Die Transformation der Erinnerung nach 1945. Stadt, Migration und Gedächtnis im europäischen Vergleich

Die Transformation der Erinnerung nach 1945. Stadt, Migration und Gedächtnis im europäischen Vergleich

Organisatoren
K. Erik Franzen, Collegium Carolinum, München / Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität; Martin Pekár, Lehrstuhl für Geschichte, Pavol-Jozef-Šafárik-Universität Košice
Ort
Košice
Land
Slovakia
Vom - Bis
14.10.2013 - 15.10.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Fabian Steiner, Historisches Seminar, Ludwigs-Maximilians-Universität München

Zusammen mit dem französischen Marseille wurde das slowakische Košice, unweit der östlichen Grenze des Schengen-Raumes gelegen, zu Europas Kulturhauptstadt 2013 gewählt. Auf den ersten Blick verbindet die jeweils zweitgrößten Städte der Slowakei bzw. Frankreichs nur wenig – abgesehen vielleicht von jüngsten Negativschlagzeilen zur Situation der Roma. Anders als die Sehenswürdigkeiten der mediterranen Hafenstadt sind die kulturellen Schätze des Zentrums der Ostslowakei selbst für viele Osteuropawissenschaftler Neuland. Vor Ort stolpert man in der liebevoll renovierten Altstadt jedoch bereits bei den ersten Schritten von einem Kulturdenkmal zum nächsten. Gemeinsam erzählen sie verflochtene Geschichten einer alten Stadt, die wir heute multikulturell nennen würden. Ein Teil dessen, was den Reiz der heutigen Stadt Košice ausmacht, liegt gerade in dem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Kulturen und verschiedenster Identitätsangebote verborgen, die heute grob den Bevölkerungsgruppen der Slowaken, Juden, Deutschen, Ungarn und Roma zugeordnet werden. Ihren Niederschlag fanden die im Laufe der Jahrhunderte wechselnden und sich gegenseitig überlappenden Identitäten der Bürgerschaft Košices nicht nur in der Architektur der Stadt.

Mit dieser (vergangenen) Vielfalt, auf der auch die Selbstdarstellung als Kulturhauptstadt beruht, bietet sich Košice geradezu als Ort für die Auseinandersetzung mit Städten als Kristallisationsräumen von Migration an. Vom 14.-15. Oktober 2013 luden K. Erik Franzen im Namen des Münchner Collegium Carolinum und des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität und Martin Pekár im Namen des Lehrstuhls für Geschichte der Pavol-Jozef-Šafárik-Universität Košice zu dem zweitägigen internationalen Workshop „Die Transformation der Erinnerung nach 1945. Stadt, Migration und Gedächtnis im europäischen Vergleich“. Als Auftaktveranstaltung eines Forschungsprojekts des Collegium Carolinum, das Erinnerungsgeschichte und Migrationsgeschichte zusammenbringt, hatte die Konferenz das Ziel, Fragen zur Prägung des Gedächtnisses von Kommunen durch Migration mit Blick auf beteiligte Akteure und Erinnerungskonkurrenzen interdisziplinär zu diskutieren.

Im Eröffnungsvortrag setzte ALEXANDRA KLEI (Berlin) Architektur und Erinnerung/Gedächtnis am Beispiel von KZ-Gedenkstätten in Beziehung und bot eine theoretische Basis für weitere Reflexionen. Ihr Vortrag ging von einem Verständnis von Architektur als Medium von kulturellem Gedächtnis aus, das über den materiell geschaffenen Raum hinausgeht. Dabei standen bei Klei nicht Diskurse zur Errichtung dieser Räume und Intentionen der beteiligten Akteure im Fokus, sondern Sinnkonstruktionen, die in die materielle Gestalt eingebunden und somit vor Ort erfahrbar sind. Denn, so Klei, anders als Text ermögliche Architektur eine authentische Erfahrung konstruierter Bedeutungen, die jedoch leicht als historische Erfahrungen missverstanden werden könne.

K. ERIK FRANZEN (München) gab einen Einblick in sein Forschungsprojekt zu den Erinnerungsprozessen in Hoyerswerda. Mit einem akteurszentrierten Ansatz spürte er in seinem Vortrag lokaler Präsenz, Aushandlung und Wandel von Erinnerungen nach, die er an zwei großen Zäsuren festmachte: der Entwicklung nach 1945 und dem Wandel zur sozialistischen Wohnstadt in den 1950er- und 1960er-Jahren einerseits und andererseits dem Schrumpfen der Stadt nach 1989, als Hoyerswerda auch zum Synonym für ausländerfeindliche Ausschreitungen wurde. Franzen argumentierte gegen die verbreitete Vorstellung, Bevölkerungsverlust ziehe automatisch auch den Rückgang bürgerschaftlicher Initiativen nach sich. In Hoyerswerda finde gerade seit der Wende eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Geschichtskultur statt – und das mit einem deutlichen Bemühen, das um ein positives Image der Stadt bemühte offizielle Gedenken zu kontrastieren. Seine Ausgangsfrage danach, welche Spuren der Weltkrieg, die Zwangsmigration, mitgebrachte Heimatbilder, die sozialistische Zukunftsvision und schließlich die Nachwendezeit im Stadtgedächtnis hinterlassen haben, beantwortete Franzen mit der Beschreibung Hoyerswerdas als einer Stadt nicht ohne Geschichte, aber ohne (institutionalisiertes) Geschichtsbewusstsein.

Von einem ähnlichen Befund ging EVA KÜBLER (Saarbrücken) für Straßburg aus. Den Erinnerungen an die Evakuierung der Zivilbevölkerung im deutsch-französischen Grenzbereich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges näherte sie sich als „Geschichte zweiten Grades“. Es ging ihr also weniger um die Spannungen zwischen Evakuierten und Alteingesessenen, als darum, zu analysieren, wie die Erinnerung an diese Konflikte in späteren Auseinandersetzungen argumentativ eingesetzt wurde und welche Konkurrenzen dadurch zur dominanten lokalen Erinnerung wie zu gesamtstaatlichen Narrativen über die frühe Nachkriegszeit entstanden.

Lokale Aushandlung von Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in einem Grenzgebiet und ihre zweckgerichtete Deutung durch unterschiedliche Akteure waren auch das Thema von KARINA HOŘENÍ (Brno), die ihre Fallstudie über das Gedenken an Ferdinand Porsche im tschechischen Liberec vorstellte. Sie konnte zeigen, dass das Spannungsverhältnis zwischen lokaler Erinnerung und der großen nationalen Erzählung hier noch stärker ist als im Fall der „vergessenen“ Erinnerung an die elsässischen Evakuierungen zu Kriegsbeginn. Dass der Autokonzern Porsche in Liberec heute als Mäzen des örtlichen Museums auftritt, beschrieb sie als beredtes Beispiel für eine Nutzung lokaler Erinnerungskultur für geschäftliche Interessen.

Ebenfalls im böhmischen Grenzland liegt die Stadt Ústí nad Labem, deren Beneš-Brücke als Symbol für das „Massaker von Aussig“ während der „wilden Vertreibung“ der deutschen Bevölkerung Bekanntheit erlangte. FRAUKE WETZEL (Dresden) widmete sich der lokalen Erinnerungskultur nach 1989 und zeichnete ein differenziertes Bild des Umgangs der Stadt und ihrer Bewohner mit der Erinnerung an das Ereignis sowie ihrer Zusammenarbeit mit deutschen Gruppen, ihren Anliegen und Forderungen und nicht zuletzt der Öffentlichkeit in beiden Ländern. Interessanterweise wurde die Brücke in den letzten Jahren von der jungen Generation „zurückerobert“, die sie für Kunsthappenings nutzt. Manche dieser Aktionen thematisieren die Vergangenheit, doch entziehen sie sich den alten dichotomen Deutungen und politischen Instrumentalisierungen. Andere präsentieren die Brücke als Symbol der Stadt ohne Anspielung auf ihre Geschichte.

JULIANE TOMANN (Berlin) kontrastierte in ihrem Beitrag über die polnische Stadt Katowice die sich in Denkmälern und Architektur manifestierende Stadtgeschichte mit neueren identitätsstiftenden Narrativen. Das polnische Narrativ basiert großenteils auf einer national-polnischen Erzählung mit den Aufständen in Oberschlesien kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, der anschließenden Abtretung des Gebietes um Katowice und schließlich dem Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland als Kerninhalten. Neue Identitätsangebote hingegen beinhalten den Versuch einer Neuinterpretation der ehemaligen „sozialistischen Industriestadt“, die nicht zuletzt durch die Bewerbung um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2016“ eng mit dem Label als „Gartenstadt“ verknüpft ist und mit dem polnisch-nationalen Narrativ bricht.

ULRIKE LANG (Łódź) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Frage nach einem Wandel der lokalen Erinnerungskultur in Łódź, der sie anhand des „Museums der Unabhängigkeitstraditionen“ nachging. Sie konstatierte, dass trotz der Umbenennung des Museums 1990 die durch die Wende angestoßenen inhaltlichen Veränderungen überschaubar geblieben seien. Allerdings zeichne sich in jüngster Zeit eine Tendenz zur Selbstverortung im internationalen Holocaust-Diskurs ab. Besonders was die Vermengung von Identitätsbildung und gezielter Außendarstellung angeht, wurden in der anschließenden Diskussion die Ähnlichkeiten mit dem Beispiel Katowices betont.

Mit der Erinnerung an die Befreiung Westböhmens durch die US-Armee 1945 nahm sich auch DARINA MAJERNIKOVA (München) der Interaktion zwischen lokalen und übergeordneten geschichtskulturellen Diskursen und Praktiken an, die sie im Kontext politischer Machtaushandlung interpretierte. Die Erinnerung an die amerikanische militärische Präsenz, die unmittelbar nach Kriegsende noch offiziell gepflegt worden war, wurde nach der kommunistischen Machtergreifung vom Februar 1948 gezielt verdrängt. Der Erfolg der unterschiedlichen Strategien, diesen Teil der Geschichte zu tabuisieren und umzudeuten, der damit einherging, auch Deutungshoheit in der lokalen Erinnerungspolitik zu erringen, scheint aber gering gewesen zu sein. Davon zeugte, so Majernikova, etwa das Aufleben des Gedenkens an die Amerikaner im Jahr 1968.

NICOLE HORÁKOVÁ (Ostrava) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit ehemaligen Bergarbeiterkolonien in Ostrava, die heute mehrheitlich von Roma bewohnt werden und als soziale Brennpunkte gelten. Horáková zeichnete den Zu- und Wegzug mehrerer Generationen von Koloniebewohnern in der Langzeitperspektive nach und kontrastierte diese Entwicklung mit Erinnerungen an die Blütezeit der Siedlungen und das Zusammenleben ihrer Bewohner.

KATALIN DEME (Århus) steuerte den einzigen komparativ angelegten Beitrag zu der Tagung bei und untersuchte das Engagement von zivilgesellschaftlichen, kommunalen sowie staatlichen Akteuren für Holocaust-Denkmäler in Budapest, Prag und Bratislava, die nach 1989 errichtet wurden. Als Gemeinsamkeit, die alle drei Städte verbindet, beschrieb sie die wichtige Rolle von privaten, meist jüdischen Akteuren, deren Projekte erst mit einiger Verzögerung von kommunalen oder nationalen Instanzen aufgenommen und dann von diesen mitunter vereinnahmt wurden. Unterschiedlich entwickelt habe sich indessen die Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren und auch die Themen, die zu Konflikten zwischen ihnen führten, seien andere gewesen: Während in Budapest parteipolitische Interessen eine große Rolle gespielt hätten, habe sich in Bratislava am Bild der 1939 entstandenen Slowakischen Republik und dem fehlenden Lokalbezug Streit entzündet.

BARBORA SPALOVÁ (Prag) zeigte mit ihrem Beitrag zum böhmischen Nový Bor, wie ein Gedenkstein eine ganze Kommune spalten kann. Zum Gedenken an die Tötung mehrerer Deutscher kurz nach Kriegsende durch tschechoslowakische Militärs errichtet, steht er in den Augen der Befürworter als Erinnerung an die Ermordung unschuldiger Zivilisten. Die Gegenseite sieht die Vorkommnisse als Exekutionen von NS-Kollaborateuren und prangert das Gedenken als revisionistische Geschichtsfälschung an. In der äußerst emotional ausgetragenen Debatte wird die Sichtweise der jeweils anderen Gruppe als durch die Familienvergangenheit bestimmt dargestellt, ihr also jegliche Objektivität abgesprochen.

Von verhärteten Fronten und den Problemen, die die Arbeit mit Zeitzeugen mit sich bringt, ging auch PAUL BAUER (Prag) aus, der über Dynamiken im Diskurs über die „deutsche“ Vergangenheit der böhmischen Länder sprach. Er präsentierte mit der Initiative „Antikomplex“ einen Akteur, der neue Narrative in die festgefahrenen Auseinandersetzungen über die Vertreibung der Sudetendeutschen einbringen möchte. Das Konzept der Ausstellungen von „Antikomplex“ beruht darauf, historische Aufnahmen von Orten und Landschaften mit aktuellen Fotos zu kontrastieren und so den kulturellen Verlust, den das Land durch die Aussiedlung der Deutschen erlitten hat, sichtbar zu machen. Einen Anspruch auf Objektivität erhebt „Antikomplex“ mit seinen kontinuierlich weiterentwickelten Ausstellungen nicht.

In seinem abschließenden Impulsstatement griff MILOŠ ŘEZNÍK (Chemnitz) die gegenwärtige Geschichtskultur als impliziten Schwerpunkt des Workshops heraus. Er konstatierte einen signifikanten Wandel in der Geschichtsaufarbeitung und der gezielten Geschichtsnutzung seit 1989, wobei sich ein breites Spektrum von Akteuren mit unterschiedlichen Beweggründen an der Aushandlung lokaler Erinnerung und ihrer Verortung in übergeordneten Narrativen beteilige. Die Beschäftigung mit Städten als Orten der Erinnerung bezeichnete Řezník als insofern besonders fruchtbar, als sich hier Narrative finden lassen, die in der nationalgeschichtlichen Sicht als unwichtig erscheinen und daher meist vernachlässigt werden. Ein gutes Beispiel für das Potential, das die Beschäftigung mit Stadterinnerung biete, sei der tschechische und slowakische Umgang mit dem Holocaust. Der lokale Zugang ermögliche hier eine konkrete Aneignung zuvor lediglich abstrakt diskutierter Geschichte. Řezník schloss mit der Feststellung, dass historische Themen besonders durch die Sinnkonstruktion zukunftsbezogener Projekte diskursiv relevant werden: Je mehr wir über Zukunft nachdenken, desto mehr brauchen wir Geschichte.

K. Erik Franzens Charakterisierung von Städten als Orten permanenter hochverdichteter Migrationsprozesse wurde in der Schlussdiskussion noch einmal als überlegenswerter Hintergrund für die Analyse von Migrations- und Erinnerungsgeschichte bezeichnet. Gerade die untrennbar mit Migration verknüpfte Frage nach Integrationsprozessen und ihrem Beitrag zum Wandel von Erinnerung lasse sich in Städten gut nachvollziehen. Die Stadt Košice selbst bot als Tagungsort ein Musterbeispiel dafür, wie Stadtgeschichte vielschichtigen Vergangenheiten diskursiven Raum geben und damit einen Kontrast zu den weißen Flecken im nationalen Geschichtskanon bieten kann.

Konferenzübersicht:

Alexandra Klei (Berlin): Erinnerung, Gedächtnis, Architektur. Methodische und theoretische Überlegungen

K. Erik Franzen (München): Erinnern in der „dritten Stadt“. Von der Geschichtsfindung in der ehemaligen „2. Sozialistischen Wohnstadt“ Hoyerswerda nach 1989

Eva Kübler (Saarbrücken): Die Evakuierungen im deutsch‐französischen Grenzraum während des Zweiten Weltkriegs in ihrer erinnerungsgeschichtlichen Dimension nach 1945

Karina Hoření (Brno): Conflicting Memories in a Border Region of the Czech Republic: The City of Liberec

Frauke Wetzel (Dresden): „Brücke der Versöhnung“? Annäherung, Konflikt und Kontinuität. Erinnerungskultur nach 1989 in einer nordböhmischen Stadt

Juliane Tomann (Berlin): Von der sozialistischen Industriemetropole zur Gartenstadt? Die Neuinszenierung öffentlicher Geschichte im oberschlesischen Katowice nach 1989

Ulrike Lang (Łódź): Der Wandel der Erinnerungskultur in Łódź 1959‐2010 am Beispiel des „Museums der Unabhängigkeitstraditionen“

Darina Majernikova (München): Befreiung oder Okkupation? Erinnerung an die US‐Armee in Westböhmen in der sozialistischen Tschechoslowakei

Nicole Horáková (Ostrava): Bergarbeiterkolonien im Wandel der Zeit: Erinnerungsstücke an „alte Zeiten“ in heutigen sozialen Brennpunkten?

Katalin Deme (Århus): Memorial Encounters with the Holocaust within the State and the Civic Sector in Post‐Socialist Bratislava, Budapest and Prague: Actors, Ideologies, Urban Identities

Barbora Spalová / Paul Bauer (Prag): A „Stone“ in Nový Bor: An Opened Plebiscite About the Collective Memory


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