Krankheit Erzählen - Anglo-Dutch-German Workshop on Illness Narratives

Krankheit Erzählen - Anglo-Dutch-German Workshop on Illness Narratives

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.07.2004 - 10.07.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Osten, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Eine ideale Quelle zur Sozialgeschichte der Medizin enthält genaue, verläßliche und individuelle Details über den Alltag von Patienten. Groß sind daher die Erwartungen an die wenigen vollständig erhaltenen Krankenblattarchive, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit reichen. Doch was, wenn die dort gefundenen Quellen zwar die gewünschten Kriterien de facto erfüllen, die akribisch geführten Dokumentationen jedoch aus nichts anderem bestehen, als aus Tausenden von Blättern mit sauber gezogenen Zickzacklinien?

Was dachten kranke Menschen in den vergangenen Jahrhunderten über ihre Krankheit, wie empfanden sie medizinische Behandlungen und welche Einstellungen hatten sie zu Gesundheit und zu ihrem eignen Körper? „Illness Narratives“ war der Titel des vierten Britisch-Niederländisch-Deutschen Arbeitskreises zur Medizingeschichte, der diesmal Literaturwissenschaftler, Kulturhistoriker und Historiker auf Einladung des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart zusammenführte.

In seiner Keynote Lecture, bot JOHN HARLEY WARNER (New Haven) einen Überblick über die von Ärzten gefertigten Patientengeschichten der vergangenen 150 Jahre. Eng beschriebene Blätter der Krankenjournale wurden mit der Zeit von standardisierten Anamnesebögen abgelöst, Befundbeschreibungen durch Fotografien, eingeklebte Laborzettel oder Röntgenbilder ersetzt und oft blieben die einzigen erhaltenen Dokumente allein die Verlaufskurven von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur. Warner stellte diesen, durch ihre wissenschaftliche Systematik restringierten Quellen, sich stets gleichende entindividualisierte Portraits lachender Kinder gegenüber, die ab den 30er Jahren in den USA als Fotomodelle für Fundraisingkampagnen zur Eindämmung der Poliomyelitis dienten. Öffentlich propagierte Krankengeschichten wurden ebenso wie archivierte Patientenakten von denen geprägt, die sie verfaßten. Aus beiden lassen sich Motivationen und Handlungen der Ärzte und Krankenschwestern nachvollziehen. Doch wo in diesen Quellen finden wir etwas über Patienten?

Die Frage nach der „dual nature of illness“; nach der Bedeutung, die Krankheit für eine Person erfährt und nach der Rolle, die Krankheiten und Kranken durch die Gesellschaft zugewiesen wird, sollte zum Leitmotiv der Tagung werden. Dabei stand die Bewertung der Quellen im Vordergrund; vorgestellt wurden Patientenakten, Briefe, Tagebücher, Fotografien, Reisebeschreibungen, Tagebücher, Romane, Autobiographien und Tonbandaufzeichnungen. Patientengeschichten aus ärztlicher Hand dienten wissenschaftlichen Falldarstellungen, der Dokumentation von Behandlungserfolgen oder zur Propagierung politischer und ökonomischer Ziele. Aber auch Quellen, die aus der Feder der Kranken selbst stammen, können so sehr von äußeren Umständen determiniert sein, daß sie den Blick auf Leiden und Krankheit im Alltag verstellen.

Exemplarisch zeigt sich dies an den Seelentagebüchern Württembergischer Pietisten aus dem 18. Jahrhundert, die KATHARINA ERNST (Stuttgart) vorstellte. Der Inhalt dieser Kladden wurde unter den Gläubigen einer Gemeinde ausgetauscht, kopiert und in religiösen Zirkeln besprochen. Sie sind Dokumente eines Lebens im Einklang mit Gott. Wer in ihnen Gefühle oder Reflektionen über Krankheit sucht, findet Auslegungen von Bibelversen auf die eigene Situation. In diesen Selbstexegesen werden kleinere Leiden wie Kopfschmerz oder Unwohlsein beschrieben, schwere Krankheiten der Verfasser dagegen lassen sich oft allein über fehlende Eintragungen rekonstruieren. Dieses „Schweigen der Quellen“ im Bezug auf die eigene Krankheit sollte sich im Verlauf der Tagung als ein essentielles Kennzeichen von Selbstbeschreibungen erweisen.

Für MICHAEL NEVE (London) sind Autobiographien nichts anderes als selbst verfaßte Nachrufe, mit denen die Autorität über das eigene Leben auch postum gewahrt werden sollte. Krankheiten konnten so zu Wendepunkten der eigenen Entwicklung stilisiert werden oder, wie im Beispiel John Addington Symonds (1840-1893) einer psychopathologischen Selbstinszenierung dienten. Neve zeigte, daß gerade Selbstbiographen ein feines Netz retrospektiver Diagnostik spinnen können, in dem sich forschende Sozialhistoriker verfangen.

RUDOLF DEKKER (Rotterdam) stellte die Tagebücher Otto van Ecks (1791-1797) vor, der seine Aufzeichnungen im Alter von 10 Jahren begann und in den verbleibenden 7 Jahren bis zu seinem Tode 1 560 Seiten füllte. Die Aufzeichnungen des Jungen spiegeln seine Erziehung nach dem Prinzipien Rousseaus wider und zeigen gerade in den langen Phasen schwerer Krankheit, wie sich der Junge zwischen Religion, Magie und den Angriffen der Natur auf seinen eigenen Körper als Individuum stets neu positioniert. Egodokumente, meist Tagebücher und Briefe, von 630 Personen, die zwischen 1500 und 1814 in Holland gelebt haben, werden an der Erasmus Universität Rotterdam ausgewertet. Die große Zahl der Quellen macht es möglich in diesem Projekt Beschreibungen von Krankheiten durch Angehörige und Freunde, behandelnde Ärzte und die Kranken selbst miteinander zu vergleichen.

Auf einen ähnlich breiten Quellenbestand kann der Initiator der Tagung, ROBERT JÜTTE (Stuttgart) im Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung zurückgreifen. Die Falldokumentationen homöopathischer Ärzte dienten ebenso der Ausübung einer Wissenschaft, wie die Aufzeichnungen schulmedizinischer Kollegen; die Lehre der Homöopathie fordert jedoch, Patienten nach täglichen Gewohnheiten zu fragen, Laster offenzulegen und scheinbar nebensächliche Verrichtungen des Alltags zu dokumentieren. So enthalten die Patientenjournale Hahnemanns und anderer homöopathischer Ärzte persönliche Details, die nur selten Briefen oder Tagebüchern anvertraut wurden. Doch schon die Aufzeichnungen des Begründers der Homöopathie aus den 1830er Jahren lassen zeitökonomische Bestrebungen erkennen. Homöopathische Erstanamnesen wurden mit der Zeit in ähnlicher Weise standardisiert wie Patientendokumentationen in schulmedizinischen Praxen. Die Form diktiert hier den Raum, der einer Krankheitserzählung gegeben wird und strukturiert ihren Inhalt.

Über eine medizinische Fallgeschichte hatte das Gericht der englischen Stadt York im Jahr 1720 zu entscheiden. Eine Ehefrau forderte die Scheidung von ihrem Mann, der versucht habe, sie zu vergiften. In den von FAY BOUND (London) vorgestellten Prozeßakten lassen sich die Stellungnahmen des Opfers sowie der Be- und Entlastungszeugen verfolgen. Von der Ehefrau beschriebene Vergiftungssymptome wurden vom Gericht angezweifelt und der Klägerin vorgeworfen, ihre Kenntnisse aus medizinischen Ratgebern und Hausbüchern gewonnen zu haben. Das Wissen über Krankheit und die Autorität über den eigenen Körper wurde vor Gericht zu einem Instrument der Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau.

Mit Hilfe einer Datenbank analysierte MARIJKE GIJSWIJT-HOFSTRA 400 Patientenakten eines kommunalen Sanatoriums für Nervenkranke in Leiden. Die Akten enthalten nicht allein Aufzeichnungen der Ärzte und Krankenschwestern, sondern auch Briefe der Patienten und ihrer Angehörigen. Die Insassen sahen sich genauer Beobachtung ausgesetzt; psychotische Patienten wurden an eine Irrenanstalt weitergeleitet, eine Maßnahme die im Sanatorium gefürchtet war. Zu diesem Zweck wurde zwischen ‘renitenten’ und ‘ruhigen’ Patienten unterschieden, und Insassen wie Angehörige sorgten sich um die mögliche Einordnung in die eine oder andere Gruppe. So waren es auch hier die sozialen Rahmenbedingungen und strukturellen Vorgaben der Institution, die den Inhalt der Quellen bestimmten.

Die Briefe des schweizerischen Naturforsches Conrad Gesner (1516-1565) beschrieb CANDICE DELISLE (London) als Instrument der Selbstinszenierung nach den Normen und Konventionen einer wissenschaftlichen „Republic of Letters“. Die Umgangsformen innerhalb dieses Netzwerkes bestimmten den Inhalt der Narration. Patienten, die Gesner als Stadtphysikus behandelte, wurden allein durch Beschreibung ihrer Beschwerden charakterisiert; im Zentrum der Erörterung standen die eigenen heilenden Handlungen und Verordnungen. In einigen Passagen werden feine soziale Unterscheidungen deutlich, beispielsweise, wenn Gesner sehr ausführlich über Kranke aus höheren Ständen berichtet. Das Bemühen um Gender-Distinktion tritt insbesondere hervor, wo Gesner die Leiden seiner Ehefrau als Folgen mangelnder Geduld und fehlenden Gehorsams charakterisiert, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Allein wenn der Briefschreiber über seine eigene Krankheit berichtet, werden Gefühle und Schmerzen detailliert geschildert.

Semper idem wählte der halsstarrige Poet Willem Bilderdijk (1756-1831) zum Lebensmotto. In seinen Briefen, die JORIS VON EIJNATTEN (Amsterdam) nach medizinischen Hinweisen untersucht hat, berichtet der holländische Romantiker über seine, durch einen Unfall und anschließende jahrelange Rekonvaleszenz geprägte Kindheit. Krankheit und Leid späterer Jahre sah Bilderdijk als Legitimation, seine eigene Meinung als geplagtes Individuum mit besonderer Konsequenz zu vertreten.

Ob Krankheit in literarischen Texten sublimiert oder exponiert wird, es sind Worte und Metaphern, die den Betroffen helfen, sich zu ihrem Leiden zu positionieren und von denen sie sich Linderung erhoffen. RUDOLF KÄSER (Aargau), verortete in Analogie zu Luhmann das Individuum als Schnittstelle von Systemen, in der ein Einzelner nie die alleinige Kontrolle über seinen Körper gewinnen könne. Anhand literarischer Verarbeitungen der HIV-Epidemie schilderte Käser den Widerstreit zweier narratologischer Strategien der Bakteriologie; die Hagiographie der Forscher und ihrer Errungenschaften auf der einen und die Reaktion der Betroffenen auf medizinisch legitimierte Repressionen auf der anderen Seite. „Systeme“, konstatierte Käser „benutzen Individuen als Ressourcen und brennen sie ab“. Mit dieser These präsentierte er einen radikalen Ausweg aus einer Misere, die Inhalt aller auf der Tagung gehaltenen Vorträge war; Struktur und Umstände, unter denen die vorgestellten Quellen entstanden, bestimmten ihren Inhalt weit mehr als die in ihnen gesuchten genuinen Krankheitserfahrungen und Reflektionen individueller Kranker.

Michel de Montaignes (1533-1592) Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581 enthält detaillierte Berichte über die bereiste Natur, das Inventar von Hotelzimmern und über einen ungeliebten Reisegenossen, Montaignes Nierenstein. Die Beziehungen zwischen dem Reisenden und seinem Leiden zeigen sich in dem von MARGRET HEALY (Brighton) vorgestellten Tagebuch in einem Wechselspiel aus Reflektionen auf medizinische Literatur seiner Zeit, distanzierte Schilderungen der erlebten Schmerzen und morphologischer Beschreibungen der nach anhaltenden Koliken ausgeschiedenen Steine. Die von Susan Sonntag vertretene Unterscheidung eines privaten, persönlichen Diskurses über Krankheit von einem wissenschaftlichen, öffentlichen und normativen Diskurs, der von dem Körper des Einzelnen von außen Besitz ergreift, wurde anhand dieser Quelle besonders anschaulich diskutiert.

SOFIE VANDAMME (Amsterdam) stellte zusammen, in wie weit sich die drei Romane Lambert, (Balzac 1832), Madame Bovary (Flaubert 1857) und Thérèse Raquin (Zola 1867) Strategien medizinischer Fallgeschichten bedienten, und welche Bedeutung diese wissenschaftlichen Rekurse für ihre Rezeption erhielten. Sie konnte nachweisen, daß sich bis in die jüngste Zeit medizinisch-wissenschaftliche Definitionen psychiatrischer Krankheiten an der von Flaubert prototypisch angelegten Romanfigur Emma Bovary orientieren. Die "Gültigkeit" der literarischen Pathographien für ihre Leser resultiert vor allem aus der Konfrontation innerer Gefühlswelten der Protagonisten mit medikalen Rekursen und mit Reaktionen der Gesellschaft. Gerade dies scheint die drei fiktionalen Romane zu idealen Quellen der Sozialgeschichte psychiatrischer Leiden zu machen.

Impotenz spielte in katholischen Ehescheidungsverfahren des 17. und 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. ERIK RÜNDAL (Stuttgart) beschrieb, wie die impotentia coeundi in wissenschaftlichen Gutachten geprüft und beurteilt wurde. Er zeigte, wie Männer eine körperliche Eigenschaft als Beweismittel zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzten. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Impotenz zu einem Problem für die männliche Ehre. Der Sachverhalt wurde nun weniger freimütig in Argumentationsstrategien vor kirchlichen Gerichten eingesetzt.

BERTRAND TAITHE (Manchester) diagnostizierte einen epistemologischen Wandel in der Beschreibung menschlichen Leids. Henri Dunant (1828-1910) habe bei der Konzeption eines staatenübergreifenden Humaritarismus neue Formen der Berichterstattung über Katastrophen und Kriege finden müssen, da er exemplarische Schilderungen über den Schmerz einzelner nicht für ausreichend gehalten habe, Betroffenheit zunächst in Empörung und dann in aktives Engagement zu verwandeln.

Der abschließende Beitrag der Tagung befaßte sich mit Patientenberichten aus Erster Hand. MICHIEL LOUTER (Weesp) befragte ehemalige Insassen psychiatrischer Kliniken und erhielt beeindruckende Berichte über den Anstaltsalltag und bedrückende Zeugnisse über die Erprobung invasiver Therapieversuche mit Elektroschocks und Noxen. Louter verfolgte die Leitlinie, in seinen Interviews nicht danach zu fragen, wie es ist „psychisch krank zu sein“ sondern danach, wie der Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt erlebt wurde.

Ein Ziel der Tagung sollte sein, neue Quellen und Forschungsansätze bekannt zu machen und so die Patientenperspektive in der Geschichte der Medizin zu stärken. Doch es zeigte sich, daß alle vorgestellten Quellengattungen eher die Umstände ihrer Entstehung spiegelten, als private, innere Erfahrungen von Krankheiten. So führt die Patientengeschichte als „Geschichte von unten“, zur Sozialgeschichte der Medizin und ihrer Institutionen und der gesellschaftlichen Konventionen im Umgang mit Kranken. Wer jedoch verschiedene Quellen miteinander vergleicht, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten miteinander in Beziehung setzt, wie es auf der Stuttgarter Tagung geschehen ist, erhält einen breiten, oftmals faszinierenden aber auch erschreckenden Blick auf die Alltagsgeschichte der Medizin und des menschlichen Leids.


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