Digital Humanities – Neue Herausforderungen für den Forschungsplatz Schweiz

Digital Humanities – Neue Herausforderungen für den Forschungsplatz Schweiz

Organisatoren
Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW)
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
28.11.2013 - 29.11.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Marlene Iseli, Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften

Mit rund 160 Teilnehmenden war die Veranstaltung «Digital Humanities – Neue Herausforderungen für den Forschungsplatz Schweiz» gut besucht und die große Spannbreite der mit der Thematik befassten Akteure bestens vertreten.1 Dies kann durchaus als Folge der Konzeption der Tagung verstanden werden, bei der mittels einer Aufteilung in vier inhaltlich unterschiedlich ausgerichtete Sektionen Forschende, verschiedene Nutzergruppen, Forschungsförderung und Hochschulpolitik gleichermaßen angesprochen wurden. Die Bandbreite der Präsentationen kennzeichnete denn auch die Vielfalt der Fragen und Herausforderungen, die sich für den Forschungsplatz Schweiz stellen.

Nachdenken. Digital Humanities (DH): Kein eigentlicher Paradigmenwechsel! Nur eine Additionsform?

Von mindestens drei verschiedenen Referenten wurde er erwähnt, Roberto Busa, der mit seinem 1949 entwickelten Index Thomisticus als Pionier der EDV-gestützten Geisteswissenschaften und damit als Begründer der DH in die Geschichte einging. Dieser mehrfach vorgenommene Rückblick, der in chronologischer Reihenfolge die digitalen Errungenschaften etwa für die Editionswissenschaften (1960er-Jahre – Literary Works in Machine-Readable Forms) oder für die Kunstwissenschaften (1970er/80er-Jahre – Zeit der digitalisierten Bildarchive) thematisierte, unterstrich den normalwissenschaftlichen Charakter der DH, die weder als digital turn noch als abrupter Paradigmenwechsel einzuordnen sind. Exemplarisch für diesen Impuls, mit einem Exkurs in die Geschichte der DH mögliche kulturpessimistische Voten zu relativieren, kann auch das Zitat von Francis Bacon wiedergegeben werden, das den Ausblick eines Referenten im Feld der DH einleitete: “The works touching books are two – first, libraries, which are as the shrines where all the relics of the ancient saints, full of true virtue, and that without delusion or imposture, are preserved and reposed; secondly, new editions of authors, with more correct impressions, more faithful translations, more profitable glosses, more diligent annotations, and the like.”2 Diese bereits 1605 verlautete Conditio sine qua non für die Forschung stelle, so GERHARD LAUER (Göttingen), auch heute noch das Ziel der Normalwissenschaft dar.

Trotz dieser Einordnung in eine Kontinuität der Dinge wurden auf der Tagung zweifellos dringende Fragen aufgeworfen, etwa wie die Digitalisierung den Umgang mit Wissen verändert, welche epistemologischen Konsequenzen daraus resultieren könnten, ob sich neue Denkkollektive abzuzeichnen beginnen oder welche Folge die Externalisierung unseres Denksystems hat. Der Wissenschaftshistoriker MICHAEL HAGNER (Zürich) definierte vier Dispositionen, die einem Wandel unterliegen könnten: Autorschaft (Einzelautor / Netzwerk), Forschungspraktiken (qualitativ / quantitativ), epistemologische Tugenden (narrativ und argumentativ / Rearrangement), Publikationsform (traditionelle Druckformate / Open-Access Publikationsformate).

In der Auseinandersetzung mit verschiedenen laufenden Projekten, bestehenden Forschungsinfrastrukturen und den Bedürfnissen der Forschenden und der Forschungsförderung wurde der zunächst relativierte Paradigmenwechsel auf der Ebene der geisteswissenschaftlichen Forschungsaktivität mitunter aufgrund der in der Schweiz mehrheitlich bottom-up gesteuerten Forschungsförderung thematisiert. ENRICO NATALE, Leiter von http://www.infoclio.ch, stellte in der Podiumsdiskussion die Frage, inwiefern eine zunehmende Unterstützung der DH mit einer vermehrten top-down Haltung der Forschungsförderung einhergehen dürfte. Dieser offen gelassenen Frage ging die Feststellung voraus, dass gerade bei Infrastrukturprojekten (im Gegensatz zu traditionellen Forschungsprojekten) multiple und gar antizipierte Fragestellungen leitend für das Projektziel sein müssen, dass Nachhaltigkeit ein Schlüsselkriterium ist, wodurch sich das Relevanzargument in einer ganz anderen zeitlichen Dimension einordnet, was wiederum eine andersartige Begutachtung der Gesuche bedinge. Betont wurde, dass Langzeitprojekte und Infrastrukturprojekte zwar langfristig gefördert würden, sich aber nicht periodischen Qualitätsüberprüfungen entziehen sollten. Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) stelle zudem ein Konzept in Aussicht, bei dem die spezifische Förderung von Forschungsinfrastrukturen für die Zukunft durchgedacht wird und hat diese Strategieplanung bereits gemeinsam mit dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) eingeleitet.3

Machen. Laufende Projekte – geplante Infrastrukturen: Die pragmatische Seite der DH

An den beiden Tagen wurde eine Reihe von bestehenden DH-Projekten vorgestellt. Am Beispiel von für die Geschichts- und Editionswissenschaften wichtigen Digitalisierungsprojekten zur Erschließung von Beständen, Visualisierung von Faksimiles, Manuskripten, Annotationen, Handschriften – man denke etwa an E-codices 4, Dodis 5, Manuscripta Mediaevalia 6, Sismel7 etc. – wurde deutlich, welch zentrale Rolle die DH in diesem Fachbereich bereits spielen. Bei all diesen DH-Produkten drängt es sich auf, sich vermehrt der Interoperationalität dieser Forschungsinfrastrukturen zuzuwenden. Auf Bestehendem aufzubauen ist daher ein Ziel, die verschiedenen Strukturen zu verbinden und gemeinsame Standards zu definieren sind weitere. Ein Blick ins Ausland zeigte, dass die Schweiz im DH-Bereich noch nicht so weit fortgeschritten ist; sie ist auch noch kein Mitglied der Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities (DARIAH-EU). In diesem Netzwerk stellen die beteiligten Kompetenzzentren ihre vorhandene Expertise nach dem Prinzip der „shared services“ als Ressource für die wissenschaftliche Gemeinschaft zur Verfügung. Ein baldiger Beitritt zu diesem Netzwerk soll geprüft werden.

Auf Schweizer Ebene wurde derweil ein Pilotprojekt gestartet, das unter dem Namen „Daten- und Dienstleistungszentrum für geisteswissenschaftliche Forschungsdaten“(kurz DDZ) 8 läuft und das Ziel verfolgt, eine Plattform für primäre geisteswissenschaftliche Forschungsdaten zu schaffen, welche den Zugang zu diesen Daten sicherstellen kann. Im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation prüft eine Kommission der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) während einer zweijährigen Pilotphase Fragen rund um Urheberrechts- und Nutzungsbestimmungen, Anforderungen an Daten für eine Übernahme, Metadaten und Datenformate, Datenverwendung, IT-Architektur, Linked Data, Kosten etc.

Bilanz der Tagung: DH sind mehr als eine Additionsform

Aspekte der DH wie data mining, Visualisierung von Forschung, computer-basierte Designs, große Infrastrukturen, Netzwerkaktivitäten wurden beleuchtet, die Konzepte der Nachhaltigkeit, Dauerhaftigkeit, Demokratisierung, Forschungsverbünde und Interoperationalität zeigten die Interessen und Ziele der DH auf. Dabei braucht es längerfristig gemeinsame Standards, dynamische Korpora, nachhaltige Infrastrukturen. Eine weitere Grundvoraussetzung dabei ist, so Gerhard Lauer, die Bereitschaft, Neues zu lernen.

Alles in allem schien Konsens zu herrschen: Die DH bieten wertvolle Möglichkeiten zur Optimierung der Forschungsvoraussetzungen, ersetzen jedoch weder ein close reading im Sinne von etablierten hermeneutischen Forschungszugängen, noch dürften sie den Ausgangspunkt für eine Bildungsrevolution darstellen. Sie sind eher Mehrwert als Ersatz, Erweiterung der Forschungsgegenstände statt befürchteter Reduktion der Komplexität, gewachsen mit und aus den technologischen Errungenschaften, die die Gesellschaft in wohl sämtlichen Bereichen ihrer Praxis geprägt haben. Auch die Geisteswissenschaften kommen nicht mehr nur mit einem Bleistift, Block und einem funktionierenden Hirn aus – obwohl dies nach wie vor zentrale Gegenstände der Wissenschaft bleiben. Selbstverständlich bleibt dabei die wohl wichtigste Grundregel der Mensch-Maschinen-Interaktion zu befolgen: Nicht der Mensch passt sich den Maschinen an, sondern die Maschinen dem Menschen.

Konferenzübersicht:

Begrüssung, Heinz Gutscher (Präsident SAGW)

Vor und nach den Digital Humanities. Eine Übersicht, Michael Hagner, Zürich

Teil I: Präsentationen schweizerischer DH-Projekte

Kurzpräsentationen von laufenden DH-Projekten
Weitere Informationen unter http://dh13.sagw.ch/de/dh13/poster/kurz-poster.html

Posterpräsentation
Weitere Informationen unter http://dh13.sagw.ch/de/dh13/poster/poster.html

Teil II: Welche Auswirkungen hat der digitale Wandel in Forschung und Lehre auf ...

... die Sprach- und Literaturwissenschaften, Martin Volk, Zürich

...die Editionswissenschaften, Claire Clivaz, Lausanne und Michael Stolz, Bern

...die Geschichtswissenschaften, Corinne Pernet, St. Gallen

...die Kunstgeschichte, Margarete Pratschke, Zürich

Podiumsdiskussion: Reaktionen geisteswissenschaftlicher Disziplinen auf die Herausforderungen des digitalen Wandels in Forschung und Lehre: Gemeinsamkeiten und Differenzen

Teil III: Internationale Trends (Bedürfnisse der Fachgemeinschaften, Forschungsförderung, Infrastrukturen)

Europäische Trends I: EU-Raum, Gerhard Lauer, Göttingen

Europäische Trends II: COST / SISMEL, Agostino Paravicini Bagliani,

Europäische Trends III: DARIAH, Tobias Blanke

Teil IV: Nationale Herausforderungen (Bedürfnisse der Fachgemeinschaften, Forschungsförderung, Infrastrukturen)

Das Studienangebot für Digital Humanities in der Schweiz – ein Überblick, Enrico Natale, infoclio.ch

Der Beitrag der SAGW, Walter Leimgruber, SAGW

Der Beitrag der Universitäten, Guido Vergauwen, CRUS

Der Beitrag der Forschungsförderung, Ingrid Kissling-Näf, SNF

Der Beitrag des Bundes im Rahmen der BFI-Botschaften, Katharina Eggenberger, SBFI

Infrastrukturen und Finanzierungsmodelle im Vergleich: USA-Schweiz, Stefan Andreas Keller (Dekanat Philosophische Fakultät, E-Learning-Koordination, Zürich)

Podiumsdiskussion: Welche Förderinstrumente für Digital Humanities braucht die Schweizer geisteswissenschaftliche Fachgemeinschaft?

Abschluss der Tagung, Markus Zürcher, Generalsekretär SAGW

Anmerkungen
1 Der Bericht wird im SAGW-Bulletin 1/2014 publiziert.
2 Francis Bacon, Advancement of Learning, 1605.
3http://www.sbfi.admin.ch/themen/01367/02040/index.html?lang=de (26.01.2014).
4http://www.e-codices.unifr.ch/de (26.01.2014).
5http://www.dodis.ch/ (26.01.2014).
6http://www.manuscripta-mediaevalia.de (26.01.2014).
7http://www.sismel.it/ (26.01.2014).
8http://www.sagw.ch/de/sagw/laufende-projekte/ddz.html (26.01.2014)
[9] Weitere Infomationen zu den vorgestellten DH-Projekten und Forschungsinfrastrukturen, Posters und Hintergründe der Veranstaltung unter: http://dh13.sagw.ch/dh13 (26.01.2014).


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