhänge eines breit angelegten Bildungsbegriffs im Kontext eines nationalen und kulturell ausdifferenzierten regionalen Raums erschlossen hätten. Allgemein fand Zustimmung, dass der Wandel des Bildungs- und Erziehungswesens und Bildungsreformen im Untersuchungszeitraum in mehrfacher Hinsicht zur Modernisierung von Gesellschaften beigetragen haben. Dies zeige sich in einer verstärkten Partizipation der Bevölkerung an zivilgesellschaftlichen Prozessen, zum Beispiel in der Gründung von Bildungsvereinen, in der literarischen und kulturellen Produktion und im Pressewesen, aber auch in einem sozialen Aufstieg, der durch Bildungserwerb möglich geworden sei. Bildung habe einerseits als integrativer Faktor gewirkt, wobei insbesondere die deutsche Sprache eine wichtige Brückenfunktion eingenommen habe, andererseits aber auch Nationalisierungsprozesse begleitet. Letztere konnten unterschiedliche Ausrichtungen nehmen: Bildung war ein Instrument zur produktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und Sprache, konnte aber auch ein Mittel zur Feindbildproduktion und zur ideologischen Radikalisierung sein. In diesem Zusammenhang wurde auch betont, dass eine dogmatische und undifferenzierte Verknüpfung von Personengruppen und nationalen Gruppen nicht haltbar sei. Daher sollten sich zukünftige Untersuchungen noch intensiver mit den einzelnen Akteuren und Institutionen auseinandersetzen.

Konferenzübersicht:

Tagungsziele und -inhalte (Markus Winkler)

Panel I: Bildungswesen institutionell: Universitäten
Moderation: Kurt Scharr (Innsbruck)

Jan Surman (Marburg/Wien), Autonomie und Abhängigkeit? Typologie Habsburgischer Universitäten am Beispiel Galiziens und der Bukowina

Katrin Steffen (Lüneburg), Wissen in Lemberg, Lwów und Lviv: Akteure und Strukturen in den Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Mariana Hausleitner (Berlin), Historiker der Universität Czernowitz als Wissenschaftler und Politiker: Raimund Friedrich Kaindl und Ion Nistor

Jeroen van Drunen (Amsterdam), Deutsche Kultur und geistiges Proletariat: Zur Ambivalenz der Czernowitzer Franz-Josephs-Universität (1875-1918)

Panel II: Bildungsakteurinnen aus der Bukowina
Moderation: Ion Lihaciu (Iaşi)

Peter Rychlo (Czernowitz), Literarisch-publizistische Texte von Eugenie Schwarzwald im Universum ihres pädagogischen Systems

Andrei Corbea-Hoisie (Iaşi), Susanna Rubinstein – die gebildete Czernowitzerin als Schiller-Exegetin

Panel III: Bildungsangebote der jüdischen Gemeinde
Moderation: Susanne Marten-Finnis (Portsmouth)

Markus Winkler (Iaşi), Toynbeehalle in Czernowitz: Zur Rekonstruktion einer jüdischen Bildungseinrichtung 1913

Péter Varga (Budapest), Herz Homberg und Josef Perl: zwei Vorläufer der Baron-Hirsch-Schulen in Galizien

Mykola Kuschnir (Czernowitz), Die deutsch-jüdische Schule in Czernowitz und die Säkularisierung des jüdischen Schulwesens in der Bukowina zwischen den 1850er- und 1870er-Jahren

Panel IV: Bildungswesen institutionell: Schulen
Moderation: Péter Varga (Budapest)

Bohdana Labinska (Kiew), Unterricht einer fremden Sprache: Deutsch an ruthenischen Schulen in der Bukowina und Galizien zwischen 1867 und 1939

Serhij Lukanjuk (Czernowitz), Der Landesschulrat als Verwaltungsorgan im multiethnischen Galizien vor und nach 1900

Constantin Ungureanu (Chişinău), Unterrichten an der Basis: Mittelschulen in der Bukowina Anfang des 20. Jahrhunderts

Panel V: Bildungswesen in der Region
Moderation: Andrei Corbea-Hoisie (Iaşi)

Josef Sallanz (Magdeburg), Das Bildungswesen bei den Dobrudschadeutschen: Anspruch und Wirklichkeit

Ion Lihaciu (Iaşi) / Ana-Maria Minuţ (Iaşi), Zum Einfluss des Habsburger Bildungsideals auf rumänische Schulbücher und Sprache in Siebenbürgen und der Bukowina im 19. Jahrhundert

Panel VI: Nationale und religiöse Bildungsinitiativen
Moderation: Mariana Hausleitner (Berlin)

Benjamin M. Grilj (Wien), Nationalisierung, Segregation und Exklusion in der Bukowina: Der „Deutsche Schulverein“ und die „Rumänische Kulturliga“ im Vergleich

Tetyana Kloubert (Augsburg), Nationale Volkshäuser in Czernowitz als Modell der kulturellen und interkulturellen Erwachsenenbildung

Kurt Scharr (Innsbruck), Der Bukowinaer griechisch-orientalische Religionsfonds: aktuelle Forschungsfragen eines laufenden Projektes

Panel VII: Bildungsprägung: Literatur / Archivwesen
Moderation: Peter Rychlo (Czernowitz)

Cristina Spinei (Iaşi), Literarische Texte im kommunikativen Raum: Georg Drozdowskis Kulturvermittlung als kreativer Prozess

Kati Brunner (Czernowitz), Von der deutschen Sprache zur ukrainischen Moderne: Olha Kobylanska – eine Czernowitzer Schriftstellerin

Francisca Solomon (Iaşi), Jüdische Erziehung und Ausbildung im Cheder: Literarische Perspektiven in den Texten galizischer und bukowinischer jüdischer Autoren

Natalia Masijan (Czernowitz), Die Bestände des Staatlichen Czernowitzer Gebietsarchivs zum Bildungswesen der Bukowina

Abschlussdiskussion
Moderation: Susanne Marten-Finnis (Portsmouth) und Markus Winkler (Iaşi)