Technisierung des Alters: Beitrag für ein gutes Leben? Ethische, rechtliche, soziale und medizinische Aspekte von technischen Assistenzsystemen bei pflege- und hilfsbedürftigen Menschen im fortgeschrittenen Alter

Technisierung des Alters: Beitrag für ein gutes Leben? Ethische, rechtliche, soziale und medizinische Aspekte von technischen Assistenzsystemen bei pflege- und hilfsbedürftigen Menschen im fortgeschrittenen Alter

Organisatoren
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm
Ort
Ulm
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.07.2013 - 20.07.2013
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Von
Mathias Schmidt, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Aachen / Medizinische Fakultät der RWTH Aachen

Das Thema „Technisierung des Alters“ entzündet mittlerweile in steigendem Maße Diskussionen sowohl in der Forschung als auch der Öffentlichkeit. Der demographische Wandel, der auch die europäischen Nachbarn erfasst hat, malt ein düsteres Bild der Zukunft mit sinkenden Renten und steigender Pflegebedürftigkeit bei gleichzeitig steigendem Fachkräftemangel im Pflegesektor. Deshalb werden schon seit Jahren verschiedene Forschungsprojekte finanziert, die eine technische Lösung der Probleme herbeizuführen suchen, darunter z.B. Gesundheitskontrollsysteme und Pflegeroboter. Dabei war die etwas naive Idee, die Probleme schnell, rentabel und nachhaltig zu lösen, jedoch blendete man Fragen nach den sozialen, rechtlichen und ethischen Konsequenzen aus, die zwangsläufig aus den vorgeschlagenen Problemlösungen entstehen (werden). Ebendiese Probleme diskutierten Expert/innen und Nachwuchswissenschaftler/innen aus verschiedenen Fachgebieten (unter anderem Medizin, Gerontologie, Soziologie, Kunst-/Geschichte, Ingenieurswissenschaften und Informatik) auf der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Klausurwoche in Ulm unter der Leitung von Heiner Fangerau, Debora Frommeld (beide Ulm), Arne Manzeschke (München) und Karsten Weber (Cottbus-Senftenberg).

Die Eröffnung erfolgte durch HEINER FANGERAU (Ulm), den Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Ulm. Er wies auf die anhaltende Aktualität, die Interdisziplinarität und das breite Spektrum des Themas „Ambient Assisted Living“ (AAL) hin und betonte, dass sich diese Faktoren auch in den Beiträgen der Klausurwoche widerspiegeln würden.

Zunächst bot JÖRG VÖGELE (Düsseldorf) einen Überblick über „Historische Demografie und Epidemiologie“. Er erläuterte die soziokulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zukunftsprognosen und Probleme der sich seit den 1950er-Jahren abzeichnenden Bevölkerungsentwicklung. Eine vergleichsweise große Zahl von Menschen kann – bedingt durch Lebensweise und moderne Medizin – ein höheres Lebensalter erreichen, während gleichzeitig die Geburtenrate stetig sinkt. Besonders besorgniserregend ist die daraus zwangsläufig resultierende spiralförmige Intensivierung der Probleme: Sinkende Geburtenraten führen auch zu immer weniger potentiellen Eltern.

ANDREA VON HÜLSEN-ESCH (Düsseldorf) stellte „Altersbilder in der Kunst – vom Mittelalter bis zum Ende des 21. Jahrhunderts“ vor. Bis in die Neuzeit hinein orientierte man sich zunächst an den bekannten Stereotypen, z.B. der Darstellung alter Frauen als Hexen, bevor die Malerei des 19. Jahrhunderts begann, alte Menschen tatsächlich im Rahmen des gesellschaftlichen/sozialen Kontextes darzustellen, was zu einer düsteren Perspektive führte. Mittlerweile jedoch transportieren Film und Werbung das Bild von „genießenden“, aktiven, junggebliebenen Senioren.

MATHIAS SCHMIDT (Aachen) stellte in seinem Vortrag „Rollator, Gehstock, Kunstgebiss: Erfindungen des 20. Jahrhunderts? Alter und Technik in der Geschichte“ den Bezug zu schriftlichen und archäologischen Quellen der Vergangenheit her. Der Versuch, Technik zur Erleichterung im Alter oder im Krankheitsfall zu nutzen, ist keineswegs neu. Mit der Industrialisierung wuchsen sowohl die Möglichkeiten als auch die Vielfalt der Ressourcen, bevor sich schließlich im 20. Jahrhundert ein breiter Absatzmarkt für diese Produkte entwickelte, der sich auch den sozial schwächer Gestellten öffnete.

LOTHAR SCHÖPE (Dortmund) leitete mit seinem Beitrag in „AAL-Systeme und Lösungen“ zum eigentlichen Thema der Klausurwoche über. Schöpe stellte verschiedene AAL-Systeme und einige groß angelegte Praxisversuche aus der Perspektive des (Mit-)Entwicklers vor, darunter „WohnSelbst“ und „SmarterWohnenNRW“. Zwar ist die Technik noch nicht weit genug entwickelt, um sie in unmittelbarer Zukunft flächendeckend einzusetzen, dennoch konnten in den letzten Jahren Fortschritte erzielt werden. Andererseits müsse man aber auch Fehlschläge zugeben. Einige Produkte erwiesen sich als wenig anwendungsorientiert/alltagstauglich, wurden durch Parallelentwicklungen überholt oder stellten sich als zu kostenintensiv heraus.

Anschließend beleuchtete MANFRED HÜLSKEN-GIESLER (Osnabrück) „Technische Assistenzsysteme in der Pflege in pragmatischer Perspektive der Pflegewissenschaft. Ergebnisse empirischer Erhebungen“ anhand des niedersächsischen Forschungsverbundes „Gestaltung altersgerechter Lebenswelten“. Die professionelle Pflege gilt als eine der potentiellen Nutzergruppen von AAL-Systemen, da der Mangel an Pflegekräften einem ansteigenden Unterstützungsbedarf alter Menschen gegenübersteht. AAL-Systeme könnten hier Abhilfe schaffen, jedoch bestehen gleichzeitig erhebliche Ängste hinsichtlich der Ersetzung von Personal durch Technik, was sich wiederum negativ auf die soziale Interaktion auswirken und schließlich zu einer Deprofessionalisierung der Pflege führen könnte.

ARNE MANZESCHKE (München) stellte in seinem Vortrag „Gute Technik – Anforderungen an AAL-Systeme aus technikphilosophischer Sicht“ die ethische Perspektive auf Technik vor. Vor der reinen Techniknutzung müsse das Strukturprinzip entschlüsselt werden („warum/wie nutzen wir Technik?“). Negativ darauf wirkt sich das so genannte „Collingridge-Dilemma“ aus: Ist eine Technik noch nicht etabliert, weiß man nicht in ausreichendem Maße über ihre (potentiellen bzw. negativen) Auswirkungen Bescheid („Informationsdimension“). Nach der Verbreitung ist sie allerdings kaum noch kontrollierbar und unter Umständen nicht mehr reversibel („Macht-/Steuerdimension“). Deshalb fordert Manzeschke im AAL-Kontext – von Beginn an – ethische Begleitforschung, die Probleme identifizieren, Argumente prüfen sowie spezifische Leitlinien entwickeln soll. Ein erster Schritt ist das „Modell zur ethischen Evaluation sozio-technischer Arrangements“ (MEESTAR) von 2012.

Auf die ethische Perspektive nahm DOMINIK DEPNER (Osnabrück) anhand des bereits von Hülsken-Giesler vorgestellten Projekts erneut Bezug. Sein Beitrag trägt den Titel: „Technische Assistenzsysteme in der Pflege in ethisch-anthropologischer Perspektive der Pflegewissenschaften. Ergebnisse empirischer Erhebungen“. Unter den Befragten sorgt sich besonders die Gruppe der Pflegekräfte um die möglichen negativen Folgen des zunehmenden Technikeinsatzes: Der Mensch drohe in den Hintergrund gestellt, der Fokus rein auf Messwerte gerichtet zu werden. Eine Fixierung auf Daten könne aber den – auf Erfahrungswerten beruhenden – persönlichen Eindruck der Pflegekraft nicht ersetzen und „emotionale Zuwendung“ nicht durch Roboter geleistet werden.

Daraufhin gewährte SÖREN THEUSSIG (Berlin) Einblicke in die Ergebnisse seiner Masterarbeit mit dem Thema „AAL für Alle? Nutzerakzeptanzsteigerung von altersgerechten Assistenzsystemen (AAL) durch den Ansatz des Universal Designs und Nutzerintegration“ (2012) und lenkte damit den Fokus auf die Nutzerperspektive. Ausgangspunkt seiner Arbeit sind Möglichkeiten der Akzeptanzsteigerung bzw. des Abbaus bestehender Akzeptanzbarrieren von AAL-Systemen. Zum einen das „Universal Design-Prinzip“ – die Konstruktion, die von allen ohne Einschränkungen oder Modifikationen genutzt werden kann – zum anderen die Nutzerintegration in den Entwicklungsprozess – wodurch Bedarf und Anspruch an das „Universal Design“ expliziter bestimmt werden können. Diese beiden Aspekte seien zwar immens wichtig, jedoch nicht allein ausschlaggebend. Zusätzlich müssten Fragen der Sicherheit und der Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden.

CAROLIN KOLLEWE (Heidelberg) verwies in ihrem Vortrag „AAL als technisches Artefakt: Der material turn und die Untersuchung von assistiven Technologien aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive“ darauf, dass die Forschung sich bisher hauptsächlich mit den technischen, betriebswirtschaftlichen und psychosozialen Aspekten beschäftigt, das soziale/gesellschaftliche Umfeld der potentiellen AAL-Nutzer sowie Auswirkungen neuer Technologien auf dieses würden jedoch weitgehend vernachlässigt. Zukünftige kulturwissenschaftliche Forschung müsse deshalb beispielsweise erfragen, ob und inwiefern die Nutzung sich auf soziale Beziehungen und Praktiken auswirkt. Gerade für solche Fragestellungen würden sich unter anderem die „Science and Technology Studies“ und „Workplace Studies“ als fruchtbar erweisen.

Unter dem Titel „Struktur, Dynamik und Ambivalenz von Technisierungsprozessen. Soziologische Überlegungen am Beispiel der Technisierung des Alters“ wies PETER WEHLING (Augsburg) explizit auf die ethischen, sozialen und ökonomischen Spannungsfelder des Einsatzes von Technik hin. Technik sei nicht per se problematisch oder gar schlecht, jedoch könne der „technologische Habitus“ unter Umständen zum Versuch einer Leistungssteigerung führen, der die dadurch entstehenden (negativen) Folgen ausblendet. Dies werde allerdings nicht unbedingt als Problem wahrgenommen, da häufig die „Funktionsfähigkeit“ den diskursiven Prozess überdecke – obwohl es streng genommen kein objektives Kriterium zur Bestimmung von „Funktionsfähigkeit“ gibt. So werde beispielsweise die Funktion der Sturzmatte nicht in Frage gestellt – sie sendet nach Stürzen ein Notsignal – wie auch der Nutzen und das Versprechen von Sicherheit und Autonomie nicht kritisch hinterfragt werden.

Hieran schloss WERNER SCHNEIDER (Augsburg) an: „(Technische) ‚Sterbe-Dinge‘ in der ambulanten Sterbendenbetreuung – soziologische Anmerkungen“. Er erläuterte die sozialwissenschaftlich zu fassenden Aspekte des Alterns und des Sterbens. Galt das Alter im Mittelalter noch als eine der Lebensphasen, deutete die moderne Gesellschaft das Alter als Ende und Abfall vom „qualitativen Höhepunkt“ des Erwachsenenalters. Mittlerweile ist hier eine Verschiebung auszumachen: das Alter scheint nun die erstrebenswerteste Lebensphase, die bis ins kleinste Detail strukturiert sein will und die schließlich mit einer neuen Lebensphase, dem „Sterben“, endet, das ebenfalls gut organisiert sein will („Sterben machen“). Mit diesem Wandel der Lebenseinstellung gegenüber dem Alter verknüpft seien auch ein Wandel der Bedürfnisse älterer Menschen sowie die daraus resultierende Veränderung des Angebotes an diese.

Stellvertretend für das Autoren-Kollektiv LEO CAPARI, Ulrike Bechthold und Niklas Gudowsky (alle Wien) referierte Leo Capari über das geplante Forschungsprojekt „Technologie in der alternden Gesellschaft der Zukunft – ein Vergleich der Ideen verschiedener Akteursgruppen“. Innerhalb der drei laufenden Forschungsprojekte „Value Ageing“, „PACITA“ und „CIVISTI AAL“ werden die jeweiligen verschiedenen Zukunftsszenarien und -visionen verschiedener Gruppen (Experten, Wissenschaftler, Bürger/innen) erforscht. Die Ergebnisse dieser Projekte sollen zunächst auf bestimmte Fragestellungen hin untersucht werden, beispielsweise, welche Interessen als grundlegend für die zukünftige Gesellschaft angesehen werden können, welche Rolle AAL-Systeme dabei überhaupt spielen und ob diese negativ oder positiv bewertet werden. Des Weiteren sollen die Angaben der verschiedenen Gruppen miteinander verglichen werden, um Aufschlüsse über zukünftige Forschungsfragen und politische Entscheidungen zu erlangen.

HEIDRUN MOLLENKOPF (Heidelberg) warf einen Blick auf „Die Wechselbeziehung von Mensch und Technik“ und machte zunächst deutlich, dass Technik mittlerweile integraler und nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des menschlichen Leben geworden sei. Dennoch lassen sich verschiedene Meinungen zum Thema Technik und Techniknutzung ausmachen: Die Gruppe der berufstätigen, jungen, ledigen Männern (sie fürchten keine Bedrohung durch Technik) z.B. steht der Gruppe der Frauen mit niedrigem Bildungsniveau sowie Hausfrauen gegenüber. Eher bedrohlich wird Techniknutzung hingegen von Männern des Arbeitermilieus wahrgenommen – sie sind zwar technisch interessiert, jedoch fürchten sie die Ersetzung von menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen. Insgesamt sei festzustellen, dass Alter nicht zwangsläufig mit Technikfeindlichkeit einhergehen müsse, sondern vielmehr, dass sich der jeweilige Lebenslauf und die damit verbundenen Erfahrungen stark auf die Technikakzeptanz im Alter auswirken.

MARKUS MARQUARD (Ulm) vom „Zentrum für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung“ (ZAWiW) der Universität Ulm lieferte Erkenntnisse über die „Nutzung des Internets durch ältere Menschen“. Er zeigte, dass ältere Menschen nicht grundsätzlich technikfeindlich oder lernunwillig seien, sondern dass vielmehr die Zahl der Internetnutzer jenseits der 50 seit Jahren stark und stetig ansteigt. Darauf hat das ZAWiW mit Angeboten von speziellen Technikschulungen für ältere Menschen reagiert, die bei der Zielgruppe auf breites Interesse stoßen. Marquards Vortrag wurde begleitet von einer Gruppe eingeladener Senioren, mit denen im Anschluss über ihre Meinung zu AAL-Systemen diskutiert wurde. Grundsätzlich wurden AAL-Systeme zwar befürwortet, allerdings nur unter Berücksichtigung der individuellen (körperlichen) Fähigkeiten und Vorlieben. Vollständig automatisierte Systeme ohne Eingriffs- oder Steuerungsmöglichkeiten durch den Nutzer wurden hingegen abgelehnt.

Anschließend führten HARALD TRAUE, JUNWEN TAN und SASCHA GRUSS (alle Ulm) durch das „Emotion Lab“ der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Ulm. Traue und seine Mitarbeiter entwickeln hier experimentelle Methoden zur psychobiologischen Emotionsforschung, wie spezielle Fragebögen, computergestützte Testsysteme und experimentelle Verfahren der Messung verschiedener Verhaltensdaten. Die Anwendungsgebiete liegen unter anderem in der Analyse der „Mensch-Maschine-Interaktion“ (MMI) sowie der zwischenmenschlichen Kommunikation. Einen Beitrag zur Erforschung und Entwicklung von AAL-Systemen liefert das „Emotion Lab“ durch Untersuchungen zum Verhalten von Menschen gegenüber Computern und der Interaktion zwischen diesen.

HANNELORE VOLLAND (Greifswald) stellte in Ihrem Vortrag „Entwicklung von Weiterbildungsangeboten für die Anwendung von altersgerechten Assistenzsystemen“ das Gemeinschaftsprojekt „Weiterbildung zum Ambient Assisted Living-Fachberater“ der Wirtschaftsakademie Nord und des Technologiezentrums Vorpommern vor. Verschiedenen Berufsgruppen aus Pflege, Medizin und Technik soll hier umfangreiches Hintergrundwissen über AAL-Systeme sowie deren Potentiale vermittelt werden. Dabei stehen jedoch nicht Verkaufs- oder Produktionsinteressen im Vordergrund, sondern die Weiterbildung der Endverbraucher, während gleichzeitig der Blick der Entwickler für die Interessen dieser geschärft werden soll.

KARL-HEINZ RISTO (Kassel) griff die Grundlagen der antiken Ethik auf, um Antworten auf aktuelle Fragen zu erhalten: „Zur ethischen Beurteilung von Assistenzsystemen (AAL) im Bereich des Betreuten Wohnens: Kontinuität in der Diskontinuität?“. Während die Ethik heute besonders auf das „gute“ Handeln gegenüber anderen fokussiert, verstand sich die Ethik der Antike vielmehr als „Theorie des guten Lebens“. So hat die hellenistische Philosophie das selbstbestimmte Leben als ein Kriterium eines „guten Lebens“ ausgemacht – Selbstbestimmung stellt somit (geistige) Kontinuität zu den vorherigen Lebensphasen dar. AAL-Systeme, die ein möglichst langes selbstbestimmtes Leben ermöglichen, sind also solange als „positiv“ einzustufen, wie sie diese ermöglichen und den Nutzer nicht in seiner Kontinuität oder Privatheit einschränken.

LISA FREBEL (Göttingen) beleuchtete schlaglichtartig „Roboter gegen das Vergessen? Ethische und kulturelle Aspekte technisch assistierter Demenz im Film“. Sie arbeitete anhand der Dokumentation „Roboter zum Kuscheln. Heilsam für Demenzkranke?“ (2011) und des Spielfilms „Robot & Frank“ (2012) die übermittelten gesellschaftlichen und technischen Spannungsfelder der Nutzung von Technik bei Demenzkranken heraus. Der Fernsehbericht thematisiert den Einsatz der Roboter-Robbe „Paro“. Im Feldversuch hat sich diese zwar als funktional herausgestellt, allerdings mangelt es an Personal, um jeden Patienten einzeln mit der Robbe zur Interaktion aufzufordern. Robotersysteme können also unterstützend wirken, persönliche Zuwendung und zwischenmenschlichen Kontakt jedoch nicht ersetzen. Dies sowie weitere ethische Grenzfragen werden besonders im Film „Robot & Frank“ aufgegriffen.

Mit „Technik im Gehirn“ befasste sich JENS CLAUSEN (Tübingen). Mit Hilfe der „Tiefen Hirnstimulation“ ist es Forschern bereits gelungen, bestimmte Maschinen durch Menschen und Tiere zu steuern sowie die Symptome verschiedener Krankheiten, z.B. Parkinson, zu lindern. Hierbei handelt es sich allerdings um eine rein symptomatische Behandlung, eine Heilung ist bisher nicht möglich. Außerdem sind die Nebenwirkungen der Anwendung erheblich. Sollte es gelingen, die Nebenwirkungen zu reduzieren, könnte in einem denkbaren Zukunftsszenario der Mensch über Schnittstellen mit Häusern, Autos usw. verknüpft sein, die Steuerung eines Fahrzeugs oder verschiedene Tätigkeiten im Haushalt mit Technik- und Maschineneinsatz wären dann über die „Tiefe Hirnstimulation“ durchaus denkbar.

KARSTEN WEBER (Cottbus-Senftenberg) erläuterte in seinem Vortrag über „Geist oder Maschine, Geist in der Maschine, Geist als Maschine“ den Umgang des Menschen mit und die Zuschreibungen an Maschinen. Da die Vorstellung vom Gegensatz zwischen Mensch und Technik eine gewisse Allgemeingültigkeit zu besitzen scheint, stellt die Konstruktion von intelligenten Maschinen ein solches Schreckensszenario dar. Wenn es allerdings gelingt, Geräte zu konstruieren, die positive Zuschreibungen erwecken, ist die Interaktion mit diesen meist bedeutend erfolgreicher, weil man dem Gerät gegenüber emotional aufgeschlossener eingestellt ist.

Die Medizinethikerin KIRSTEN BRUKAMP (Rostock) lotete „Gesundheitsförderung im Alter: Chancen und Risiken einer zunehmenden Technisierung“ aus. Zunächst stellte sie klar, dass Technikeinsatz nicht zum Selbstzweck oder zur „Mode“ werden dürfe, sondern zweckgebunden und intentional erfolgen müsse. Unter diesen speziellen Umständen könne moderne Technologie in der Medizin nicht nur zu Therapiezwecken eingesetzt werden, sondern auch zur Förderung der Gesundheit im alltäglichen Leben sowie zur Prävention. Dies erhebe die Technologie bzw. den Technikeinsatz aber nicht grundsätzlich über ethische, rechtliche und soziale Spannungsfelder, die es stets zu hinterfragen und zu lösen gelte.

Der Beitrag von JULIANE SCHULDT (Rostock) beschäftigte sich mit „Weiterbildung zu Ambient Assisted Living. Qualifizierung für ein Zukunftsfeld“. Das BMBF fördert seit 2011 verschiedene (Weiterbildungs-)Projekte im Bereich der AAL-Systeme. Dabei decken sich Angebot und Erwartung der Anbieter und Teilnehmer nicht immer, da sich die Thematik sehr komplex und dynamisch darstellt und auf verschiedene soziokulturelle und ökonomische Ebenen einwirkt. Eine bedarfsgerechte Qualifizierung darf jedoch nicht zu einem Motor zur Steigerung der Nachfrage werden. Außerdem sind die AAL-Systeme an der jetzigen älteren Generation ausgerichtet, die aufgrund langfristiger Entscheidungs- und Produktionsprozesse als Nutzergruppe wahrscheinlich nicht mehr in Frage kommen wird.

Den Schlussvortrag über „Lebenswelt und Mathematisierung. Zur Phänomenologie der Übergänge“ hielt RALF BECKER (Ulm). Übergänge vom Bekannten zum Neuen schafft die Wissenschaft mithilfe von Technik, wobei der Übergang von der Lebenswelt zur Theorie und der Übergang innerhalb der Theorie vom Bekannten hin zum Unbekannten zu unterscheiden sind. Um Technik zu beherrschen und sich zu Nutze zu machen, müsse der Mensch sie allerdings zunächst studieren, denn die Kenntnis bestimmter Eigenschaften ermögliche erst die Genese von Ideen für bestimmte Zwecksetzungen. Dafür sei Technik dann allerdings das Vehikel zu Freiheit und Verantwortung, was nach Ernst Cassirer (1874-1945) wiederum die „Ethisierung der Technik“ verlange. Denn Technik setze ihre eigenen Normen absolut und zwinge sie anderen Bereichen der Kultur auf.

Abschließend wurden die Ergebnisse der Klausurwoche aufbereitet und einem öffentlichen Publikum präsentiert. Insgesamt haben sich zwei große, grundsätzliche Problemfelder herauskristallisiert: Zum einen die derzeit noch fehlende Einbindung von potentiellen Nutzern und deren Wünschen sowie die Missachtung gesellschaftswissenschaftlicher Expertisen im Entwicklungsprozess der Systeme, zum anderen die Breite der potentiellen Forschungsansätze. Verschiedene Herangehensweisen sollen verschiedene Zielgruppen ansprechen, ohne dass diese klar voneinander abgegrenzt werden können. Dies führt wiederum zu juristischen, ökonomischen, sozialen und ethischen Konflikten. Für die Zukunft scheint es daher ratsam, gesellschaftswissenschaftliche Fragen von Beginn des Entwicklungsprozesses an zu berücksichtigen sowie sich nach den individuellen Wünschen der verschiedenen Zielgruppen zu richten, um nicht Produkte zu schaffen, die nicht akzeptiert werden, zu hohes Risikopotential beinhalten oder mehr Schaden als Nutzen bewirken. Die Publikation der Forschungsergebnisse sowie die Orientierung an bereits bestehenden Systemen anderer Industriezweige können verhindern, Ideen zu realisieren, die sich später als rückwärtsgewandt, veraltet oder bereits existent herausstellen.

Konferenzübersicht:

Heiner Fangerau (Ulm): Eröffnung und Begrüßung

Jörg Vögele (Düsseldorf): Historische Demografie und Epidemiologie

Andrea von Hülsen-Esch (Düsseldorf): Historische Altersbilder in der Kunst – vom Mittelalter bis zum Ende des 21. Jahrhunderts

Mathias Schmidt (Aachen): Rollator, Gehstock, Kunstgebiss: Erfindungen des 20. Jahrhunderts? Alter und Technik in der Geschichte

Lothar Schöpe (Dortmund): AAL-Systeme und Lösungen

Manfred Hülsken-Giesler (Osnabrück): Technische Assistenzsysteme in der Pflege in pragmatischer Perspektive der Pflegewissenschaft. Ergebnisse empirischer Erhebungen

Arne Manzeschke (München): Gute Technik – Anforderungen an AAL-Systeme aus technikphilosophischer Sicht

Dominik Depner (Osnabrück): Technische Assistenzsysteme in der Pflege in ethisch-anthropologischer Perspektive der Pflegewissenschaften. Ergebnisse empirischer Erhebungen

Sören Theussig (Berlin): AAL für Alle? Nutzerakzeptanzsteigerung von altersgerechten Assistenzsystemen (AAL) durch den Ansatz des Universal Designs und Nutzerintegration

Carolin Kollewe (Heidelberg): AAL als technisches Artefakt: Der material turn und die Untersuchung von assistiven Technologien aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive

Peter Wehling (Augsburg): Struktur, Dynamik und Ambivalenz von Technisierungsprozessen. Soziologische Überlegungen am Beispiel der Technisierung des Alters

Werner Schneider (Augsburg): (Technische) „Sterbe-Dinge“ in der ambulanten Sterbendenbetreuung – soziologische Anmerkungen

Leo Capari / Ulrike Bechthold / Niklas Gudowsky (Wien): Technologie in der alternden Gesellschaft der Zukunft – ein Vergleich der Ideen verschiedener Akteursgruppen

Heidrun Mollenkopf (Heidelberg): Die Wechselbeziehung von Mensch und Technik

Markus Marquard (Ulm): Nutzung des Internets durch ältere Menschen

Harald Traue / Junwen Tan / Sascha Gruss (Ulm): Führung durch das „Emotion Lab“ der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ulm

Hannelore Volland (Greifswald): Entwicklung von Weiterbildungsangeboten für die Anwendung von altersgerechten Assistenzsystemen

Karl-Heinz Risto (Kassel): Zur ethischen Beurteilung von Assistenzsystemen (AAL) im Bereich des Betreuten Wohnens: Kontinuität in der Diskontinuität?

Lisa Frebel (Göttingen): Roboter gegen das Vergessen? Ethische und kulturelle Aspekte technisch assistierter Demenz im Film

Jens Clausen (Tübingen): Technik im Gehirn

Karsten Weber (Cottbus-Senftenberg): Geist oder Maschine, Geist in der Maschine, Geist als Maschine

Kirsten Brukamp (Rostock): Gesundheitsförderung im Alter: Chancen und Risiken einer zunehmenden Technisierung

Juliane Schuldt (Rostock): Weiterbildung zu Ambient Assisted Living. Qualifizierung für ein Zukunftsfeld

Ralf Becker (Ulm): Lebenswelt und Mathematisierung. Zur Phänomenologie der Übergänge


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