Experten des Krieges nach 1945

Experten des Krieges nach 1945

Organisatoren
Dietmar Süß / Sophia Dafinger / Martin Diebel, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.10.2013 - 01.11.2013
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Von
Anne Bieschke, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg

Militärstrategen, Zivilschützer, Atomforscher: Sie alle sind „Experten des Krieges“ und trugen auf unterschiedliche Weise zur „Verwissenschaftlichung von Politik und Kriegführung“ nach 1945 bei. So lautete die Ausgangsthese des Workshops, den der Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg am 31. Oktober und 1. November 2013 veranstaltete und der Teil eines von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojektes zu den „Kulturen des Krieges im 20. Jahrhunderts“ war. Nach der Begrüßung durch Dietmar Süß stellten die Organisatoren SOPHIA DAFINGER und MARTIN DIEBEL (beide Augsburg) einige Vorüberlegungen zu wichtigen Begriffen des Workshops und zur zeitlichen Einordnung an. So plädierten sie für einen erweiterten Expertenbegriff, bei dem eine der wichtigsten Funktionen der Expertise die Legitimation politischen Handelns ist. Gleichzeitig solle nicht vergessen werden, dass Experten ihren Status kontinuierlich erarbeiten müssten und somit als Produzenten von „konsumierbarem“ Wissen stets auch aktiv ihre Tätigkeitsfelder zu definieren versuchten. Darüber hinaus seien Experten nicht nur Wissenschaftler, sondern all diejenigen politisch-gesellschaftlichen Akteure, die für bestimmte Felder – in diesem Fall für den Krieg – spezifisches Wissen produzieren und bereitstellen würden und damit zugleich den Inhalt und die Form des behandelten Gegenstandes prägen und verändern könnten. Auch der Frage nach der Bedeutung des Begriffes „Krieg“ gingen sie nach. Hierbei sei einerseits der Einfluss des Zweiten Weltkriegs und der Atombombe auf den Kriegsbegriff und das Denken über den Krieg zu beachten. Mit der zeitlichen Einordnung „nach 1945“ im Titel des Workshops wollten die Organisatoren deutlich machen, dass es ihnen nicht nur um eine Betrachtung des Kalten Krieges geht, sondern sie darüber hinaus weitere gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse in den Blick nehmen möchten.

SOPHIA DAFINGER (Augsburg) eröffnete die erste Sektion mit einem Vortrag zur Logik sozialwissenschaftlicher Expertise am Beispiel des United States Strategic Bombing Survey (USSBS). Im Rahmen dieses neuartigen Großforschungsprojekts wurden die Effekte des strategischen Luftkrieges wissenschaftlich evaluiert, um so zum einen Wissen über eine neue Form der Kriegsführung zu gewinnen und zum anderen politische und militärische Interessen zu legitimieren. Dabei wurden komplexe Vorgänge des Luftkrieges vom USSBS soweit schematisiert und technisiert, dass man annahm, einzelne Aspekte aus vergangenen Kriegen auf mögliche zukünftige Kriege übertragen, also aus der Vergangenheit „Lehren“ ziehen zu können. Das Vertrauen in die Expertise des USSBS war groß, was sich an der fast ausschließlich positiven Presse über dessen Arbeit ablesen lässt. Dies und das hohe politische Interesse am Expertenwissen des USSBS führten dazu, dass dieser über Jahrzehnte hinweg die Diskussion über den Luftkrieg beeinflussen konnte, obwohl sich die sozialwissenschaftliche Expertise zu Fragen des Luftkriegs nach 1945 durch die Arbeit von Think Tanks wie der RAND Corporation und anderer agencies differenzierte.

In seinem Vortrag zur „Geschichtslosigkeit der Atomkriegsstrategie“ beschäftigte sich SEBASTIAN HUHNHOLZ (München) mit der Arbeit Herman Kahns, der die sogenannte Spieltheorie auf einen möglichen Atomkrieg anwandte. Seine so entwickelten Thesen zum Kalten Krieg wurden als „Thinking the Unthinkable“ bekannt, da er einer der wenigen war, der sich mit dem „Undenkbaren“, nämlich einem Atomkrieg auseinandersetzte. In seiner Theorie entwickelte Kahn den Atomkrieg als Abfolge wechselseitiger Angriffe und arbeitete immer weitere Eskalationsstufen aus. Da eine reale Umsetzung dieser einzelnen Eskalationsstufen kaum möglich ist und es bei einem totalen Atomkrieg auch keine Möglichkeiten gibt, aus Erfahrungen zu lernen, lässt sich die Arbeit Kahns vor allem als psychologisch motiviert beschreiben. Kahn untersuchte mithilfe seiner Theorien einerseits die Reaktionen des Publikums und versuchte andererseits festzustellen, ob seine Ausführungen zu einem Wandel in der Haltung zum Atomkrieg führten.

CHRISTIANE KULLER (Erfurt), die Kommentatorin dieser Sektion, fasste die wichtigsten Punkte der ersten beiden Vorträge zusammen, indem sie auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede verwies. Dabei wurde deutlich, dass das Nachdenken über konventionelle Kriege nach anderen Mustern ablief als jenes über den Atomkrieg, da es ohne „Erfahrungen“ aus der Vergangenheit auskommen musste. Auch wies sie auf den antidemokratischen Grundton hin, der sich in der wissenschaftlichen Expertise wiederfinde, da die Experten zum Großteil davon überzeugt gewesen seien, dass ihre Ergebnisse rational und somit wertvoller als die politische Meinung seien.

BASTIAN HERBST (Freiburg) ging in seinem Vortrag anhand der „psychologischen Kriegsführung“ der Frage nach, inwieweit in Frankreich und Großbritannien zwischen 1945 und 1958 ein Politisierungsprozess des Militärs in den beiden Staaten konstatiert werden kann. Die „politische Kriegsführung“, vormals Feld diplomatischer, also ziviler Expertise, wurde zunehmend durch das Militär besetzt. Instrument hierfür war die scheinbar wissenschaftlich-objektive und politisch neutrale „psychologische Kriegsführung“. Sowohl das britische als auch vor allem das französische Militär entwickelte somit eine wachsende Expertise für den Bereich der Massenpersuasion und forderte damit den politisch-zivilen Apparat, in diesem Fall die jeweiligen Außenministerien, heraus. Das Militär als Akteur der Verwissenschaftlichung im Bereich der Kriegspropaganda war in beiden Fällen, so Bastian Herbst, nicht frei von Politisierungstendenzen, wobei das französische, das zeigen die Ereignisse um den Algerienkrieg und die Machtübernahme De Gaulles 1958, weitaus anfälliger für einen solchen Vorgang war als das britische Pendant.

JOHANNES PLATZ (Bonn) referierte zu den Expertenkommissionen des evangelischen Militärbischofs Hermann Kunst im Zeitraum von 1957-1967. Platz stellte in seinem Vortrag die Arbeit der politisch-naturwissenschaftlichen und der politologisch-soziologischen evangelischen Studienkommission dar und veranschaulichte, wie diese zur Verwissenschaftlichung der Grundlagen der Militärseelsorge beitrugen. Ziel der Kommissionen war es laut Platz, dem Verhältnis der Militärseelsorge zur noch jungen Bundeswehr eine theoretische Grundlage zu geben, zugleich aber als Korrektiv in der Ausbildung neuer Leitbilder zu fungieren. Die Seelsorge sollte dem Militär mit „kritischer Solidarität und kritischer Sympathie“ gegenüberstehen.

CLAUDIA KEMPER (Hamburg) kommentierte diesen zweiten Teil der Sektion und merkte an, dass sich beide Vorträge mit der Entwicklung des Denkens über militärische Gewalt auseinandersetzten. Bei beiden Referenten sei weiterhin deutlich geworden, dass es nach 1945 zu einer zunehmenden „Entkörperlichung“ des Krieges gekommen sei und psychologische und ethische Aspekte in den Fokus rückten. Als eine Begründung dieser Entwicklung kann die Existenz der Atombombe genannt werden. In diesem Zusammenhang stellte Claudia Kemper auch die Frage nach der Bedeutung des Kalten Krieges als Einflussgröße.

Der öffentliche Abendvortrag von FRANK REICHHERZER (Berlin) mit dem Titel „Kalkulation: Massentod. Krieg, Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert“ setzte sich mit dem „Wehrexperten“ als zentraler Figur des 20. Jahrhunderts auseinander. Während vor dem Ersten Weltkrieg einzig das Militär Krieg „machte“, kam es nach dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich zu einer Entgrenzung des Kriegs. Die Trennlinien zwischen dem Zivilen und dem Militärischen lösten sich zunehmend auf. Der Krieg wurde somit zu einem zentralen Leitbild ziviler Wissensproduktion und Expertise sowie politisch-gesellschaftlichen Handelns. Reichherzer führte für diesen Vorgang den Begriff der „Bellifizierung“ ein, in Abgrenzung zur „Militarisierung“. Der Krieg wurde in der Weimarer Republik auf allen gesellschaftlichen Ebenen zum Thema und die „Wehrwissenschaft“ als Disziplin relevant. Ziel ihrer Vertreter war es, jeden Einzelnen zu einem „Kriegsexperten“ zu machen, der jederzeit mobilisierbar sein sollte. In den 1930er-Jahren fand dann in den USA mit der Abkehr vom Isolationismus eine Art „aufholende Bellifizierung“ statt, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortschritt. Während des Kalten Krieges galt diese „permanent preparedness“ für alle von ihm betroffenen Gesellschaften. Durch diesen Prozess fanden umfangreiche Wissenstransformationen zwischen dem zivilen und dem militärischen Raum statt. So wurden auch aus den „Experten des Krieges“ im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre häufig Sicherheitsexperten, für die der Krieg nur eines von vielen Betätigungsfeldern darstellte – neue Regime von Angst sowie Vorstellungen von Sicherheit spielten hierbei eine zentrale Rolle, wie auch die zweite Sektion des Workshops zeigte.

Den zweiten Tag des Workshops begann GERHARD FÜRMETZ (München) mit einem Vortrag zum Thema Sicherungsverfilmungen im Rahmen des Katastrophenschutzes, bei dem er erläuterte, wie sich zwischen 1955 und 1975 der Kulturgutschutz entwickelte. Seit den 1950er-Jahren wurde überlegt, wie wichtige Archivalien vor der Zerstörung in einem (Atom-)Krieg bewahrt werden könnten. Anfang der 1960er-Jahre begannen schließlich staatliche Stellen, singuläre Archivalien zu verfilmen und die Mikrofilme in Bergwerksstollen zu sichern. Ab den 1990er-Jahren veränderte sich die Bedeutung des Kulturgutschutzes bzw. die Gefahren, vor denen die Archivalien zu schützen waren. Mit dem Ende des Kalten Krieges rückte die Möglichkeit der Zerstörung der Güter durch Krieg immer weiter in den Hintergrund. Der Schutz vor zivilen Katastrophen und terroristischen Akten gewann dagegen zunehmend an Bedeutung.

MARTIN DIEBEL (Augsburg) präsentierte in seinem Vortrag Ergebnisse aus seiner Forschung zur deutschen und britischen Zivilschutzpolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren. In beiden Staaten wurde diese Politik vor allem von den konservativen politischen Kräften forciert. Vergleicht man die Entwicklung, zeigt sich, dass in der Bundesrepublik wesentlich mehr Ausgaben in diesem Bereich getätigt wurden und der Zivilschutz einen höheren Stellenwert hatte. Dies lag zum einen am erfolgreicheren Auftreten der „Zivilschutzexperten“ in der Bundesrepublik, denen es gelang, ihre Expertise im Bereich der Sicherheitspolitik fest zu verankern. Zum anderen spiegelt sich in der unterschiedlichen Wertschätzung des Zivilschutzes ein unterschiedliches Verständnis von „Sicherheit“ in Großbritannien und Deutschland wider. Während es in der Bundesrepublik durch die Zusammenlegung des Zivilschutzes mit dem Katastrophenschutz zu einer „Zivilisierung des Zivilschutzes“ kam, blieben in Großbritannien die beiden Bereiche bis in die Mitte der 1980er-Jahre sowohl politisch als auch terminologisch klar voneinander getrennt.

Über deutsche Ärzte als „Experten des Krieges“ referierte JOCHEN MOLITOR (Köln) in seinem Vortrag zur bundesdeutschen Ärzteschaft und der Katastrophenmedizin. Eines der Hauptziele der katastrophenmedizinischen Arbeitskreise der Bundesärztekammer war es, Strategien zur Legitimierung und Interessenwahrung von Ärzten im Zivil- und Katastrophenschutz zu erarbeiten. Denn die Katastrophenmedizin war nicht unumstritten. Insbesondere der Verein der „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ (IPPNW) kritisierte die sogenannte „abwartende Behandlung“ (ausschließlich Schmerzbehandlung bei Verletzten, die als hoffnungslose Fälle eingestuft wurden) und die Kategorisierung von Verletzten und damit zwei der zentralen Punkte der Katastrophenmedizin. Als ein Beispiel für einen Arzt als „Experte des Krieges“ nannte Molitor Ernst Rebentisch. Wie im Fall vieler Ärzte der Katastrophenmedizin in den 1970er- und 1980er-Jahren speiste sich sein Wissen nicht zuletzt aus seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und muss als hoch problematisch bezeichnet werden.

Diese zweite Sektion kommentierte MICHAEL GUGGENHEIM (London), der erneut darauf hinwies, dass die Expertise, die in den Vorträgen der Sektion beschrieben wurde, eine aus dem Krieg gewonnene war, die Experten also größtenteils aus eigenen Erfahrungen in einem Krieg schöpften. Anknüpfend an den Vortrag von Jochen Molitor regte er zudem an, das Thema bzw. den Begriff „Triage“ (das heißt die Kategorisierung der Verletzten nach der Schwere der Verletzungen), bei dem es sich um einen Kriegsbegriff handelt, noch weiter zu diskutieren.

Vom Titel des Workshops ausgehend problematisierte FLORIAN GREINER (Augsburg) in seinem Schlusswort den Expertenbegriff, der nicht immer deutlich genug die Überschneidungen und Verschiebungen zwischen Wissenschaft, Militär, Politik und Öffentlichkeit berücksichtige. Zudem betonte er, dass der Krieg in den verschiedenen Expertengruppen lediglich als abstrakte Referenzkategorie existiere, jedoch nicht als realpolitischer Tatbestand; die „Geschichte des Militärischen“ entferne sich demnach zunehmend von seinem eigentlichen Problemgegenstand: dem konkret erfahrbaren Krieg. In einem dritten Punkt nahm er die Zäsursetzung „nach 1945“ in den Blick und bestätigte die in der Einführung angesprochene Problematik, den „Kalten Krieg“ als historische Leitlinie zu verwenden. Zum einen verschleiere dieser die Sicht auf Kontinuitäten, die bereits vor 1945 beginnen und sich bis in die heutige Zeit fortschreiben würden. Zum anderen, und das bilde in seinen Augen das Fazit der Veranstaltung, versperre der „Kalte Krieg“ die Wahrnehmung anderer wichtiger historischer Leitbilder, die unabhängig von den Zäsuren des „Kalten Krieges“ wirkmächtig waren, so zum Beispiel die Modernisierung und die Entstehung der sogenannten Risikogesellschaft. Die „Experten des Krieges nach 1945“ würden somit helfen, fernab der üblichen Erzählmuster der Frage nachzugehen, inwieweit das Nachdenken über den Krieg sowie dessen Verwissenschaftlichung das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft, Politik, Staat und Militär in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte und veränderte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch Dietmar Süß (Augsburg)

Einführung durch Sophia Dafinger und Martin Diebel (Augsburg)

1. Sektion: Rationalität des Krieges – Evaluation und Planung militärischer Gewalt

Bastian Herbst (Freiburg): Die Verwissenschaftlichung des Politischen. Psychologische Kriegsführung in Frankreich und Großbritannien, 1945-1958.

Johannes Platz (Bonn): Ein neues Leitbild des Soldaten? Expertenkommissionen des evangelischen Militärbischofs 1957-1967.

Kommentar: Claudia Kemper (Hamburg)

Sophia Dafinger (Augsburg): „Lessons learned“? Das United States Strategic Bombing Survey und die Evaluierung des Luftkriegs nach 1945.

Sebastian Huhnholz (München): Die Geschichtslosigkeit der Atomkriegsstrategie. Herman Kahns spieltheoretisches Bekenntnis zur atomaren Vernichtung.

Kommentar: Christiane Kuller (Erfurt)

Öffentlicher Abendvortrag:
Frank Reichherzer (Berlin): Kalkulation: Massentod. Krieg, Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert.

2. Sektion: Krieg und andere Katastrophen: Zivilschutz in Zeiten atomarer Bedrohung

Gerhard Fürmetz (München): Kulturgutschutz im Atomkrieg? Sicherungsverfilmung im Rahmen des Katastrophenschutzes, 1955-1975.

Martin Diebel (Augsburg): „Protect and Survive”. Staat, Gesellschaft und die Frage nach Sicherheit in Deutschland und Großbritannien, 1976-1986.

Jochen Molitor (Köln): „Das Mögliche für möglichst Viele“: Die bundesdeutsche Ärzteschaft und die Katastrophenmedizin.

Kommentar: Michael Guggenheim (London)


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