Föderalismus in historisch-komparativer Perspektive: Kaiserreich, Habsburgermonarchie und Europäische Union

Föderalismus in historisch-komparativer Perspektive: Kaiserreich, Habsburgermonarchie und Europäische Union

Organisatoren
Institut für Europäische Regionalforschungen/ Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Siegen; Collegium Carolinum, München
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2013 - 27.09.2013
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Von
Paul Hähnel / Christian Henrich-Franke / Philipp Höfer / Julia Liedloff, Universität Siegen

Die Tagung ‚Föderalismus in historisch-komparativer Perspektive‘ hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Funktionsweisen des Föderalismus im Kaiserreich und in der Habsburgermonarchie genauer zu analysieren. Im Mittelpunkt standen einerseits neue Ansätze der Integrationsforschung mithilfe derer die föderalen Gebilde der Vergangenheit neu zu erfassen sein sollten, um so ein besseres Verständnis für deren Funktionsweise zu erlangen. Andererseits wurden diese föderalen Gebilde genauer untersucht, um die theoretischen Modelle zur Erfassung der Europäischen Union kritisch zu reflektieren. Dieses Vorhaben wurde in vier Sektionen angegangen: 1. Föderalismus in Deutschland, 2. Föderalismus im Kaiserreich, 3. Föderalismus in der Habsburgermonarchie und 4. Föderalismus komparativ.

ANNE FUCHS (Jena) analysierte den Charakter der Staatlichkeit des Alten Reiches und unterstrich dabei die partielle Strukturgleichheit des vormodernen Reichs und der postnationalstaatlichen Europäischen Union. Beide Systeme zeichnen sich durch ein sensibel austariertes Gleichgewicht zwischen Zentrum und Peripherie aus und versperren sich den gängigen staatsrechtlichen Kategorien und Terminologien. Weder die Bezeichnung Staatenbund oder Bundesstaat, noch gebräuchliche Definitionen von Begriffen wie Souveränität und Staat, die auf nationalstaatliche Verhältnisse angepasst sind, erschienen ihr praktikabel, um das Balanceverhältnis zwischen Zentrale und den einzelnen Gliedern adäquat zu beschreiben. Dahingehend richtet sich auch das Plädoyer Fuchs‘, komplexere Definition anzuwenden, wie beispielsweise das disaggregierte Souveränitätskonzept von Anne-Marie Slaughter, das ihr besser geeignet erschien, die Gegebenheiten in beiden Fällen abzubilden.

MARKO KREUTZMANN (Jena) stellte die Entwicklung des deutschen Zollvereins dar, als eine Schablone für die Europäische Einigung sowie als ein historisches Fallbeispiel, um die Konsistenz von Integrationstheorien kritisch zu testen. Der Zollverein sei mehr als ein Staatenbund der sich zusammengeschlossen hat, um tarifäre Handelshemmnisse abzubauen. Doch ebenso passe die Bezeichnung Bundesstaat nicht, sodass auch er die terminologische Hilfslosigkeit betonte. Der Zollverein entwickelte sich zu einer suprastaatlichen Organisation, formte gemeinsame Institutionen aus und ließ Tendenzen einer einheitlichen Verwaltung und Gesetzgebung erkennen, weshalb sich der Vergleich mit der Europäischen Union anbieten würde. Darüber hinaus argumentierte Kreutzmann, dass der Zollverein eine prägende Wirkung auf die föderative politische Kultur Deutschlands ausübte, indem gemeinsam Zollgesetze beschlossen wurden, ihre Ausführung aber den einzelstaatlichen Zollverwaltungen oblag, exekutivföderalistische Erfahrungswerte generiert und konsensorientierte Interaktionsmuster eingeübt wurden.

SIEGFRIED WEICHLEIN (Fribourg) setzte sich in seinem Vortrag mit dem Funktionswandel des Föderalismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts auseinander, um so unterschiedliche Ziele und Wirkungsweisen föderaler Strukturen herauszuarbeiten, die zur Erklärung des Föderalismus im Kaiserreich zentral sind. In einem ersten Schritt thematisierte Weichlein einen politischen Funktionswandel nach dem Vormärz. Zielten föderale Konzeptionen vor der Revolution noch darauf ab, die Monarchien in einer Föderativrepublik zu reformieren, so diente der Föderalismus dann dazu, die Monarchien zu integrieren und ihre Existenz im Verbund zu legitimieren. Nach der Reichsgründung macht Weichlein dann einen Wandel des Föderalismus von einem Wesensprinzip hin zu einem inneren Organisationsprinzip aus. Die Frage der Souveränität im Reich wurde in der Verfassung gezielt unbeantwortet gelassen, um so auch als offene Abwehr gegen eine Demokratisierung der Bundesstaaten zu dienen. Das föderale Organisationsprinzip, so Weichlein, bereitete dann auch den Weg dazu, dass regionale und nationale Identitäten spätestens seit den 1890er Jahren nebeneinander existieren konnten.

PAUL HÄHNEL, PHILIPP HÖFER und JULIA LIEDLOFF (Siegen) fokussierten die föderale Mitbestimmung im politischen System des Kaiserreichs, wobei sie die These vertraten, dass gliedstaatliche Einflussnahme auf politische Entscheidungen über eine Vielzahl von Kanälen erfolgte. Föderale Interessen wurden in einem zunehmend integrierten System jenseits der eigentlichen Bundesratsgremien eingebracht. Die bisherige Forschung habe – so die These – aus fehlenden Bundesratsverhandlungen und -kontroversen den fälschlichen Schluss einer schwach ausgeprägten föderalen Mitbestimmung gezogen. An drei Beispielen aus den 1890er-Jahren aus den Bereichen der Nahrungsmittelregulierung, der Finanzen und der Unfallversicherungen wurde demonstriert, dass Mehrheitsentscheidungen oder gar ‚Kampfabstimmungen‘ im Bundesrat aufgrund komplexer föderaler Aushandlungsstrukturen unnötig waren.

KAORI ANDO und MANFRED HEINEMANN (beide Hannover) setzen sich mit der Föderalisierung der Schul- und Bildungspolitik auseinander. Da diese in den Kompetenzbereich der Bundesstaaten fielen, konnte eine Integration und Verstaatlichung der Bildungs- und Kulturverwaltung nicht ‚top down‘ durch die Reichsorgane erfolgen, sondern nur ‚bottom up‘ aus dem Kommunen, Provinzen und bundesstaatlichen Stellen. Dabei zeigten sie am Beispiel Preußens, wie sehr die subsidiäre positiv-rechtliche innere Staatsentwicklung im Ausbau des Schul-, Bildungs- und Wissenschaftswesens von der rechtlich weiterwirkenden Vergangenheit des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 geprägt war.

BJÖRN LEMKE (München) eröffnete die dritte Sektion mit einem Beitrag zu wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen in der Habsburgermonarchie. Darin thematisierte er die Ambivalenz die nach dem Ausgleich von 1867 zwischen wirtschaftlicher Integration einerseits, und wirtschaftspolitischer Autonomie der beiden Teilstaaten andererseits zu anhaltenden Spannungen führte. Aufgrund fehlender steuerungspolitischer Befugnisse des Gesamtstaats und zunehmendem Wirtschaftsregionalismus in den Kronländern, wurde die Wirtschaftsgemeinschaft – obgleich prinzipiell befürwortet – in ihrer praktischen Ausgestaltung insbesondere von der cisleithanischen Industrie kritisiert. Das Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftszentralismus und Wirtschaftsföderalismus/-nationalismus eröffnet gleichsam eine Perspektive auf die Föderalismusvorstellungen der Nationalbewegungen im Habsburgerreich und ihre wirtschaftliche Machbarkeit.

Im zweiten Beitrag der Sektion stellte CHRISTA HAINZ (München) die Ergebnisse eines 2006 durchgeführten ‚Life in Transition Survey‘ (LiTS) vor, welches die nachhaltigen Effekte der Habsburgermonarchie in Bezug auf institutionelles Vertrauen und Korruption in vormaligen Teilgebieten erfasst. Die Ergebnisse dieser Befragungen zu beiden Seiten der ehemaligen Grenze des Habsburgerreichs im heutigen Polen, der Ukraine, Rumänien, Serbien und Montenegro (Transitionsländer) zeigen, dass sich die frühere Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie in der Interaktion zwischen Bürger und staatlicher Bürokratie durch größeres Vertrauen in die staatlichen Institutionen und einen geringeren Korruptionsverdacht ihnen gegenüber heute noch äußert. Dabei scheint die Zugehörigkeitsdauer zum Reich nicht ausschlaggebend, auch finden sich keine vergleichbaren Ergebnisse in Bezug auf zentrale staatliche Institutionen (Präsident etc.). Dies legt die Vermutung nahe, dass sich der sogenannte „Habsburg-Effekt“ aus der direkten Interaktion zwischen Bürger und lokaler Bürokratie ableitet.

MONIKA SENGHAAS (Leipzig) widmete sich dem Verhältnis zwischen Föderalismus und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie. Bei der parlamentarischen Aushandlung der cisleithanischen Sozialversicherung spielten unterschiedliche Raumvorstellungen eine zentrale Rolle. Der Kampf um den institutionellen Aufbau der Sozialversicherung spiegelte diese divergierenden Vorstellungen von Kompetenzverteilung im Vielvölkerstaat wieder – die Deutschnationalen für eine zentralistische Organisation, das nicht-deutsche Lager für eine dezentrale Lösung – und rührte daher unmittelbar an der Substanz der Staatsordnung. In der Sozialpolitik wurde die Auseinandersetzung um konkurrierende politische Ordnungsvorstellungen ausgetragen, was auf eine territoriale Dimension politischer und gesellschaftlicher Entwicklung hinweist. Sozialpolitik wird hier als Versuch des ‚competitive state building‘ im multiethnischen Staatsgebilde und als ein mögliches Instrument sozialer Integration auf der substaatlichen, nationalen Ebene verstanden.

Die Sektion „Föderalismus komparativ“ eröffnete ROLAND STURM (Erlangen-Nürnberg) mit einem Überblick über die neueren Entwicklungen in der politikwissenschaftlichen Föderalismusforschung. Diese habe sich zuletzt immer stärker theoriegeleiteten Fragestellungen zur Erklärung föderaler Strukturen angenähert und dabei erfolgreich die Brücke zur Parteien(-system)forschung, zu Fragen der territorialen Dezentralisierung sowie auch zur Citizenship- und gesellschaftlichen Identitätsforschung geschlagen. Neben diesen neueren Ansätzen wurden in der vergleichenden Föderalismusforschung jüngst aber auch vielfach alte Fragen neu gestellt. So habe die schon in den Klassikern der vergleichenden Föderalismusliteratur thematisierte Idee des Föderalismus als Konfliktlösungsmechanismus jüngst erneut zu ergiebigen Debatten geführt. Selbiges gilt ebenso für das Konzept des personalistischen Föderalismus sowie die Frage nach der Messbarkeit regionaler Autonomie. Laut Sturm habe die vergleichende Föderalismusforschung ihr Potential aber trotz alledem bei weitem noch nicht ausgeschöpft. So müssten unter anderem auch künftig noch weitere Verbindungslinien zu anderen Forschungskontexten hergestellt und die Diskussion zwischen normativen und positiven Föderalismusanalytikern erkennbarer geführt werden.

SEBASTIAN HUHNHOLZ (München) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Frage, was den Kleineren und Schwächeren in einem gemeinsamen Bund in asymmetrischen Zeiten ihre Gleichheit garantiert und schlug als föderal-institutionelle Antwort darauf, die aus dem jüdischen Glauben entspringende, dem Bund Gottes mit den zwölf Stämmen Israels zu Grunde liegende Idee einer Art ‚reinen Bundes‘ vor. Diese kennt keine Exekutivmacht und garantiert normative Gleichheit solange der Bund besteht. Sowohl die imperiale als auch die hegemoniale Gefahr wird dadurch gebannt, was Huhnholz unter Übertragung dieses Konzepts auf die EU zu folgendem Fazit kommen ließ: Ohne eine an politischen Machtmitteln arme Instanz, die eine kollektive europäische Identität repräsentiert, dürfte sich die föderative Integrität einer Europäischen Union nicht vertrauenswürdig und verlässlich stabilisieren lassen.

Zum Abschluss der Sektion widmete sich STEFAN OETER (Hamburg) vergleichend den Strukturähnlichkeiten der Europäischen Union und den im Ansatz staatenbündisch geprägten, historischen Föderalstaatskonstruktionen wie dem Kaiserreich von 1871 und der Donaumonarchie. Oeter stellte dabei als Gemeinsamkeit der EU und des Deutschen Reichs nicht nur die beiden politischen Gebilden zu Grunde liegende Konstruktion als Rechtsgemeinschaft heraus, sondern verwies vor allem auf die erstaunliche verfassungsarchitektonische Ähnlichkeit der Bismarck´schen Bundesratskonstruktion und des Rates der Europäischen Union. In beiden Systemen habe die grundsätzliche Anlage als Staatenbund in einen Exekutivföderalismus resultiert, in dem den Exekutiven der Einzelstaaten auch weiterhin eine politisch-bedeutsame Rolle zu stand und die Bundespolitik in Folge dessen beträchtlichen Verflechtungs- und Koordinationszwängen unterlag. Sucht man vergleichbare Übereinstimmungen in ihrer Institutionsverfassung bei EU und Donaumonarchie auch vergeblich, so standen diese beiden Systeme doch offenkundig vor ähnlichen Herausforderungen hinsichtlich des ‚management of cultural diversity‘. Beide politischen Gebilde hatten ursprünglich die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes und Verteidigungsgebiets zum Ziel, folgten dabei aber gleichermaßen der fundamentalen Idee vielethnischer Integration in ein gemeinsames System unter Beibehaltung der multiethnischen Komponente.

Insgesamt hat die Konferenz gezeigt, dass die neueren Ansätze der Integrations- oder Föderalismusforschung der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit föderalen Systemen der Vergangenheit fruchtbare Impulse geben können. Dennoch stößt die Übertragbarkeit analytischer Konzepte moderner Staatlichkeit an ihre Grenzen. Die komparatistische Perspektive zwischen pränationalen, nationalen und postnationalen Systemen hat erkennen lassen, dass die analytischen Begrifflichkeiten, von dem sie prägenden Entstehungskontext des 19. Jahrhunderts und dem damit einhergehenden, methodologischen Nationalismus losgelöst werden sowie dynamischer und modularer gefasst werden müssen. Die Operationalisierung analytischer Modelle oder der diachrone Vergleich föderaler Systeme kann nur unter Berücksichtigung der zeitkontextuellen Bedingungen erfolgen. Nichtsdestotrotz erscheint auch für die EU-Integrationsforschung ein Blick auf die föderalen Systeme der Vergangenheit als ein lohnenswertes Unterfangen, mussten diese doch auch ethnisch-kulturelle Diversitäten managen (Habsburgermonarchie) oder besaßen als Rechtsgemeinschaft eine ähnliche politische Struktur (Kaiserreich).

Konferenzübersicht:

Sektion: Föderalismus in Deutschland

Anne Fuchs (Uni Jena): Staatlichkeit und Föderalismus. Staatsorganisation des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1495-1806) und der Europäischen Union

Marco Kreutzmann (Uni Jena): Der Deutsche Zollverein (1834-1867): Pflanzstätte des deutschen Föderalismus und Musterbeispiel für die Europäische Integration?

Sektion: Föderalismus im Kaiserreich

Siegfrid Weichlein (Uni Fribourg/Schweiz): Der Funktionswandel des Föderalismus im Kaiserreich

Paul Hähnel/ Philipp Höfer/ Julia Liedloff (Uni Siegen): Integrieren durch Regieren: Funktionsweise föderaler Verhandlungen im deutschen Kaiserreich

Kaori Ando/Manfred Heinemann (Uni Hannover):Föderalismus als Grundlage der deutschen Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturentwicklung

Sektion: Föderalismus in der Habsburgermonarchie

Björn Lemke (LMU München): Zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften - Ökonomische Integration in der Habsburgermonarchie

Christa Hainz (IFO München): Staatliche Institutionen und das Erbe des Habsburger Reiches

Monika Senghaas (Uni Leipzig): Föderalismus und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie

Sektion: Föderalismus komparativ

Roland Sturm (Uni Erlangen-Nürnberg): Neuere Entwicklungen in der politikwissenschaftlichen Föderalismusforschung

Sebastian Huhnholz (LMU München): Bund, Hegemonie oder Imperialität – Auf welche Frage antwortet Föderalismus?

Stefan Oeter (Uni Hamburg):Die föderale Gestalt der Europäischen Union – Vergleichende Überlegungen im Blick auf das Kaiserreich und die Donaumonarchie


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