Milieu. Konzeptionen und Transformationen von Umgebungswissen

Milieu. Konzeptionen und Transformationen von Umgebungswissen

Organisatoren
Christina Wessely, Berlin; Florian Huber, Wien
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2013 - 29.11.2013
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Von
Felix Lüttge, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Georges Canguilhem hat das Milieu einmal eine grundlegende Kategorie modernen Denkens genannt.1 Der Begriff und die Fragen, die in ihm adressiert werden – das Verhältnis vom Lokalen zum Globalen, die Beziehungen des Subjekts zu seiner Umwelt – ziehen sich quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen. Im „Milieu“ kulminiert ein Umgebungswissen, dem sich am 28. und 29. November 2013 eine von Christina Wessely (Berlin) und Florian Huber (Wien) organisierte Tagung am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) gewidmet hat. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Kultur- und Literaturwissenschaft, Wissenschafts- und Medizingeschichte, Architekturtheorie, Medienwissenschaft und Soziologie haben dabei in historischen Zugriffen versucht, dem „terminologischen Wuchern“ (Wessely) des theoretisch unbestimmten Begriffs des Milieus auf die Spur zu kommen.

Dem „Milieu“ ist sich dabei auf doppelte Weise angenähert worden: Es geriet zunächst als Forschungsgegenstand in den Blick, indem nach seinen historischen Ausdifferenzierungen und den Wegen durch die Disziplinen gefragt wurde: Wie stehen die verschiedenen Ausformungen eines Konzeptes – „Umwelt“, „Atmosphäre“, „Lebensraum“, „Lebensbedingungen“, „Ambiente“ – zueinander in Beziehung? Sein Potential, Beziehungen zu stiften sollten ebenso wie seine Grenzen diskutiert werden.

Zugleich sollte jedoch „Milieu“ auch eine Perspektive beschreiben: Hierbei waren materielle, soziologische oder mediale Forschungsumgebungen in den Blick zu nehmen, mithin zu fragen, wie eine mit dem Begriff des Milieus operierende ökologische Wissenschaftsforschung beschaffen sein könnte.

Die Tagungsbeiträge und -diskussionen standen dabei auf dem Fundament zweier in den 1940er-Jahren geschriebenen Texte: Canguilhems „Das Lebendige und sein Milieu“ und der Artikel des Linguisten Leo Spitzer „Milieu and Ambiance: An Essay in Historical Semantics“.2 Diese beiden Texte und die Prägung, die das „Milieu“ durch sie erfahren hat, waren Gegenstand des Vortrags von WOLF FEUERHAHN (Paris). Es sei auffällig, so Feuerhahn, dass in einer Zeit, in der die Verfallsdaten von Forschungsliteratur immer rascher aufeinander folgten, die Beschäftigung mit dem „Milieu“ sich vor allem auf Canguilhems und Spitzers begriffshistorische Studien aus den 1940er-Jahren stützten. „Wie“, lautete entsprechend seine Frage, „wird Sekundärliteratur dauerhaft?“ In seiner Antwort parallelisierte Feuerhahn Spitzers und Canguilhems Kritik an einem deterministischen Milieubegriff, der vor allem auf Hippolyte Taine zurückginge und dem bei Spitzer das „wärmere“ griechische to periéchon, bei Canguilhem ein vitalistischer, von Jakob von Uexküll und Kurt Goldstein übernommener Milieu- bzw. Umweltbegriff entgegengesetzt werde, mit einem Anliegen aktueller Philosophinnen und Philosophen, die sich wie etwa Giorgio Agamben oder Peter Sloterdijk auf Uexküll berufen.3 In den 1940er- wie in den 2000er-Jahren sei die Auseinandersetzung mit dem „Milieu“ immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Determinismus der modernen Wissenschaften. Canguilhem und Spitzer seien sich dabei jedoch dem Erbe Taines bewusst gewesen, aus dem der Determinismus sich speise, während es heute vergessen scheine.

Als Alternative zu dichotomischen Figuren wie dem Gegensatz von Determinismus und Vitalismus betonte CORNELIUS BORCK (Lübeck) die „intrinsische Ambivalenz des Milieubegriffs“. Das Milieu sei einerseits, wie im Fall des milieu intérieur bei Claude Bernard oder der Homöostase Walter B. Cannons eine Figur des Dritten, die zwischen dem Determinierendem und dem Determiniertem vermitteln könne. In ihm komme eine Einheitsperspektive mit Tendenz zur Totalität zum Ausdruck, in dessen normativer Aufladung das Determinierende das zu Schützende werde. Zugleich jedoch äußere sich im „Milieu“ und seiner Fokussierung auf Lokalitäten ein Einspruch gegen das Ganze. Zeitgenossen des Milieus als kulturtheoretische Denkfigur seien heute der Komplize, der Pirat und der Parasit, und somit jeweils Figuren, die auf eine Vervielfältigung der Wirklichkeit zielten. Die im Milieu enthaltene Perspektive der Pluralitäten, die auf Freund-Feind-Unterscheidungen verzichte, sei somit immer auch ein Plädoyer für epistemologische Unordnung.

Einen epistemologischen Blick warf auch KIJAN ESPAHANGIZI (Zürich) auf das Milieu in seinem Vortrag über die Bedeutung der Geschichte moderner Laborforschung für die Genealogie des Umgebungswissens. In einer historischen Perspektive, so Espahangizi, könne die Geschichte des Labors als ein Ort der Moderne als empirisches Fallbeispiel für die Ausdifferenzierung moderner soziotechnischer Umgebungen dienen, während ein epistemologischer Ansatz die Epistemologie der Laborforschung als eine kritische Reflexion heutigen Milieudenkens fungieren könne. Eine dritte lohnende Perspektive sei der genealogisch-wissenshistorische Blick auf das Labor, unter dem es als Beispiel für Umgebungen hervortrete, die in spezifischen historischen Ausformungen selbst Umgebungswissen generierten. Die drei genannten Ansätze liefen in einer Geschichte des Labors zusammen, die in einem Versuch, über Historische Epistemologie und Akteur-Netzwerk-Theorie hinauszugehen, als „Historische Ökologie“ Forschungsumgebungen räumlich statt systematisch denke und so fragen müsse, „ob Wissen nicht immer Umweltwissen ist?“

JOHANNES LEHMANN (Essen) betrachtete in seinem Vortrag über die Rolle der „Umwelt“ in Kunst- und Literaturtheorie um 1800 das Wissen von Milieus als eines von Möglichkeitsbedingungen: Formationen von Umgebungswissen seien immer auch Theorien möglicher Welten. Durch die Einrichtung eines fiktionalen, weil extra-terrestrischen Blicks auf den Menschen in der Welt in Schriften des 18. Jahrhunderts werde die Welt zur Umwelt des Menschen, der wiederum durch den außerweltlichen Blick auf sich selbst zur empirisch-transzendentalen Dublette werde: zur Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis gleichermaßen wie zu ihrem Gegenstand.4 In diesem Blick träten der Mensch sowie alle anderen Organismen nicht als Schöpfungen Gottes vor Augen, sondern als Produkte einer ihnen gemäßen Umwelt. Im Sinne Balzacs, der Georges Cuvier als den größten Dichter des 19. Jahrhunderts bezeichnete, weil der Naturforscher anhand von Fossilien vergangene Umwelten rekonstruierte5, ließe sich, so Lehmann, konstatieren, dass auch mit dem wissenschaftlichen Nachdenken über fremde Umwelten immer eine Fiktionalisierungsleistung verbunden sei.

Konkreten Milieus wendete sich LAURENT STALDER (Zürich) in seinem Vortrag über „Klimatisierte Umwelten“ zu. In Reyner Bahnhams „Architecture of the well-tempered Environment“ von 1969 sei das Milieu architekturtheoretisch bestimmt worden, jedoch fast schon immer Teil architektonischen Denkens gewesen. Stalder zeichnete in seinem Vortrag anhand architekturtheoretischer Werke aus dem 19. Jahrhundert nach, wie das Haus zum Milieu wurde. Über 100 Raumtypen hätten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet und sich dabei in einer Parallelisierung von äußerlichen Dispositiven und Alltagstätigkeiten in ihrer Benutzung etwa nach Tageszeiten, Klassen oder Geschlechtern ausdifferenziert. Vor allem die technischen Dimensionen des Milieus wie Heizungen und Wasserleitungen hätten das Verhältnis von Subjekt und Umwelt umgekehrt: Nicht mehr der Mensch passe sich der Umwelt an, sondern die Umwelt in Form des Hauses an seine Komfortbedürfnisse. Die Quantifizierung der Fluide habe darüber hinaus eine neue Darstellungstechnik in architektonischen Zeichnungen mit sich gebracht: Grundrisse seien ergänzt worden durch Darstellungen dessen, was sich inmitten (au milieu) der Mauern befinde, und Pfeile seien in der Mitte des 19. Jahrhunderts als graphische Mittel aufgekommen, um Bewegungen sowohl klimatischer Elemente wie Luft und Wasser als auch von Menschen sichtbar zu machen. Daran zeige sich schließlich, dass das Milieu architekturhistorisch weniger in Begrifflichkeiten, als in Formen und Zeichnungen Ausdruck findet.

Anhand der Hobo-Studien der Chicago School of Sociology und ihrem Begriff der „Situation“ befasste sich auch ANNA ECHTERHÖLTER (Berlin) mit einem in die Praxis gesetzten Umweltwissen. Der Begriff der Situation sei von William I. Thomas strategisch gegen biologische Raumkonstruktionen in Stellung gebracht worden, habe dabei aber zugleich biologische Konzepte integriert. Im Fokus von Nels Andersons Hobo-Studie über amerikanische Wanderarbeiter, die ihr Autor auch als Humanökologie bezeichnete, stünden sozial Unangepasste – misfits – die sich genau nicht in eine Umwelt einpassen, deren eigene Umwelt aber immer schon medial und infrastrukturell geformt sei, namentlich durch die von Anderson vorgenommene Kopplung des Milieus der Hobos mit der Infrastruktur der amerikanischen Eisenbahn. Die Humanökologie der Chicago School sei eine „Sociologie noir“: eine Geographie theoretischer Räumlichkeiten, in deren Rückgriff auf Ernst Haeckels Ökologie eine Transformation von biologischem Umgebungswissen in der Soziologie zur Anwendung kam.

Über Anwendungsmöglichkeiten des Milieubegriffs in der Soziologie sprach auch MICHAEL VESTER (Hannover). „Milieu“ habe gegenüber den alternativen Konzepten „Klasse“ und „Schicht“ den Vorteil, ein weniger vertikalistisches und weniger ökonomiefokussiertes Erklärungsprinzip der Sozialstrukturanalyse zu sein, in dem auch symbolische Praktiken besser adressiert werden können. Mit Durkheim sei „Milieu“ 1894 zum zentralen Konzept der Soziologie geworden, mit dem praktische Beziehungszusammenhänge, die die grundlegenden Bestandteile des Gesellschaft bilden, analysierbar wurden. Die Begriffe „Klasse“ und „Schicht“ habe Durkheim mit dem „Milieu“ nicht ersetzen, sondern um ein nicht-deterministisches Konzept ergänzen wollen: Hier sind es – im Rahmen der Tagung zum ersten Mal – die Menschen, die das Milieu erschaffen und nicht von ihm hervorgebracht werden.

Einer weiteren Form und Verwendung von Umgebungswissen widmete sich FLORIAN SPRENGER (Lüneburg) in seiner Begriffs- und Problemgeschichte des „environment“, das wissensgeschichtlich von Konzepten wie „Umwelt“ und „Milieu“ zu trennen sei. Zwar besetzten die drei Begriffe die gleiche Systemstelle, füllten sie jedoch unterschiedlich aus: „environment“ werde vom Organismus gedacht, den es umgibt, während „Umwelt“ eine Beobachterposition thematisiere und „Milieu“ eine dezentrale Perspektive beschreibe. Der Begriff des „environment“ erfreue sich in der Gegenwartsphilosophie neuer Beliebtheit, übernehme darin aber eine Jokerposition, weil er verspreche, Probleme allein durch seine Verwendung zu lösen. Der Begriff unterlaufe in seiner gegenwärtigen inklusiven Verwendung die Dichotomie von künstlich-natürlich, verliere jedoch in seinem Anspruch, mehr zu meinen, als man erklären könne, an Evidenz. Weil die eigentlich treibende Kraft hinter der neuen Konjunktur des Begriffs eine „metaphysisches +x“ sei, scheine die Rede vom „environment“ letztlich nicht weniger transzendent als die Konzepte, die sie ersetzen soll.

HELMUT LETHEN (Wien) sprach in einem Bericht von einer Gedenkveranstaltung, die das Berliner Westend-Krankenhaus 2006 zu Gottfried Benns fünfzigstem Todestag veranstaltet hatte, einige begriffliche Nachbarschaften des Milieus an und formulierte damit auch die Aufgabe einer noch zu leistenden Begriffsarbeit. Indem er die ahistorischen Zugänge der Mediziner, die sich Benns Werk als Vertreter des eigenen Denkstils näherten, von historisierenden Projekten der Wissenschaftsgeschichte und poetologischen Studien der Literaturwissenschaft unterschied, fragte Lethen nach den unterschiedlichen Verwandtschafts- und Fremdbeziehungen, die in Heuristiken wie dem „Milieu“, der „Wissenskultur“ oder des „Denkkollektivs“ gestiftet werden können.

Es mögen die beiden Texte aus den 1940er-Jahren von Georges Canguilhem und Leo Spitzer gewesen sein, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am KWI in Essen zusammengebracht haben. In den einzelnen Vorträgen und den geführten Diskussionen wurde jedoch deutlich, dass die Tagung, die sowohl begriffshistorische wie theoretische Grundlagenreflexion über das „Milieu“ leistete als auch mögliche Milieuperspektiven diskutierte, über die kanonischen Texte hinausging. Ökologische Wissenschaftsgeschichten wie sie diese Tagung entworfen hat, müssen noch geschrieben werden. Die Leitfragen nach Herkünften, Grenzen, Spuren, Sichtbarmachungen und Potentialen von Milieus jedoch sind umrissen.

Konferenzübersicht:

Christina Wessely (Berlin): Begrüßung

Kijan Espahangizi (Zürich): Umwelt und Umgebung moderner Laborforschung

Wolf Feuerhahn (Paris): „Milieu“: seine Prägung durch Leo Spitzer und Georges Canguilhem

Cornelius Borck (Lübeck): Streifzüge durch biologische Milieus

Anna Echterhölter (Berlin): Die Auswilderung des Bürgers. Situation und Milieu in den Hobo-Studien der Chicago School of Sociology

Laurent Stalder (Zürich): Klimatisierte Umwelten

Florian Sprenger (Lüneburg): Environments der neuen Ökologie. Über das Unterlaufen von Dualismen

Johannes Lehmann (Essen): Bio-Ästhetik. Zur Rolle der ‚Umwelt‘ in der Kunst- und Literaturtheorie um 1800

Michael Vester (Hannover): Milieu als Konzept der Sozialstrukturanalyse in der Tradition von Durkheim, Marx und Weber

Helmut Lethen (Wien): Dr. Benn. Das Milieu einer „Wissenskultur“ und die „Stimmungskameradschaft“ eines Denkkollektivs

Florian Huber (Wien): Abschlusskommentar

Anmerkungen:
1 Georges Canguilhem, Das Lebendige und sein Milieu, in: ders., Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 233-279, hier S. 233.
2 Leo Spitzer, Milieu and Ambiance: An Essay in Historical Semantics, in: Philosophy and
Phenomenological Research 3 (1942) S. 1-42 und 169-218.
3 Vgl. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt am Main 2002; Sloterdijk, Peter: Sphären I: Blasen, Berlin 1998.
4 Siehe dazu Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1969, S. 384.
5 „Cuvier n’est-il pas le plus grand poète de notre siècle? [...] notre immortel naturaliste a reconstruit des mondes avec des os blanchis [...].“ Honoré de Balzac, La peau de chagrin, in: Ders., La comédie humaine, Bd. X: Études philosophiques, hrsg. v. Pierre-Georges Castex [u.a.], Paris 1979, S. 3-294, hier S. 75.