Friedländer Gespräche II: Im Zeichen der Menschenrechte? Internationale Flüchtlinge und die Aufnahmepraxis in Deutschland seit den 1970er-Jahren – anlässlich des 40. Jahrestages des Militärputsches in Chile

Von
Thomas Drerup, Die Exponauten – Ausstellungen et cetera, Berlin

Am 4. und 5. September 2013 fand im Grenzdurchgangslager Friedland die zweite Tagung der Reihe Friedländer Gespräche statt, die den Aufbau des zukünftigen Museums Friedland begleitet. Ziel der Tagung war es, anhand des Konzepts der Menschenrechte, das in den 1970er- Jahren eine neue zentrale Positionierung erfuhr, die Fluchtbewegungen aus Chile und Vietnam, deren Hintergründe und die internationalen Reaktionen auf selbige mit Bezug auf Friedland näher zu beleuchten.

Der Moderator des ersten Panels, Bernd Weisbrod (Berlin/Göttingen), stellte der Tagung die Überlegung voran, dass es keine Lokalgeschichte ohne Globalgeschichte gebe – folglich Friedland und dessen Geschichte nur eingebettet in einen größeren Kontext verstanden werden können. Zudem bemerkte er, dass dem Ruf des Lagers Friedland als „Tor zur Freiheit“ die Tatsache entgegenstehe, dass die beteiligten Akteure sowie die Ankommenden nicht freiwillig, sondern stets in Reaktion auf externe Zwänge handelten.

Es folgte der Vortrag von JAN ECKEL (Freiburg), der die internationalen Reaktionen auf den Putsch in Chile und die nachfolgende Militärdiktatur analysierte. Die besondere Heftigkeit und Langlebigkeit des internationalen Protests gegen das Pinochet-Regime führte Eckel auf die Stärke der politischen Linken in den 1970er-Jahren in der westlichen Welt und eine von zivilgesellschaftlichen Akteuren und NGOs in den Diskurs neu eingeführte Menschenrechtsrhetorik zurück. Durch die hieraus entstandene neue Menschenrechtspolitik wurde internationaler Druck gegen die chilenische Militärdiktatur aufgebaut, die laut Eckel auch Wirkung zeigte und schließlich über einen längeren Zeitraum zu einer Erosion des Regimes führte. Auf Nachfrage deutete Eckel die Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile durch westliche Länder als eine kostengünstige Möglichkeit zur Lösung des Chilekonflikts, der nicht zu einer Brüskierung der Militärdiktatur führte.

Dieser These widersprach PATRICE G. POUTRUS (Wien) in seinem Vortrag zu Konjunkturen und Krisen der deutschen Asyl- und Aufnahmepolitik. Die Aufnahme sei zwar außenpolitisch mit geringen Kosten behaftet gewesen, führte in Deutschland jedoch innenpolitisch zu größeren Konflikten und in Form von Diskussionen über das Asylgrundrecht gar zu einer Verfassungskrise. So stellte die Aufnahme von Flüchtlinge aus Chile nach der Aufnahme von Flüchtlingen des ungarischen Volksaufstandes 1956 und des Prager Frühlings 1968 eine weitere große Wende in der deutschen Asylpolitik dar. Dies zeige sich vor allem an einer zunehmend wörtlichen Interpretation von Art. 16 Grundgesetz, welcher laut Poutrus ursprünglich als Schutzparagraph für Deutsche ausgelegt worden war.

Im letzten Vortrag des ersten Panels referierte MARCEL BERLINGHOFF (Heidelberg) über Ungleichzeitigkeiten der Aufnahmebereitschaft der Bundesrepublik Deutschland anhand des Anwerbestopps von 1973. Diesen interpretierte Berlinghoff als eine Reaktion auf die Ölkrise und als politisches Statement, welches der Wahrnehmung der Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland entgegenwirken sollte, letztlich diese Wirkung jedoch verfehlte. In der anschließenden Diskussion des ersten Panels wurden diese These und ein Zusammenhang zwischen Anwerbestopp und der Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile kritisch hinterfragt.

Als Abschluss des ersten Tages richtete die Niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Doris Schröder-Köpf, ein Grußwort an die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer und besprach im Anschluss an einen Bericht über ihre aktuelle Arbeit Fragen und Anregungen des Publikums.

Am nächsten Tag begann das zweite Panel über chilenische Exilanten in Deutschland mit einem Vortrag von GEORG DUFNER (Berlin). Dieser zeichnete in seinem Vortrag die Fluchtwege chilenischer Oppositioneller und den Aufnahmeweg über die deutsche Botschaft in Santiago de Chile nach. Weiterhin stellte er die daran beteiligten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure vor und erläuterte detailliert das Aufnahmeprozedere und die Unterbringung in der Bundesrepublik. Obwohl die Zahl der Aufgenommenen in Deutschland mit circa 3800 Botschaftsflüchtlingen als gering bezeichnet werden kann, entfaltete sie laut Dufner hohe symbolische Bedeutung – besonders für das sich zu diesem Zeitpunkt neu entfaltende Politikfeld der Menschenrechtpolitik und die spätere Aufnahme anderer internationaler Flüchtlinge in Deutschland. In der Diskussion dieses Beitrags wurde zudem auf die innenpolitische Brisanz der Aufnahme von als politisch links wahrgenommenen Flüchtlingen in Zeiten von Roter Armee Fraktion-Aktivitäten hingewiesen.

BARBARA RUPFLIN (Münster) thematisierte im nachfolgenden Vortrag die Akteure und Aktionen der Chile-Solidaritätsbewegung der 1970er- und 1980er- Jahre in der Bundesrepublik mit Fokus auf die Stadt Münster. Die Chile-Solidaritätsbewegung, so Rupflin, sei durch die große Heterogenität der Akteure gekennzeichnet, die sich aus christlichen, oppositionellen, gewerkschaftlichen, parteinahen und studentischen Kreisen rekrutierten. Zudem entfaltete die Chile-Solidarität, anders als beim vorangegangenen Putsch in Argentinien, ein hohes und langlebiges Mobilisierungspotenzial. Dieses sei zum einen durch die Popularisierung eines vereinfachenden dichotomen Narrativs zu erklären, in welchem Allende und sein demokratischer Weg zum Sozialismus dem gewaltsamen und faschistischen Regime Pinochets entgegengestellt wurden. Als einen weiteren Grund für die anhaltende Präsenz der Chile-Solidarität nannte Rupflin die Einbindung von kulturellen Veranstaltungen und Aktionsformen wie Konzerten und Lesungen, welche kollektiv erfahrbar und emotional positiv besetzt waren und so identitätsstiftende Wirkung bei den Besuchern entfalten konnten. In der anschließenden Diskussion kam es zu einer Erörterung von Kontinuitäten, Parallelen, Gegensätzen und Konkurrenzen zu anderen Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik und zur staatlich gelenkten Chile-Solidarität in der DDR.

Das dritte Panel, moderiert von Jochen Oltmer (Osnabrück), widmete sich unter dem Titel „Boatpeople aus Vietnam“ einer weiteren Gruppe internationaler Flüchtlinge mit Bezug zu Friedland. Im ersten Vortag des Panels bettete OLAF BEUCHLING (Hamburg) die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge in Deutschland in einen größeren Kontext ein. So sei es nach dem Vietnamkrieg zu mehreren Fluchtwellen gekommen, die sich durch hohe Heterogenität der Fliehenden und eine hohe Publizität infolge der dramatischen Fluchtbedingungen auszeichneten. Anschließend beschrieb Beuchling die Formierung internationaler Hilfe und die Organisation der Aufnahme in der Bundesrepublik. Mit einem Fokus auf die Stadt Hamburg zeichnete er zudem die Aufnahmebedingungen vor Ort und das Verhältnis zur lokalen Bevölkerung nach. Abschließend stellte er die These auf, dass anfangs homogen wirkende Flüchtlingsgruppen nach ihrer Ankunft in einem Aufnahmeland mit der Zeit als heterogener wahrgenommen werden, Unterschiede bei Religion, Sprache und Bildung hierbei aber auch im Selbstverständnis der Geflohenen immer stärker hervortreten.

Im zweiten Vortrag des Panels machte KIEN NGHI HA (Bremen) im Verlauf der Fluchtbewegungen aus Vietnam drei Phasen aus: Die Flucht von circa 130.000 Regimegegnern in den Jahren 1974-1975, der Exodus von circa 300.000 Angehörigen der chinesischen Minderheit 1978-1979 und die anschließende Flucht von Angehörigen der vietnamesischen Bevölkerung vor Repressalien. Anschließend analysierte er die politischen Rahmenbedingungen, die die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge in der Bundesrepublik begünstigten. Hier sah er als Motive für die Aufnahme neben der Kritik an kommunistischer Politik und der Abrechnung mit den sogenannten „68ern“ einen Rückbezug auf die Aufnahme deutscher Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg und eine nachträgliche Rechtfertigung des Vietnamkriegs. Abschließend stellte Ha die Wahrnehmung der Boatpeople in der Bundesrepublik als exzeptionelle Flüchtlingsgruppe und die damit verbundenen – oft positiven – Klischees in Frage. In der folgenden Diskussion beleuchteten er und Olaf Beuchling auf Nachfrage das Verhältnis von Bootsflüchtlingen in der Bundesrepublik zu vietnamesischen Vertragsarbeitern in der DDR.

Den Abschluss des dritten Panels bildete ein Werkstattbericht von LORRAINE BLUCHE (Berlin) über „Internationale Flüchtlinge als Thema des künftigen Museum Friedland.“ Darin stellte sie den Verlauf der Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile im Jahre 1974, von Asylbewerbern verschiedener Herkunft in den Jahren 1974-1976 und von vietnamesischen Boatpeople ab 1978 in Friedland dar. Anhand von Aktenfunden und Medienbeiträgen analysierte sie die Haltung von Politik, Behörden und der Öffentlichkeit gegenüber den verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Bluche schloss mit dem Fazit, dass sich das Grenzdurchgangslager Friedland trotz der Aufnahme internationaler Flüchtlinge zunächst weiterhin als Aufnahmelager für Deutsche verstand. Hierbei wurde das Grenzdurchgangslager Friedland im Kleinen zum Spiegel der staatlichen Politik und der jeweils verschieden stark ausgeprägten gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber diesen unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen insgesamt.

Das letzte Panel der Tagung widmete sich der deutschen Flüchtlingspolitik in erweiterter Perspektive. Im ersten Beitrag verglich JULIA KLEINSCHMIDT (Den Haag/Göttingen) die bundesdeutsche Aufnahmepraxis von Flüchtlingen aus Chile und Vietnam mit der in anderen westeuropäischen Staaten – namentlich in den Niederlanden und in Großbritannien. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile und der Solidaritätsbewegung im Aufnahmeland stellte sie eine große Ähnlichkeit zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden fest. Trotz der formalen Anerkennung des Pinochet-Regimes durch Großbritannien fanden jedoch auch dort Flüchtlinge aus dem Andenstaat Aufnahme. Bei der Aufnahme vietnamesischer Boatpeople machte Kleinschmidt hingegen größere Ähnlichkeiten zwischen dem Aufnahmeprozess in Großbritannien und in der Bundesrepublik aus: So gab es ähnliche Hilfsaktionen wie durch die deutsche Hilfsorganisation „Cap Anamur“. Vielen der zunächst in Lagern in Hongkong untergebrachten Bootsflüchtlingen wurde erst nach einigem politischen Ringen die Einreise gewährt. Weiterhin bemerkte Kleinschmidt, dass es zwischen der Aufnahme dieser beiden Flüchtlingsgruppen in den Aufnahmeländern zu einem Bedeutungswandel und -zuwachs der Menschenrechtspolitik gekommen sei.

Im letzten Beitrag öffnete OLAF KLEIST (Berlin) das Thema der Tagung in Richtung aktueller Fragen internationaler Flüchtlingspolitik. Hierbei ging er auf die Geschichte des Konzepts des Resettlements seit dem Ersten Weltkrieg und dessen aktuelle Renaissance als Instrument des Flüchtlingsschutzes und Migrationsmanagements ein und beleuchtete die dahinterstehende Rechtslage und deren historische Entwicklung. Anschließend beschrieb er die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am aktuellen United Nations High Commissioner for Refugees-Resettlementprogramm. Diese, so Kleist, sei als zusätzliches Instrument des Flüchtlingsschutzes sehr zu begrüßen, berge jedoch auch die Gefahr, dass das Recht auf Asylgewährung durch von staatlichen Akteuren kontrollierte ad-hoc Aktionen ausgehöhlt werden könnte.

Die Ziele der Tagung, das lokale Geschehen in Friedland im Kontext internationaler Entwicklungen und Zusammenhänge zu beleuchten und zu verstehen und interessante Reflexionen und Anregungen für das künftige Museum Friedland zu sammeln, wurde durch die hohe Qualität der verschiedenen Beiträge und die anschließenden konstruktiven Diskussionen zwischen den Referentinnen und Referenten und dem Publikum voll erfüllt.

Konferenzübersicht:

Oliver Krüger (Hannover); Katrin Pieper (Berlin): Begrüßung und Einführung ins Thema

Stephan Manke (Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport): Grußwort

Panel 1: Aufnahmepolitik und zivilpolitisches Engagement

Jan Eckel (Freiburg): Das Stigma der Menschenrechtsverletzung. Die Pinochet-Diktatur in der internationalen Politik

Patrice G. Poutrus (Wien): Konjunkturen und Krisen der deutschen Asyl- und Aufnahmepolitik

Marcel Berlinghoff (Heidelberg): Ungleichzeitigkeiten der Aufnahmebereitschaft: Der Anwerbestopp 1973

Doris Schröder-Köpf (Niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe): Grußwort und Diskussion

Panel 2: Chilenische Exilanten in Deutschland

Georg Dufner (Berlin): Praxis, Symbol und Politik. Das chilenische Exil in der Bundesrepublik Deutschland nach 1973

Barbara Rupflin (Münster): Die Chile-Solidarität der 1970er- und 1980er-Jahre: Akteure und Aktionen

Panel 3: Boatpeople aus Vietnam

Olaf Beuchling (Hamburg): Mit leeren Händen und offenen Armen? Vietnamesische Flüchtlinge in Deutschland

Kien Nghi Ha (Bremen): Exzeptionelle Flüchtlinge? Die Aufnahme der vietnamesischen Boatpeople in Westdeutschland

Lorraine Bluche (Berlin): Werkstattbericht – Internationale Flüchtlinge als Thema des Museums Friedland

Panel 4: Deutsche Flüchtlingspolitik in erweiterter Perspektive

Julia Kleinschmidt (Den Haag / Göttingen): Flüchtlinge aus Chile und Vietnam. Bundesdeutsche Aufnahmepraxis im westeuropäischen Vergleich

Olaf Kleist (Berlin): Vom Asyl zum Resettlement? Flüchtlingsschutz und andere Interessen


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