Das Haus Salomon und seine Nachbarn. Institution und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit

Das Haus Salomon und seine Nachbarn. Institution und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Forschungszentrum Europäische Aufklärung; Martin Gierl
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.05.2004 - 15.05.2004
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Von
Martin Gierl, Göttingen

Vom 13. bis 15. Mai hat am Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam die von Martin Gierl organisierte Tagung "Das Haus Salomon und seine Nachbarn. Institution und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit" stattgefunden.

Die Akademien sind frühneuzeitlicher Ausdruck einer Welt der Institutionen - von der Sprache, dem Recht, der Familie bis hin zu den Nationen - und ihrer Geschichte, die sich im Bereich der Wissenschaften als Zusammenspiel von Wissen und Organisation vollzieht. Ort wissenschaftlicher Konversation, Korrespondenzzentrum, nationale Anstalt, Baustein der Res publica litteraria: Die Akademien realisierten sich als Institutionstyp im Rückgriff und mit Bezug auf eine Vielzahl zeitgenössischer Institutionssysteme, von den gelehrten Disziplinen bis hin zum Staat. Was ist eine Institution? Was ist Institutionalisierung? Das hat die Tagung am Beispiel der Akademien diskutiert.

Warum eigentlich münden die großen Utopien des 17. Jahrhunderts in den Plan einer Akademie? Dem ist Martin Gierl mit seinem Vortrag zu Utopie und Akademieorganisation nachgegangen. Reale Akademieorganisation und Utopiekonzeption hätten sich in wechselseitiger Bespiegelung entwickelt, spezifiziert, und bei diesem Fokussierungsprozess Stück für Stück den politischen und sozialen Realitäten angepasst. Die berühmten Staatsutopien des 17. Jahrhunderts Andreaes, Campanellas, Bacons seien im Entwurf Akademien gewesen, weil Utopie Organisation bedeute, Organisation die Verbindung von Wissen und Institution impliziere und "Akademie" die klassische Allegorie dieser Verbindung gewesen sei.

Welche Rolle spielt der politische Kontext? Dem ist Maurice Crosland, am anderen Ende des Untersuchungszeitraums, mit einem Beitrag zu den formalen und informellen Beziehungen der Académie des Sciences und der Royal Society Ende des 18. Jahrhunderts nachgegangen. Die Netze formaler Beziehungen - Schriftentausch und Ehrenmitgliedschaften - wie sie so typisch gewesen sind für die sich formalisierende Akademielandschaft am Ende des 18. Jahrhunderts - seien auf das Formale begrenzt gewesen angesichts der fortgesetzten Konfliktlage zwischen den europäischen Großmächten. Die Politik, nicht zuletzt die Französische Revolution habe Grenzen gesetzt.

Wovon eigentlich ist die Rede, wenn man von wechselseitiger Wahrnehmung der Akademien spricht? Cornelia Buschmanns Referat analysierte die Institutionsrealität der Akademien am Beispiel München und Erfurt als Zentren ineinandergreifender Kommunikation - von Korrespondenzen, Arbeitsaufgaben, Programmen, Publikationsorganen, Symbolen, institutionellen Verfahren und nicht zuletzt der Preisfragen als wesentlichem europaweiten Organisationsinstrument wissenschaftlicher Diskussion.

Was an wissenschaftlicher Praxis im Rahmen dieses Organisationsgefüges möglich war, zeigte Cornelia Lüdecke am Beispiel des meteorologischen Netzwerks der Mannheimer Societas Meteorologica Palatina in den 1780er Jahren - einem der ersten internationalen Wissenschaftsunternehmen, das auf der Basis gleicher Instrumente an 30 Meßstellen Daten erhob und kontinuierlich veröffentlicht hat - Daten, die noch im 19. Jahrhundert wesentlich für die Entdeckung der Isothermen gewesen sind. Wie aus Organisation Daten, aus Daten Diagramme und aus Diagrammen Theorie hervorgehen, zeigte sich hier in eindrucksvoller Weise. Daß das weltweit erste annähernd moderne Meßnetz, zentriert um die süddeutsch-bayrischen Akademien, nicht zuletzt auf den Benediktinerorden zurückgegriffen hat, sei hinzugefügt.

Wenn Institutionen/Akademien nicht zuletzt Knoten in institutionellen Netzwerken sind, wie operieren die Menschen in ihnen? Jens Häseler hat die Rolle Jean Henri Samuel Formeys, Akademiesekretär in Berlin, in den wissenschaftlichen Gesellschaften Berlins Mitte des 18. Jahrhunderts untersucht. Wie die Analyse Formeys Korrespondenz mit Trublet, La Condamine, Euler und anderen ausweist, verknüpfte Formey in der Korrespondenz die Rolle des gelehrten Korrespondenten und die des Akademiesekretärs. Das Netzwerk gelehrter Korrespondenz wurde damit an die Organisationsform "Akademie" und ihre Ordnungen gekoppelt. Der Akademie stand, soweit die Vermittlung ihres Sekretärs reichte, die am aktuellen Geschehen orientierte Dynamik gelehrten Korrespondierens offen.

So fragt sich also: Inwieweit sind die Gelehrten selbst in ihrer gelehrten Persona Institution? Wiard Hinrichs ist dem am Beispiel Lichtenbergs nachgegangen. Lichtenberg war Institution als Göttinger Universitätslehrer und Fürstenerzieher, als Autor und Popularisierer von Aufklärung. Teil des Institutionskörpers in Göttingen ist seine Arbeit aber auch immer Anknüpfungspunkt potentieller Institutionalisierung: Die 5 Taler Untersützung seines Physikunterrichts markierten den Beginn des physikalischen Instituts. Nicht zuletzt - und das ist entscheidend - ist Lichtenberg als aufgeklärter Gelehrte, der die Welt und sich in ihr wahrnimmt, derjenige, der das Wissen verarbeitet, indem er es schriftlich fixiert und ordnet. In der Umsetzung von Wahrnehmung zum Wissen ist Lichtenberg Instanz, die die "institutio" des Wissens vollzieht, wie es über seinen Textbüchern steht und wie er es auch im Privaten mit all den Listen, etwa den Notizen zu Studenten, ihren Besuch in seinen Seminaren, den Semestergeldern, der Gesundheit und seinen Malaisen, dem Verkehr mit seiner Frau usf. vollzieht.

Die institutionelle Persona Lichtenbergs beruhte auf Verhaltensanforderungen, die das Verhalten leiten und sein auf uns überkommenes Bild auf institutionell zu denkender Überlieferung. Der zeitgenössischen Genese des "auteur philosophe" aus der Eingebundenheit in die jeweils herrschenden Handlungsparadigmatik des institutionellen Raums ist Dinah Ribard nachgegangen. Institute seien Institutionen in der zeitgenössisch möglichen Relation innerhalb des institutionellen Raums, dem sie zugehören. Die Akademien, in ihrer Praxis und Verfaßtheit, entfalteten sich in Abhängigkeit zu sozialen Mustern und nicht zuletzt zur Leitinstitution Universität. Insofern bedeutet Ausgestaltung und Wachstum gelehrter Organisationen zur spezifischen Institution immer auch Deinstitutionalisierung derjenigen Umgebungsinstitutionen, in deren Konnex sie sich entfalten. Dies ist mit der Konstitution neuer Verhaltensmuster als Organisationsmatrix sozialer Konstitution verbunden: Dem "auteur philosophe" und seinem Publikationsverhalten lagen neue obligatorische Muster im Gebrauch der Rhetorik, Muttersprachlichkeit, neue Muster der Argumentation und des Textaufbaus zugrunde.

Die Frage nach Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung wie diejenige nach den Aktionsmustern in den Institutionen ist eng mit der Frage nach internen Gruppierungen in den Institutionen und ihrem Konnex zum jeweiligen politischen Umfeld im engeren und weiteren Sinn verbunden. Éric Brian hat hierzu am Beispiel der Demographie wissenschaftliche Praxis, Gruppenstruktur und ihren Zusammenhang mit der Funktionalität spezifischer politisch-administrativer Aufgabenstellungen in der Académie des Sciences um 1700 im Vergleich mit 1780 untersucht. Es habe funktional geprägte Praktiken gegeben, die an den Fragen der Auftragsteller und dem politischen Zweck der Recherchen ausgerichtet waren. Dadurch habe es keinen Platz für ein Erheben kontrolliert vergleichbarer Daten gegeben.

Das Handeln in den Akademien, die selbst Institutionenzusammenhang und Handlungszusammenhang waren, war eingebettet in die strukturelle Kohärenz des Institutionentyps "Akademie", wie er sich über Jahrhunderte entfaltete. Diese strukturelle Kohärenz ist zugleich ein Wertezusammenhang gewesen. Klaus Garber hat die Linie von Dante bis ins 18. Jahrhundert gezeichnet. Fünf Grundwerte waren es, um die die Akademie- und Sozietätsbewegung sich entfaltete: Die Bereitschaft, sich dem Neuen zu stellen; die innere Gliederung jenseits feudaler Rangordnung; die Verpflichtung zur Interdisziplinarität und dialogischem Verfahren; Integrität als Voraussetzung der Mitgliedschaft und Teilhabe an der Gegenwart. Institutionenzusammenhang ist Lebenszusammenhang: Wer wollte Klaus Garbers Forderung, die alte Wertebegründung der Academia neu mit Sinn zu füllen, heute widersprechen?

Die Tagung hat damit den Bogen geschlagen von der äußeren und inneren Organisation der Akademien, dem Zusammenhang von Institution und Individuum zum Katalog grundsätzlicher Wissenschaftsideale, die sich mit der Sozietätsbewegung entfalteten. Die Tagung hat die Akademien als Kommunikations- und Interaktionsinstrumente gezeigt, die dem Handeln Freiräume zugestanden, die das Handeln aber auch regulierten und als gelehrtes Handeln definierten. Mit dem Blick auf das Interagieren in den Institutionen und zwischen den Institution hat die Tagung einen Schritt hin zum Verständnis von Geschichte als Institutionalisierungsprozeß gemacht.


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