Musik am Russischen Hof 1645-1762

Musik am Russischen Hof 1645-1762

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Moskau (DHIM); Organisation Lorenz Erren (DHIM)
Ort
Moskau
Land
Russian Federation
Vom - Bis
19.09.2013 - 20.09.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Friesen, Deutsches Historisches Institut Moskau

Das Thema der Konferenz war der musikalische Aspekt des sozialen und politischen Lebens am russischen Hof von der Regierungszeit des Zaren Aleksej Michajlovič (1645–1676) bis zum Kaiser Peter III (reg. 1761–1762). Die Geschichte Russlands verlief in weitgehender Isolierung vom Westen, unter anderem infolge der Kirchenspaltung. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts stellt eine Übergangsperiode sowohl in der russischen Kultur als auch der Geschichte des Landes im Großen und Ganzen dar. Unter anderem wurden die Einflüsse der westlichen Tradition deutlicher. Damit wurde eine neue Entwicklungsrichtung für die russische Gesellschaft festgelegt. Die Konferenz zielte darauf ab, die historische Musikwirklichkeit als Teil der höfischen und politischen Kultur zu rekonstruieren.

Die Musik am russischen Hof war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer noch sehr eng an die Tradition des Kirchengesangs gebunden, der sich von der orthodoxen Liturgie nur langsam löste, behaupteten ANDREJ TOPYČKANOV (Moskau), IRINA POLOZOVA (Saratov) und KRZYSZTOF ROTTERMUND (Berlin/Kalisz). Allerdings entstand in dieser Zeit eine höfische Vokalkapelle. Sie diente hauptsächlich zur musikalischen Begleitung von Gottesdiensten in der Anwesenheit des Zaren; dies geschah jedoch ohne Verwendung von Instrumenten, weil die Instrumentalmusik „heidnisch“ und daher „sündig“ wahrgenommen wurde und offiziell verboten war. Allerdings wiesen ALEKSANDR ROGOŽIN (Orel) und Topyčkanov darauf hin, dass dieses Verbot sich nicht auf die Armee und das nur kurzlebige Hoftheater (1672 – 1676) verbreitete. Auch von den Volksmassen wurde das Verbot nicht akzeptiert: die Skomorochi, die mit Instrumentalmusik und Spielen zur Unterhaltung sorgten, wurden zwar vom Hof verdrängt, genossen jedoch immer noch das hohe Ansehen der einfachen Bevölkerung, legte in ihrem Vortrag LJUDMILA SUKINA (Pereslavl’-Zalesskij) dar. Damit machten die Referenten eine strikte Hierarchie sichtbar: Instrumentalmusik hatte einen weltlichen Charakter, während die Vokalmusik überwiegend religiös und somit repräsentativ blieb und Machtansprüche der Herrscher untermauern sollte.

Tatsächlich sang die Hofkapelle die sogenannten „Kanty“, die gottesdienstlichen Lieder, erläuterten Polozova und Rottermund. Darüber hinaus war der Chor ein Bestandteil von solchen Ereignissen des Hoflebens, wie dem Empfang von ausländischen Gästen oder Festen. Dabei wurden Stücke von paraliturgischem Inhalt vorgetragen, wie geistliche Gedichte, Lobgesang oder Hymne. In dieser Zeit etablierte sich auch ein neuer mehrstimmiger Gesangsstil genannt Partes. Am Beispiel des Partes analysierte LJUDMILA POSOCHOVA (Char’kov) ausführlich das Thema des ausländischen Einflusses auf die Transformationsprozesse in Russland um 1700. Dabei wurde die Rolle der polnischen Rzeczpospolita betont, die als Grenzgebiet zwischen Russland und Europa der Adaptation von westlichen Phänomenen und ihrem Transfer nach Russland verhalf; diese These vertraten auch Rottermund und Rogožin.

Über das kulturelle Potenzial von Nemeckaja Sloboda, der „Deutschen Vorstadt“ in Moskau, die vom Musikverbot nicht betroffen war, sprach NORBERT ANGERMANN (Hamburg). Die Bewohner des Viertels, diese Europäer der Barockepoche mit Vorliebe zum Musizieren, besaßen Musikinstrumente; nach Bedarf konnten diese von den Handwerkern hergestellt werden; unter ihnen gab es auch Musiker, Amateure sowie Professionelle. Unter Peter dem Großen, der ein Stammgast in der Deutschen Vorstadt war, wurden die Kontakte zum Westen immer umfangreicher und stabiler. Peters Untertanen wurden mehr oder weniger freiwillig dazu gebracht, die Praxis des Musizierens in einer feinen Gesellschaft zu übernehmen: die Musik wurde zum unentbehrlichen Merkmal des Europäers, betonte IRINA KUVŠINSKAJA (Moskau). Die Unterhaltung von Hausorchestern und Chören in angesehenen Moskauer Adelsfamilien, deren Gründung bereits zu den Zeiten der früheren Romanovs stattfand, wurde zur verbreiteten Praxis und entsprang nicht zuletzt einem gesteigerten Repräsentationsbedürfnis des Adels, formulierte Rottermund.

Zu dieser Zeit nahm auch der Zustrom von ausländischen Musikern zu: nun dominierten die Deutschen über die Polen. Als intensive kulturelle Beziehungen zwischen Russland und den italienischen Städten entstanden, kamen außerdem mehrere italienische Maestri nach Russland, bemerkten unter anderen SABINE EHRMANN-HERFORT (Rom) und MARIA DI SALVO (Mailand). Über die Etablierung der Oper in Russland erzählten ROLAND PFEIFFER (Rom) und Sabine Ehrmann-Herfort: Unter Peter dem Großen gab es keine einzige Opernaufführung. Erst mit dem Throneintritt der Zarin Anna Iwanowna (reg. 1730–1740) in den 1730er-Jahren wurde das Musikleben am Hof allmählich italienisiert und die ersten Opern aufgeführt. Die opulente opera seria wurde zum hervorragendem Mittel von repraesentatio maiestatis an einem europäischen Hof in den Zeiten des blühenden Absolutismus, darin waren sich einig FRANCESCO RUSSO (Rom) und LARISA KHALFINA (Moskau). Einer ganz besonderen Rolle, die Opernaufführungen unter der Zarin Elisabeth (reg. 1741–1761) spielten, wandte sich ANNA GUIST (Padua) zu. Sie untersuchte, welche formelle Veränderungen die Oper in dieser Zeit erlebte: in der opera seria, die sich für die russischen Zuschauer als nur schwer wahrzunehmen erwies, wurden einige Libretti aus dem Italienischen übersetzt und manchmal sogar die Handlung mit ihrem eigentlich typisch italienischen Kontext nach Russland versetzt. Der Chor nahm an den Vorstellungen teil und in die Oper wurden Lobreden oder Lobgesang an die Kaiserin, die viel mehr für die Ode charakteristisch waren, eingeführt. Das Eindringen dieser Elemente in die Oper verband das Religiöse und das Weltliche und präsentierte den sakralen Aspekt der Monarchie im unterhaltenden Stoff der Oper. Über dieses auffallende Phänomen berichteten auch Khalfina und Russo.

Die Zielgruppe der Oper waren die Höflinge und somit trug sie im Wesentlichen zur Bildung einer höfischen, noblen Gesellschaft bei. Diese Gesellschaft war physisch und materiell wie intellektuell und kulturell vom Rest der Bevölkerung abgesondert. Nach wie vor war der feine Musikgeschmack der Marker, der die sozialen Grenzen kennzeichnete, dafür plädierte SERGEJ POL’SKOJ (Samara). NATAL’JA OGARKOVA (St. Petersburg) zeigte am Beispiel Wasilij Trediakovskijs, einem Poet am Hofe Anna I, wie unter anderem die Verschenkung vom prächtig gestalteten Manuskript eines Musikstückes an den Monarchen zum sozialen Aufstieg des Schenkers beitragen konnte.

Die Musik wurde zur alltäglichen Praxis eines russischen honnête homme, so Pol’skoj. Sie wurde nicht nur passiv, sondern auch aktiv ausgeübt, sei es durch das Libretto- und Musikschreiben, durch die Teilnahme an den Spektakelaufführungen oder durch die Integration adliger Dilettanten in ein Ensemble von Berufsmusikern. Diese These entwickelte weiter CHRISTOPH FLAMM (Klagenfurt), der in seinem Vortrag die lebenslange Auseinandersetzung zwischen Peter III. und seiner Frau Katharina II. (reg. 1762–1796) allegorisch in die musikalische Ebene verlegte. So spielte beispielsweise Peter III. die 1. Violine im wöchentlichen fünfstündigen Konzert. Diese Passion zur Musik wird als eines der wichtigsten Merkmale der Selbstidentifikation des Zaren, eines schwachen Politikers, interpretiert und zugleich der betonten „Unmusikalität“ Katharinas II. entgegengestellt, unter deren Regierung Russland zur europäischen Großmacht wurde.

Das Aufkommen der Oper legte den Grundstein der kulturellen Kritik: die ersten Versuche der Auseinandersetzung mit dem neuen Genre gab es bereits zur Regierungszeiten Anna Iwanownas, bemerkte Giust. Des Weiteren widmete KLAUS HARER (Potsdam) seinen Vortrag den Werken und Verdiensten Jacob Stählins, der sich glücklicherweise unter vier Monarchen als loyal bewähren konnte und mit seinen Schriften (unter anderem) zur Musikkultur zu einer der Schlüsselfiguren in der Kulturgeschichte Russlands im 18. Jahrhundert wurde.

In der Schlussdiskussion bemerkten nahezu alle Referenten, dass die Hauptschwierigkeit beim Erforschen des Themas der Mangel am ermittelbaren Material sei. Dies betrifft insbesondere die frühere Phase, des 17. Jahrhunderts. Die Namen der Komponisten, der Musiker und der Interpreten sind kaum bekannt. Auch die Originale von Texten und Musikstücken blieben nur selten vollständig gewahrt. Eine der wichtigsten Quellen zum Musikleben in Russland sind die Berichte von Ausländern und, in der späteren Periode, Schriften der russischen Diplomaten oder Höflinge. Im Rahmen der internationalen Forschung tritt hier ein weiteres Problem hinzu, nämlich die oft äußerst misslungenen, fehlerhaften Übersetzungen dieser Dokumente.

Das Thema der Konferenz kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist als gesamteuropäisches Phänomen zu untersuchen. Die Verbreitung neuer Formen der europäischen Musikkultur in Russland seit der Mitte des 17. bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war einer der Faktoren, die die Zivilisations- und Integrationsprozesse im Land begünstigten. Die Rezeption von musikalischen Phänomenen, ihre Adaption, die in einer Übergangsperiode in der Geschichte Russlands stattfand, hatte ihren Anteil an sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen in der russischen Gesellschaft. Die Tagung zeigte allerdings, dass bisher es immer noch an einem umfassenden Blick fehlt und es für die Musikwissenschaftler und Historiker noch viel zu tun und zu entdecken gibt. Immerhin schufen die Vortragenden eine gewisse Anregung für weitere Recherchen.

Konferenzübersicht:

Lorenz Erren (Moskau): Einleitung

Alexander Moutchnik (München): Der „Himbeerklang“ der Glocken am Zarenhof in Moskau und der kaiserlichen Residenz in St. Petersburg (17.-18. Jahrhundert).

Aleksandr Rogožin (Orel): Militärmusik in den regulären Regimentern des 17. Jahrhunderts.

Norbert Angermann (Hamburg): Musik im Rahmen der deutsch-russischen Kulturbeziehungen vor Peter dem Großen.

Maria Di Salvo (Mailand): Moskau in den Erinnerungen des italienischen Kastratensängers Filippo Balatri.

Andrej Topyčkanov (Moskau): Musik auf den Landhäusern des Zaren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Irina Kuvšinskaja (Moskau): Landschaftsgärten und Musik in der „Deutschen Vorstadt“. Die musikalische Kultur in Moskau um 1700.

Irina Polozova (Saratov): Musik am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und neue Tendenzen im liturgischen Gesang.

Ljudmila Posochova (Char’kov): „Im Kiever Partes-Gesang ausgebildet“: Kleinrussische Kirchensänger in der Hofkapelle in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Ljudmila Sukina (Pereslavl‘-Zalesskij): Der Kampf des Zaren gegen die fahrenden Spielleute. Der Kampf gegen die satirischen Formen der Musikkultur unter Aleksej Michailovič.

Krzysztof Rottermund (Berlin/Kalisz): Polnische Einflüsse auf die russische Musikkultur um 1700.

Markus Engelhardt. Die Musikbibliothek des DHI Rom.

Sabine Ehrmann-Herfort (Rom): Operntransfer von Italien nach Russland um 1700.

Roland Pfeiffer (Rom): Ein Neapolitaner in St. Petersburg. Francesco Arajas frühe Opernproduktionen am russischen Hof.

Anna Giust (Padua) Die Rezeption der italienischen opera seria unter Anna I. und Elisabeth I.

Natal’ja Ogarkova (St. Petersburg): Wasilij Trediakovskijs musikalische Panegyriken am Hofe Anna I.

Francesco Paolo Russo (Rom): Feste teatrali, repraesentatio maiestatis.

Larisa Khalfina (Moskau): Elisabeth I. und andere russische Kaiserinnen als Mäzenatinnen der Oper.

Sergej Pol’skoj (Samara): Musik, Politik und Gender am russischen Haf in der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Christoph Flamm (Klagenfurt): Peter III. und Ohnmacht der Musen.

Klaus Harer (Potsdam): Jacob Stählin (1709–1785) und seine Schriften zur Musikkultur Russlands.


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