„Gott handhaben – Le Dieu Maniable – Managing God“. Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung

„Gott handhaben – Le Dieu Maniable – Managing God“. Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung

Organisatoren
Graduiertenkolleg 1662/1 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800-1800)“ der Eberhard Karls Universität Tübingen; Centre d’Etudes et de Recherche en Histoire Culturelle (CERHIC-EA 2616, Reims); Université de Reims Champagne Ardenne; Institut Historique Allemand de Paris; Institut Universitaire de France
Ort
Reims
Land
France
Vom - Bis
16.09.2013 - 18.09.2013
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Von
Florian Bock, GrK 1662 "Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800-1800)", Eberhard Karls Universität Tübingen; Annette Gerok-Reiter, Deutsches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen; Andreas Holzem, Katholisch-Theologische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen

Versuche, Gott „handhabbar“ zu machen, bergen ein besonderes Konfliktpotential, beruhen sie doch stets auf dem Gegensatz zwischen „Verzauberung“ und „Entzauberung“ der Welt. Diesem Grundkonflikt wollte eine internationale Tagung in Reims nachspüren, um den vormodernen Wegen zur modernen Wissensgesellschaft näher zu kommen. In den Mittelpunkt der Keynote von INGRID KASTEN (Berlin) rückte die Kategorie des Opfers, die nach einer These des Londoner Romanisten Simon Gaunt in der Figur des mittelalterlichen Minnemärtyrers ihren charakteristischen Ausdruck fand: Hier verbindet sich die Vorstellung des Todes aus unerfülltem Begehren mit der Lust am Opfer und der Lust am Leiden. Indem der Liebende zum Märtyrer wird und sein Leben durch Verzicht und Askese der Liebe zum Opfer bringt, ist er der ethisch Überlegene: Eine solche Ethik des Begehrens versteht Erlösung nicht mehr religiös, sondern als leidenschaftliche körperliche Bindung an einen anderen Menschen. Damit ist nach Gaunt die Grundlage für die Entstehung moderner Auffassungen von Subjektivität, Sexualität und Ethik gelegt. Trotz einiger Kritikpunkte (Heterogenität der theoretischen, allesamt postmodernen Ansätze, unscharfe Definition des Opfers, durchweg männliche Konzeption des Minnemärtyrers) kommt Gaunt dabei nach Kasten das Verdienst zu, im Minnemärtyrer Ansätze einer säkularen Ethik erkannt zu haben, die allerdings stark mit religiösen Sinndimensionen verschränkt sind.

Mit dem gemeinsamen Vortrag von STEFFEN PATZOLD und JÖRN STAECKER (beide Tübingen) wurde das erste Panel eröffnet. Patzold betonte die große, dramatische Züge annehmende Dynamik in der Geschichte des Karolingers Ludwig des Frommen und seinem Versuch, Gottes Gnade den Menschen im Frankenreich verfügbar zu machen. Dies geschah zum einen durch die Differenzierung von menschlichen Zugriffsrechten auf das Sakrale. Zum anderen ist das Bemühen Ludwigs in den 820er-Jahren zu nennen, gemeinsam mit den Eliten des Reiches angesichts immer neuer Katastrophen eine Theorie kollektiver Verantwortlichkeit zu kreieren, welche jedoch in einer dichten Folge von Aufständen und Konflikten endete. Der Archäologe Staecker fokussierte in seiner Analyse mittelalterliche Grabplatten der Insel Gotland und Mittelschwedens, die zum Gedenken an Priester in ländlichen bzw. klösterlichen Kirchen errichtet wurden. Trotz einer eindeutigen Standardisierung in Bezug auf Formgebung, Motivwahl und Inschrift weisen die Grabplatten eine hohe Abweichung voneinander auf, die sich nicht durch unterschiedliche Handwerkerschulen bzw. zeitgenössische Stile erklären lassen. Das Milieu (Stadt – Land – Kloster) war entscheidend für die Wahl bestimmter Motive und Inschriften, wobei sich innovative und konservative Elemente abwechselten.

Der Theologe und Reformationshistoriker VOLKER LEPPIN (Tübingen) sprach sich gegen ein Reformationsbild aus, das für einen tiefen Einschnitt im Verständnis des Pfarramtes steht; eher waren für die Professionalisierung des Pfarrers die Differenzen zwischen Stand und Land entscheidend. Ziel war es aber auch hier nicht, den akademisch umfassend studierten Pfarrer durchzusetzen, sondern vielmehr galt ein immer stärker normiertes Rechtgläubigkeitsexamen als Maßstab. Im Zuge des 16. Jahrhunderts kam es so zu einer stärkeren Verschmelzung von Weihe / Ordination einer- und theologischer Ausbildung andererseits. Der Umstand, dass das landesherrliche Kirchenregiment kirchliche und politische Gewalt in der Hand der weltlichen Herrschaft vereinigte, verstärkte dessen Möglichkeit zur Umsetzung normativer Forderungen durch die Bindung der Ordination an Wittenberg. Allerdings stieß die Durchsetzung auf die Grenzen des Patronatsrechts.

DOMINIK SIEBER (Tübingen) beschrieb vor der Folie der oberdeutsch-schweizerischen Reformation ein bislang wenig beachtetes und kaum erforschtes reformatorisches Aktionsfeld. Charakteristisch für die Friedhofskultur der oberschwäbischen Reichsstädte war demnach die tendenzielle Zurückhaltung gegenüber Grabmonumenten und weiteren Elementen sepulkraler Ausstattung. Erst das Interim und dann der Augsburger Religionsfrieden scheint dem sepulkralen Minimalismus sukzessive ein Ende gesetzt zu haben. Reminiszenzen dieser Entwicklung blieben freilich noch bis ins 17. Jhd. erhalten: So blieben etwa Grabkreuze auf katholischer Seite ein Zeichen konfessioneller Distinktion und konnten Anstoß zum Konflikt mit reformiert-protestantischen Wissensbeständen z.B. über den Tod werden. Das Schlusswort des ersten Panels hatte KRISTINA JONSSON (Stockholm). Die Archäologin nahm Bestattungsbräuche in Skandinavien vom Mittelalter bis in die nachreformatorische Zeit in den Blick. Dabei konnten sich religiöse Rituale und Bräuche oft über tausende von Jahren am Leben halten. Was sich jedoch verändert hat, ist die Möglichkeit der öffentlichen Praxis solcher Rituale. Das Weihen der Erde, das Fegefeuer etc. wurde durch die Reformation abgeschafft, was die Angehörigen häufig zu einer neuen, adaptierten Interpretation frühmittelalterlicher Bestattungsritten zwang: Die Toten wurden bspw. wieder in Särgen und nicht mehr in Leichentüchern begraben.

Im zweiten Panel referierte CHARLES MÉRIAUX (Lille) über den hagiographischen Diskurs bei karolingischen Landpfarrern. Durch Heiligenverzeichnisse des 9. Jahrhunderts, wie sie in besonderer Ausprägung in der Diözese Le Mans aufzufinden sind, lässt sich eine priesterliche Tendenz verorten, stärker das Charisma als die kirchliche Hierarchie zu betonen. Thematisch knüpfte CARINE VAN RHIJN (Utrecht) an die karolingische Landgeistlichkeit an und beschäftigte sich mit dem religiösen Wissen dieser Gruppe, das im Verlauf des 9. Jahrhunderts immer stärker durch so genannte „bischöfliche Statuten“ bestimmt wurde: Sie enthielten detaillierte und praktische Anweisungen als Anleitung für die Priester vor Ort, variierten in den einzelnen Regionen aber sehr stark. Nur einige wenige Elemente, wie die Betonung eines rechtgläubigen Verständnisses der Trinität, lassen sich als allgemeingültig charakterisieren – was für die These Peter Browns spricht, stärker von lokalen „Mikro-Christentümern“ zu sprechen. BEAT KÜMIN (Warwick) akzentuierte weniger die Priester als vielmehr die Laien, wenn er, ausgehend von der laikalen Selbstbehauptung des 13. Jahrhunderts, am Beispiel der „Mikrorepublik“ des schweizerischen Gersau Formen eines „kommunalen Katholizismus“ vorstellte.

DANIELA BLUM (Tübingen) untersuchte Priester, Prediger und Mönche als konkurrierende Experten im Speyer der 1570er-Jahre. Anhand von drei Fallbeispielen (reformierte Geistliche, evangelische Prediger, Dominikaner) konnte sie die Ausdifferenzierung von Wissensfeldern in religiöses, politisches und rechtliches Wissen aufzeigen. Die Verbindung von Personalisierung und performativer Darstellung von Wissen führten zu einer Intensivierung religiöser Praxis und zu „performativen“ Wahrheitsszenen, wie Gott unterschiedlich handhabbar gemacht werden konnte. Diese Auseinandersetzungen wiederum generierten wichtige soziale und institutionelle Veränderungen. Ihre Kollegin SUSANNE JUNK (Tübingen) sprach über „Gesichte“, die im Lübeck und Stettin des 17. Jahrhunderts eine Kontroverse unter lutherischen Geistlichen auslöste: Wirkte Gott (noch) durch Visionen oder war es der Teufel? Ließen sich (und wenn ja wie?) von Gott gewirkte „Gesichte“ mit Gewissheit erkennen? Dabei verband sich die Kontroverse um den Stellenwert von „Gesichten“ mit der Frage nach dem Expertenstatus der Geistlichen innerhalb ihrer Konfessionskultur. Während die eine Seite die mediale Verbreitung von Druckwerken über göttliche „Gesichte“ für nützlich hielt, bannte sie die andere Seite als Teufelswerk. ANNE-CHARLOTT TREPP (Kassel) zeigte in ihrem Vortrag „Naturwissenschaft und religiöse Erkenntnis: Expertentum zwischen den Disziplinen“ die Relationalität von Kongruenzen und Konflikten von religiösem und Naturwissen am Beispiel der Alchemie auf. Dabei kam es zwischen diesen beiden Wissenssträngen weniger zu Konflikten bezüglich der „Handhabbarkeit Gottes“. Eher entzündeten sich Konflikte z.B. an der vermeidlichen Infragestellung politischer Herrschaft.

Die dritte Sektion wurde von SYLVIE JOYE (Reims) eröffnet. In ihrem Vortrag zur Keuschheit und Sexualität im frühen Mittelalter betonte Joye die verschiedenen Lebensmodelle von Asketismus und ehelicher Moralität, die vor allem im 4. Jahrhundert eine paradoxe Union eingingen: In Erlebnisberichten spätantiker Christen als auch in der frühmittelalterlichen Hagiographie wird von jungfräulich verheirateten Paaren berichtet. Spätestens seit der Karolingerzeit verschwand dieses Phänomen jedoch wieder, da die Verschmelzung der jungfräulichen mit den ehelichen Idealen keinen gesellschaftlichen Konsens mehr fand. RACHEL STONE (London) stellte unter dem programmatischen Titel „Mehr als David und Salomo: Biblische Vorbilder für karolingische Laien“ zumeist alttestamentliche Vergleichsfiguren vor, die die karolingischen Reformer zur laikalen Inspiration offerierten. Die Herausforderung bei der Auswahl der Beispielfiguren (z.B. David, Salomo und Josef im Vergleich mit Karl dem Großen) lag dabei vor allem darin, die sozialen Kategorien der Bibel mit denen des 9. Jahrhunderts abzugleichen. Weitere Problemfelder bestanden etwa in den alttestamentlichen Sexual- und Ehevorstellungen, die in Differenz zu den religiösen Idealen der Karolingerzeit standen.

JANA PACYNA (Tübingen) stellte im Anschluss ihr Forschungsvorhaben zu hochmittelalterlichen Korrespondenznetzwerken am Beispiel der frühen Briefe Anselms von Canterbury (1070-1078) vor. Dabei ging es Pacyna zunächst um Schlüsselbegriffe religiösen Wissens in der Anselmschen Briefsammlung. Die mittels der Netzwerksoftware ORA betriebene Analyse soll aber nicht nur einzelne Termini in den Blick nehmen, sondern im Sinne eines umfassenden semantischen Zugriffs auch die wechselseitige Beeinflussung von sozialer Struktur, Wort (Bedeutung und Bedeutungsverschiebung) sowie Handlungsspielraum untersuchen.

BRIDGET HEAL (St Andrews) sprach im Folgenden über „visual piety in Lutheran Germany“ und konzentrierte sich vor allem auf den Umgang mit dem Marienkult in lutherischen Gebieten Süddeutschlands. Der dortige Darstellungswechsel – Maria nun nicht mehr als mächtige Fürsprecherin der Menschen, sondern als einfache, bescheidene „Hausmutter“ – führte aber nicht zu einer „Defeminisierung“ der Frömmigkeitskultur. Im Gegenteil, eher kann z.B. bei lutherischen Pfarrern von einer Rückkehr zu gefühlvollen, ursprünglich katholischen Präsentationstechniken gesprochen werden.

BRITTA BUSSMANN (Tübingen) akzentuierte die Rolle der Gottesmutter als Advokatin und Fürsprecherin für die Belange der Menschen in der Sequenz Ave, Balsams Creatur (dem sog. Guldein Abc) des Mönchs von Salzburg (vor 1400). Dabei bedient sich der Mönch vor allem des so genannten Interzessionsmotivs, das die seit dem 12. Jahrhundert verbreitete Vorstellung beinhaltet, dass Maria durch das Vorweisen ihrer entblößten Brüste Gerichtssituationen zugunsten der sündigen Menschen beeinflussen kann. Der Mönch von Salzburg weitet dieses Modell sogar noch aus, indem er Maria geradezu die Fähigkeit zur Miterlösung zuspricht. Gleichzeitig tritt dabei die göttliche Instanz zurück und die Passivität des Menschen wird betont. Bußmann analysierte auf Basis der sapientologischen Mariologie und des von Bernd Hamm entwickelten Konzepts der „normativen Zentrierung“ die herausragende Stellung Marias: Ihre Stärke fungiert als Heilsgarantie; in ihr hat man demnach das zentrale Trostangebot der Sequenz zu sehen.

Das vierte Panel wurde durch eine Präsentation PATRICK DEMOUYs (Reims) eröffnet. Demouy, anerkannter Experte für die Stadtgeschichte von Reims, rückte die städtische Kathedrale als exklusiven Krönungsort der französischen Könige in den Mittelpunkt. Grundlage dafür bildete die Taufe, die der fränkische König Chlodwig dort um etwa 500 n. Chr. von Bischof Remigius empfangen hat. Durch die vom Erzbischof vorgenommene Salbung wurde der Frankenkönig zu einem von Gott gewählten, königlichen Gründer, dem wundertätige Kräfte verliehen wurden. Durch eine schrittweise Erweiterung dieser Ursprungserzählung kam Chlodwig immer mehr die archetypische Rolle des „heiligen Königs“ zu, ohne dass er tatsächlich heilig gesprochen wurde. JÖRG WIDMAIERs (Tübingen) Präsentation zu Taufbecken „zwischen Steinbruch und Offenbarungsmoment“ verfolgte die Frage nach dem medialen Status sowie den religiös-kulturellen Vorraussetzungen dieses „begreifbaren Sakramentes“. Dabei ging Widmaier im Falle des Taufaktes von einer multisensoriellen Gemengelage aus: Rituelles Handeln, gesprochenes und gesungenes Wort, beteiligte Menschen und deren Körper, vorgezeigte Bilder und inszenierte Texte sowie verwendete Liturgiegeräte treffen hier aufeinander, wie anhand des Taufbeckens von Beckum-Vellern (Nordrhein-Westfalen) aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts illustriert werden konnte.

DARWIN SMITH (Paris) stellte Transformationsformen religiösen Wissens im französischen Theater des Mittelalters vor. Über die Analyse der Art der Abfassung der Manuskripte, die Analyse des Textgehalts, die Untersuchung ihrer Gattung und die Klärung ihrer Entstehung konzentrierte sich Smith vor allem auf zwei Modi der Wissensumwandlung: Zum einen nannte der Theaterwissenschaftler den gezielten Einsatz von auftretenden Personen, zum anderen die performative Funktion der Glosse. Diese Wandelprozesse lassen sich mit dem Modell des Denkkollektivs (Ludwig Fleck) erklären: An der Abfassung eines Theaterstücks als künstlerisches Denkgebilde sind mehrere Personen beteiligt, es bildet sich ein kleiner esoterischer und ein größerer exoterischer Kreis von Denkkollektivteilnehmern. So kann von einer „stufenweisen Hierarchie“ des Eingeweihtseins mit entsprechenden Längst- und Querverbindungen gesprochen werden.

Der Beitrag von CORNELIA LOGEMANN (Heidelberg) hob auf die personifizierten Tugenden zwischen Text, Bild und Theater des 14. Jahrhunderts ab. Die Personifikationen (z.B. die allegorischen Pilgerreisen des Guillaume de Digulleville) sind dabei für die Kommunikation mit Gott zuständig. Ähnlich Schutzengeln leisten sie der menschlichen Seele Beistand. Jedoch ist der ontologische Status dieser Mittlerfiguren nur schwer festzulegen: Im Gegensatz zu den oftmals verzerrten, ja monströsen Lastern werden sie als „Töchter Gottes“ bezeichnet, sind aber kaum als allegorische Wesen zu identifizieren. Auch unterscheidet sich ihre Visualisierung, die zwischen weiblichen Heiligen und Engeln liegt, von der des klassischen Personals der Heilsgeschichte, so dass sie schließlich im Laufe des 14. Jahrhunderts vollends ihren Status als quasi-göttliche Wesen einbüßen.

BENEDIKT KRANEMANN (Erfurt) verwies mit Bezug auf den Tagungstitel darauf, dass in der Aufklärung Theologen den Versuch, Gott „handhaben“ zu können, als Aberglaube abqualifiziert hätten. Sehr wohl aber hätte es in das theologische Selbstverständnis gepasst, Religion handhabbar zu machen: Die Liturgie mit Ästhetik und Vielfalt hatte gleichzeitig einheitlich gestaltet zu sein, die liturgiefeiernde Gemeinde, die als Adressat sittlicher Belehrung und Erbauung verstanden wurde, stand im Mittelpunkt. Dabei sollten sowohl Teile von Tradition als auch Teile der Gegenwartskultur integriert werden. Liturgie galt so nicht als etwas per se Heiliges und Gegebenes, sondern konnte im Sinne der Medialität für den Gottesglauben auf neue Erkenntnisse und Herausforderungen hin verändert werden.

Zum Abschluss der Tagung konzentrierte sich unter der Moderation von Annette Gerok-Reiter (Tübingen) die Debatte auf jene besonders relevanten Konfliktlinien, die zwischen der Unverfügbarkeit Gottes einerseits und dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherung und Praktikabilität andererseits verlaufen. Grundlegend für diese Überlegungen war die These, dass der Übersetzungsvorgang des Inkommensurablen keineswegs konfliktlos verläuft, jedoch gerade die Konfliktstellen in vielfach-produktiver Weise daran beteiligt sind, die vormoderne Wissensgesellschaft in eine moderne zu überführen.

Gott handhaben bedeutet, so die Antworten der Tagung,
1. religiöses Wissen so anzuwenden, dass gleichsam manipulativ Gott selbst auf sein Wohlwollen hin verpflichtet wird;
2. religiöses Wissen praktikabel oder pragmatisch als Wissens-, Anschauungs- oder Identifikationsangebot an soziale Gruppen oder Einzelne weiterzugeben;
3. religiöses Wissen zum Verhandlungsort einer dynamisch-rationalen Auseinandersetzung zwischen Experten zu machen;
4. religiöses Wissen in performativen Strategien, im Erleben, auch im ästhetischen Erlebnis zu vermitteln.

Systematisch lässt sich damit zum einen beim jeweiligen Adressaten und der Funktion der „Übersetzung“ ansetzen. Sie zielt auf einen Einfluss auf Gott (1), auf verbindliche Steuerung sozialer Gruppen bzw. des Einzelnen (2) oder auf Expertenkonturierung in gegenseitiger Abgrenzung (3). Quer zu dieser dreischichtigen Adressatenorientierung ist zum anderen die Medialität des Zugriffs zu sehen: Der Zugriff kann argumentativ-rational ansetzen ebenso wie sich performativ-emotional vollziehen. Schließlich steht damit auch die Qualität des Wissens selbst, das thematisiert wird, zur Debatte. Deutlich wurde, dass sich rationales und emotionales, argumentatives und suggestives, transzendentes und sinnlich-praktikables Wissen beständig in den einzelnen Verhandlungen überlagern. In diesen Überlagerungen könnte eine spezifische Qualität religiösen Wissens liegen.

Konferenzübersicht:

Einführung: Steffen Patzold (Tübingen), Sylvie Joye (Reims)

Keynote: Ingrid Kasten (Berlin): Minnemärtyrer. Opferszenarien in der höfischen Literatur

Sektion 1: Strategien der Distinktion

Steffen Patzold / Jörn Staecker (Tübingen): Priester und Mönche: Konkurrenz um geistliche Kompetenz an ländlichen und klösterlichen Kirchen

Volker Leppin (Tübingen): Die Professionalisierung des Pfarrers in der Reformation

Dominik Sieber (Tübingen): „[...] uff Göttlichen eÿffer [...] unser kirchen, kirchoff, sepultur zerbrochen und einen Marstall daraus gemacht [...]“. Die oberdeutsche Reformation und ihre Auswirkungen auf die Bestattungsplätze

Kristina Jonsson (Stockholm): Death and burial in Medieval and Post-Reformation Scandinavia – Change and Continuity in Popular Religious Practices

Sektion 2: Der Kampf um das Expertentum

Charles Mériaux (Lille): Prêtres carolingiens au miroir de l’hagiographie dans le diocèse du Mans

Carine van Rhijn (Utrecht): What did Carolingian local priests know?

Beat Kümin (Warwick): Who knows what? Parish negotiations during the Long Reformation

Daniela Blum (Tübingen): Konkurrierende Experten: Priester, Prediger und Mönche als Experten konfessionellen Wissens im Speyer des 16. Jahrhunderts

Susanne Junk (Tübingen): Göttliche Offenbarung oder Täuschung des Teufels? Eine lutherische Kontroverse über „Gesichte“

Anne-Charlott Trepp (Kassel): Naturwissenschaft und religiöse Erkenntnis: Expertentum zwischen den Disziplinen

Sektion 3: Gott handhaben – männlich oder weiblich

Sylvie Joye (Reims): Sexualité, chasteté et accès à Dieu dans le très haut Moyen Age

Rachel Stone (London): Beyond David and Salomon: Biblical models for Carolingian laymen

Jana Pacyna (Tübingen): Hochmittelalterliche Korrespondenznetzwerke und Religiöses Wissen: Die frühen Briefe Anselms von Canterbury (1070-1078)

Bridget Heal (St Andrews): Seeing Christ: visual piety in Lutheran Germany

Britta Bußmann (Tübingen): „Maria voller Gnade“. Die Gottesmutter als Opponentin des richtenden Gottes im „Guldein Abc“ des Mönchs von Salzburg

Sektion 4: Medien der Handhabung Gottes

Patrick Demouy (Reims): Du baptême de Clovis au sacre des rois de France

Jörg Widmaier (Tübingen): Begreifbares Sakrament: Medialisierungsprozesse am Taufbecken zwischen Steinbruch und Offenbarungsmoment

Darwin Smith (Paris): Transformation du savoir religieux dans le théâtre français du Moyen Âge

Cornelia Logemann (Heidelberg): Gott und seine Töchter am Ende des Mittelalters: Personifikationen zwischen Text, Bild und Performanz

Benedikt Kranemann (Erfurt): Die Liturgie der Aufklärung: „Verehrung Gottes“ oder „sittliche Verbesserung des Menschen“?

Abschlussdiskussion
Moderation: Annette Gerok-Reiter (Tübingen)


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Englisch, Französisch, Deutsch
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