Benjamin Lektüren. Zur internationalen Rezeption. Ein Symposium des Walter Benjamin Archivs, AdK, Berlin

Benjamin Lektüren. Zur internationalen Rezeption. Ein Symposium des Walter Benjamin Archivs, AdK, Berlin

Organisatoren
Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.09.2013 - 20.09.2013
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Von
Nadine Werner, Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin

Was liest man, wenn man Benjamin auf Arabisch liest? Wie übersetzt man den Ausdruck ‚Engel der Geschichte‘ ins Japanische, wenn es im Japanischen kein Wort für Engel gibt? Was fasziniert andere Kulturen an Walter Benjamins Werk und wie gehen sie damit um? Diese Fragen gaben Anlass zur Veranstaltung des Symposiums „Benjamin Lektüren. Zur internationalen Rezeption“ (Konzeption: Gudrun Schwarz).

Vom 18. bis zum 20. September 2013 diskutierten Wissenschaftler/innen und Übersetzer/innen aus China, Südkorea, Japan, der Türkei, Ägypten, dem Iran, Mexiko, Brasilien, Argentinien, Frankreich, Italien, Spanien, Österreich und Deutschland über die Rezeption und die Übersetzung von Benjamins Schriften. Die Vorträge und Korreferate des Symposiums waren in drei Sektionen gruppiert: 1. Ostasien, Leitung: Heinrich Kaulen (Marburg), 2. Vorderasien, Leitung: Erdmut Wizisla (Berlin) und 3. Lateinamerika, Leitung: Adelheid Hanke-Schäfer (Madrid). In diesen Regionen findet eine rege Auseinandersetzung mit Benjamins Texten statt, die jedoch in der westeuropäisch-nordamerikanisch geprägten Benjaminforschung bislang nur wenig beachtet wurde. Ziel des Symposiums war eine erste Bestandsaufnahme, die als Basis für die weitere Beschäftigung mit der bislang vernachlässigten internationalen Rezeption von Benjamins Werk dienen soll.

Ein gemeinsamer Schwerpunkt der drei Sektionen war das historische Interesse an der Übersetzung und Erschließung der Schriften Benjamins. Welche Texte wurden zuerst übersetzt und leiteten die Auseinandersetzung ein? Zu welchem Zeitpunkt kam das Interesse an Benjamins Schriften erstmals auf? Welche Wechselwirkungen sind zwischen dem Zeitpunkt der Übersetzung, der Wahl des Textes und der Auseinandersetzung mit ihm erkennbar? Und wie steht die Rezeption mit der politisch-gesellschaftlichen Situation in den jeweiligen Ländern der Rezeption in Verbindung?

In der Sektion Ostasien wurden diese Zusammenhänge unter anderem am Beispiel des Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ diskutiert. Der Kunstwerkaufsatz ist nicht nur in Europa, sondern auch in Japan, Südkorea und China eine der bekanntesten Arbeiten Benjamins. Allerdings differieren Übersetzungszeitpunkt und Wirkungsgeschichte stark. Wie CAI-YONG WANG (Shanghai) in seinem Vortrag „Zur Aktualität Walter Benjamins in China“ zeigte, bildet die Übersetzung des Kunstwerkaufsatzes Anfang der 1990er-Jahre den vergleichsweise späten Beginn der chinesischen Benjaminsrezeption. In Südkorea hingegen wurde der Aufsatz bereits Ende der 1970er-Jahre übersetzt und schon Ende der 1960er-Jahre war er als Teil einer japanischen Ausgabe in 15 Bänden zugänglich.

KAZUKO OKAMATO (Tokio) nahm in ihrem Vortrag „Zum Bilde Benjamins – übersetzt und zitiert ins Japanische“ die Parallelen zwischen Deutschland und Japan in den Blick. In beiden Ländern fällt der Beginn einer breiteren Auseinandersetzung mit Benjamins Schriften zeitlich zusammen. Interessant ist, dass darüber hinaus auch die Tendenzen in der Rezeption in Japan und Deutschland parallel verlaufen. In beiden Fällen setzte sie ein mit einem – in Deutschland durch das kulturrevolutionäre Klima von 1968 geprägten – Schwerpunkt des Marxistischen. Die vergleichsweise junge Rezeption in China widmet sich dagegen gerade nicht den politischen Thesen des Kunstwerkaufsatzes. Die chinesische Benjaminrezeption liest seine Texte vor allem im Kontext der rasanten Modernisierung - Benjamin gilt dort in erster Linie als Theoretiker der Moderne (und weniger als deren Kritiker).

SEONG MAN CHOI (Seoul) betonte in seinem Vortrag „Zur Rezeption und Übersetzung Walter Benjamins in Korea“, das Interesse an Benjamin sei in jüngerer Vergangenheit vor allem durch Bezugnahmen von Autoren wie Slavoj Zizek, Georgio Agamben, Jacques Ranciére oder Susan Buck-Morss gestiegen. Für dieses Interesse steht auch die fünfzehnbändige koreanische Ausgabe, die seit Mitte der 2000er-Jahre in Arbeit ist und von der bereits acht Bände erschienen sind. Choi kritisierte die gängige Praxis, Benjamin nicht aus dem deutschen oder französischen Original, sondern aus dem Englischen zu übersetzen. Von der These der Unmöglichkeit der Übersetzung ging SAEIN PARK (Evanston) in ihrem Vortrag „On Benjamin’s translatability: reading Benjamin in Anglo-American and Korean translations“ aus. An Beispielen aus der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ und „Die Aufgabe des Übersetzers“ zeigte Park eindrücklich, wie die Benjaminsche Syntax Bedeutungen auf ganz spezielle Weise verschiebt und wie seine Übersetzung ins Koreanische und ins Englische hierdurch zur Herausforderung wird.

Auch die Vorträge von AHMED FAROUK (Berlin, „Ein Hauch von Unübersetzbarkeit: Erfahrungsbericht zur arabischen Übersetzung der 'Berliner Kindheit um neunzehnhundert'„) sowie von UWE SCHOOR und GRISELDA MÁRSICO (Buenos Aires, „Mit eigener Apostilla. Zu aktuellen Aspekten der Benjamin-Übersetzung und -Rezeption in Argentinien“) widmeten sich Fragen der Übersetzbarkeit und Übersetzungspraxis. Farouk schilderte seine Erfahrungen mit der Übersetzung der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ ins Arabische. Seine Annäherung an Benjamins Sprache wurde begleitet von einer Auseinandersetzung mit Benjamins Denken, das Farouk sich über die Forschungsliteratur zur „Berliner Kindheit“ erschloss. Bevor er diesen Zugang gewählt habe, berichtete er, sei ihm seine Übersetzung erschienen wie ein lebloses, hohles Gerippe. Erst durch seine Einarbeitung in Benjamins erinnerungstheoretische Überlegungen gewann seine Übersetzung ihre eigentliche Substanz. Schoor und Mársico zeichneten mit einem historischen Rückblick auf die argentinischen Benjamin-Ausgaben Tendenzen der Übersetzungspraxis nach. Die Rezeption betreffend betonten sie, dass Benjamin in Argentinien seit den 2000er-Jahren mit großem Interesse für Geschichte und Erinnerungskultur gelesen werde. Diese explizit politische Beschäftigung mit Benjamin steht im Zeichen einer Aufarbeitung der Militärdiktatur, die der verfehlten staatlichen Erinnerungspolitik entgegengehalten wird.

Auch ASIL ODMAN (Istanbul) legte in ihrem Vortrag „Von der Faschismusanalyse zur Modernisierungskritik: Rezeptionsgeschichte von Walter Benjamin in der Türkei in der Nachputschphase“ das Augenmerk auf die politische Wirksamkeit von Benjamins Denken. Sie erläuterte die Ereignisse um den Gezi Park in Istanbul mit Blick auf das erstarkte Interesse der Öffentlichkeit an der historischen Verortung des Areals des Parks. Die Überlieferung dessen, was sich früher an diesem Standort befand (unter anderem ein armenischer Friedhof), mündete in Protesten, die dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung Ausdruck verliehen. Mit Benjamin betrachtet ist es die Erinnerungsarbeit selbst, die das revolutionäre Potential freizusetzen vermag.

Die politische Zugkraft Benjamins betonte auch KARLA PINHEL RIBEIRO (São Paulo). Ihr Vortrag mit dem Titel „Translation and reception of Walter Benjamin in Asia and Brazil: reflexions on art and violence“ gab einen Einblick in die ganz unmittelbare Rezeption von Benjamins Text „Zur Kritik der Gewalt“. Brasilianische Studierende hatten Benjamins Text bei einem Gerangel mit Polizisten protestierend vor sich gehalten, andere lasen den Polizisten daraus vor und diskutierten Benjamins Thesen. Eine solche direkte politische Inanspruchnahme erinnert an die Benjaminsrezeption in Deutschland Ende der 1960er-Jahre. Sie unterscheidet sich gewiss vom akademischen Diskurs und läuft mitunter Gefahr, zu radikalisieren, zu verschlagworten und zu verkürzen.

Gegen eine solche aktualisierende Benjaminlektüre sprach sich GUNTER KARL PRESSLER (Belém) aus, der anstelle einer Vereinfachung der Komplexität von Benjamins Schriften Wert auf die gerichtete akademische Rezeption Benjamins legte. IGNACIO M. SÁNCHEZ PRADO (St. Louis) zeigte in seinem Vortrag „Mexico‘s Benjamin: The quarrel between aesthetics and politics“, dass die politische Rezeption Benjamins in Mexiko erst sehr verzögert einsetzte. Prado erläuterte, inwiefern die konservative Rezeption auf eine Ausgabe zurückgeht, die hauptsächlich Arbeiten zur Literatur enthält. Diese Ausgabe war lange Zeit die einzige Übersetzung und damit fast die alleinige Rezeptionsgrundlage. Lediglich in einem Band werden politische Texte publiziert. So wurde Benjamin als Essayist und Briefschreiber wahrgenommen, aber nicht mit dem Marxismus in Verbindung gebracht. Dies änderte sich erst in den 1990er-Jahren, in denen die Auseinandersetzung mit Benjamin insgesamt thematisch immer breiter gefächert wurde.

IRVING WOHLFARTH (Paris) hielt eine Keynote Lecture mit dem Titel „Proben. Theorie und Praxis der Übersetzung bei Walter Benjamin“. Wohlfarth erprobte das Verhältnis von Original und Übersetzung an neuen Konstellationen: Er bezog in seinem Vortrag Überlegungen der Texte „Die Aufgabe des Übersetzers“, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ und „Über den Begriff der Geschichte“ aufeinander. Der erste Teil des Vortrags zum ‚Werk als Totenmaske der Konzeption‘ behandelte die Übersetzung, die als vorläufige und zeitabhängige das Werk selbst auf die Probe stellt. Das Übersetzen bringt beide Sprachen miteinander zum Schwingen, so dass sich die ‚reine Sprache‘ auf beide übertragen kann. Der zweite Teil befasste sich mit ‚Proben der unreinen Sprachsituation‘, indem Parallelen zwischen dem Übersetzer und dem historischen Materialisten nachgezeichnet wurden. Der dritte und letzte Teil des Vortrags war der ‚Geschichtsphilosophie‘ gewidmet und betrachtete die Übersetzung als eine Sprachgeschichtsschreibung, die das Ziel einer Bewegung auf die ‚reine Sprache‘ hin verfolgt. Einen weiteren Höhepunkt der Tagung bildete die Benjamin-Lesung mit dem Ensemble LUX:NM, bei der die Referenten und Referentinnen der Tagung jeweils einen Auszug aus Benjamins Buch „Einbahnstraße“ in ihrer Muttersprache verlasen; dies bot den Zuhörer/innen die seltene Gelegenheit, Benjamin in zwölf verschiedenen Sprachen zu hören.

Das Symposium hatte den Anspruch, eine erste Bestandsaufnahme der internationalen Rezeption der Schriften Walter Benjamins für jene Regionen vorzunehmen, die bislang in der Benjamin-Forschung kaum Beachtung fanden. Diesem Anspruch wurde es in vollem Umfang gerecht: Die Vorträge bezogen stets editions- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte aufeinander, so dass durchgehend eine kritische Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von Übersetzung und Rezeption die Beiträge und Diskussionen prägte. Ergänzt wurde dieser umfassende Überblick durch Beiträge, die im Detail mit bestimmten Texten arbeiteten. Es wurde deutlich, mit welchen Herausforderungen die Übersetzung von Benjamins Schriften konfrontiert ist. Dies erzeugte in hohem Maße ein Bewusstsein dafür, unter welchen sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen Benjamins Werk in den betreffenden Regionen gelesen und diskutiert wurde und wird. In den Blick traten die vielfältigen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der nordamerikanisch-europäischen Rezeption einerseits und der Rezeption in Ostasien, Vorderasien und Südamerika andererseits. Somit bot das Symposium nicht nur die Gelegenheit zur Erkundung bislang wenig bekannter Rezeptionsansätze, sondern ermöglichte zugleich eine neue Perspektive auf bereits bekannte Benjamin-Lektüren, die sich auch aus den lebhaften Diskussionen ergab.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Wolfgang Trautwein (Archiv der Akademie der Künste, Berlin)

Grußwort: Jan Philipp Reemtsma (Hamburger Stiftung zur Förderung
von Wissenschaft und Kultur)

Gudrun Schwarz (Berlin): Benjamin Lektüren. Eine Einführung

Sektion 1 Ostasien – Leitung: Heinrich Kaulen (Marburg)

Cai-Yong Wang (Shanghai): Zur Aktualität Walter Benjamins
in China

Korreferat: Momme Brodersen (Palermo)

Seong Man Choi (Seoul): Zur Rezeption und Übersetzung
Walter Benjamins in Korea

Korreferat: Chryssoula Kambas (Osnabrück)

Saein Park (Evanston): On Benjamin’s translatability: reading Benjamin in Anglo American and Korean translations

Korreferat: Johannes Steizinger (Berlin)

Kazuko Okamato (Tokio): Zum Bilde Benjamins – übersetzt
und zitiert ins Japanische

Korreferat: Larisa Schippel (Wien)

Keynote Lecture Irving Wohlfarth (Reims): Proben. Theorie und Praxis der Übersetzung bei Walter Benjamin

Begrüßung: Erdmut Wizisla (Berlin)

Sektion 2 Vorderasien – Leitung: Erdmut Wizisla (Berlin)

Asli Odman (Istanbul): Von der Faschismusanalyse zur Modernisierungskritik: Rezeptionsgeschichte von Walter Benjamin in der Türkei in der Nachputschphase 1980 – 2013

Korreferat: Isabel Kranz (Erfurt)

Ahmed Farouk (Ägypten / Berlin): Ein Hauch von Unübersetzbarkeit: Erfahrungsbericht zur arabischen Übersetzung der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«

Korreferat: Jessica Nitsche (Paderborn)

Sektion 3 Lateinamerika – Leitung: Adelheid Hanke-Schäfer (Madrid)

Uwe Schoor und Griselda Mársico (Buenos Aires): Mit eigener Apostilla. Zu aktuellen Aspekten der Benjamin Übersetzung und -Rezeption in Argentinien

Korreferat: Sigrun Galter (Marburg)

Karla Pinhel Ribeiro (São Paulo): Translation and reception of Walter
Benjamin in Asia and Brazil: reflexions on art and violence

Korreferat: Anne-Sophie Kahnt (Marburg)

Gunter Karl Pressler (Belém): 50 Jahre Kunstwerkaufsatz in Brasilien und die Diskussion über die Medien

Korreferat: Veronica Ciantelli (Paris)

Ignacio M. Sánchez Prado (St. Louis): Mexico‘s Benjamin: the quarrel between aesthetics and politics

Korreferat: Ursula Marx (Berlin)

Abschlussdiskussion

Podium: Erdmut Wizisla (Berlin), Heinrich Kaulen (Marburg), Adelheid Hanke-Schäfer (Madrid)

Moderation: Jessica Nitsche (Paderborn), Nadine Werner (Berlin)


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Englisch, Deutsch
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