Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung

Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung

Organisatoren
Internationales Graduiertenkolleg InterArt der Freien Universität Berlin; in Kooperation mit der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Bonn
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2012 - 06.10.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Regine Strätling, Internationales Graduiertenkolleg InterArt, Freie Universität Berlin

Historisch und kulturell bestimmte Formen des Spiels gehören zweifellos zu den bedeutendsten Techniken der Subjektivierung. Inwieweit dies jenseits entwicklungsbiologischer und -psychologischer Aspekte auch für das erwachsene Subjekt gilt, dem gesellschaftlich determinierte Spielräume die Möglichkeit der Selbsterkundung und Selbsterprobung geben, war die Ausgangsfrage des interdisziplinären Symposiums „Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung“, das unter Federführung der Komparatisten Christian Moser (Bonn) und Regine Strätling (Berlin) vom 4. bis 6. Oktober 2012 an der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde. Institutionell getragen wurde das Symposium vom Internationalen Graduiertenkolleg InterArt der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Es basierte auf vorab zirkulierten schriftlichen Beiträgen und konzentrierte sich ganz auf deren Diskussion.

Ziel des Symposiums war es, nach der poststrukturalistischen Verabschiedung des Subjekts neue Zugänge zum Verständnis von Subjektivität und insbesondere der Rolle sozialer und ästhetischer Formen, Praktiken und Medien in der Subjektkonstitution zu entwickeln, ohne in einen essentialistischen Subjektbegriff zurückzufallen. Der Fokus auf spielerische Praktiken und Formen von Selbstbezüglichkeit sollte es dabei ermöglichen, den Blick auf die potentielle Offenheit und Unabschließbarkeit von Subjektivierungsprozessen sowie die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Erprobung, Wahl und individuellen Gestaltung zu richten. Dass spielerische Selbstpraktiken aber keinesfalls in bloße Beliebigkeit münden, sondern häufig einen nachgerade existentiellen Ernst besitzen, wurde durch den Obertitel der Tagung „Sich selbst aufs Spiel setzen“ hervorgehoben. Fast durchgängig reflektierten denn auch die Beiträge des Symposiums das schwierige Verhältnis von Spiel und Ernst, sei es, dass der Ernst durch das Moment des Risikos, des Wagnisses und der Gefahr, das mit Spielen verbunden ist, generiert wurde, sei es, dass er durch die ethische und soziale Dimension von Spielen entstand. Spiele können, das zeigten zahlreiche Beiträge, uns im Innersten berühren, sie können uns mit unangenehmen Erfahrungen konfrontieren und die psychischen Strukturen des spielenden Subjekts nachhaltig ins Wanken bringen.

Die thematische Ausrichtung des Symposiums sollte es zugleich erlauben, sowohl die jeweilige historische und kulturelle Besonderheit von Subjektivierungsweisen wie deren äußerliche und materielle Dimension in den Blick zu nehmen. Die Veranstalter vermieden es darum, von einem essentialistisch gefassten Spielbegriff auszugehen – wobei während des Symposiums und insbesondere in der Abschlussdiskussion immer wieder Überlegungen zu einem solchen angestellt wurden. Spiele sollten vielmehr als konkrete, je besondere kulturelle und historische Praxis gefasst werden und damit als Medien der Konstitution von Subjekten, die ihrerseits als kulturelle und soziale Konstrukte und Resultate von Macht- und Subjektivierungstechniken begriffen werden müssen. Dabei konnte diese Ausrichtung der Fragestellung zum einen an die gegenwärtige Diskussionen von Subjektivität als Produkt performativer Praktiken anschließen, zum anderen an medientheoretische Forschungen, die den Fokus vom Begriff des (technischen) Mediums zum Begriff der Medialität verschieben und es so erlauben, Spiele als Möglichkeitsbedingungen für bestimmte subjektkonstituierende Wahrnehmungen und Handlungsformen zu begreifen.

Die dezidiert interdisziplinäre Ausrichtung des Symposiums, an dem Wissenschaftler/innen aus Philosophie, Literatur-, Kunst-, Film- und Theaterwissenschaft teilnahmen, gewährleistete, eine nicht nur kulturell und historisch, sondern auch medial aufgefächerte Breite an Formen ludischer Selbstbezüge in den Blick nehmen zu können. Die Bandbreite der untersuchten ästhetischen Formen reichte von der Autobiographie über das Tagebuch, den Blog, den autobiographischen Film, (auto-)ethnographische Texte, photographische Selbstporträts, den Zuschauer als aktiven Mitspieler einbeziehende Performances bis zu fiktional im Roman praktizierten Selbstverhältnissen. Aber auch der Umgang mit Spielgerät (zum Beispiel Luftballons) in der Alltagskultur wurde thematisiert. Parallel dazu wurden einschlägige historische spieltheoretische Positionen (unter anderem Lessing, Schiller, Huizinga, Bataille, Caillois) im Hinblick auf ihre Implikationen für die Selbstverhältnisse spielender Subjekte diskutiert.

Die Beiträge waren in drei von den Veranstaltern vorab konzipierte Sektionen gegliedert, deren Schwerpunktsetzungen allerdings teilweise durch die Beiträge gewisse Verschiebungen und Neuausrichtungen erfuhren. So spielte in der ersten Sektion „Spielregeln und Spielformen“ der Aspekt der Regel, der von vielen Theoretikern des Spiels als konstitutiv für ‚das Spiel’ erachtet wird, eine auffallend geringe Rolle für die in Frage stehenden ludischen Subjektivierungsprozesse. Die Frage nach den Spiel regeln trat zurück hinter die Frage nach den Formen von Spielen, welche den Selbstverhältnissen ihrerseits bestimmte Formen geben. Dabei war in dieser Sektion die historische Tiefendimension am stärksten ausgeprägt. In der zweiten Sektion „Spielzeiten und Spielräume“ wurden die Kategorien Raum und Zeit im Hinblick auf Subjektivierungsformen untersucht. Dabei stand die Frage im Vordergrund, welche alternativen Formen möglich werden, wenn die verwendeten Medien und Techniken der Subjektkonstitution in anderer Weise räumlich und zeitlich organisiert sind als in der Autobiographie in ihrer tradierten Gestalt, wie sie maßgeblich durch Augustinus’ Confessiones und Rousseaus Confessions geprägt wurde, – einem besonders wirkmächtigen Medium abendländischer Subjektkonstitution. Überraschenderweise trat in den Beiträgen dieser Sektion der Aspekt des Spielraums – ein in den einschlägigen Theorien zentraler Begriff in der Reflexion auf Spiele – deutlich zurück hinter die ‚Zeiten des Spiels’, wobei die ‚Auszeiten’, die hier diskutiert wurden, dem Thema des Symposiums entsprechend vielfach weniger im Zeichen besonnener Selbstreflexion standen als im Zeichen des Selbstverlustes in Rausch und Ekstase. Die dritte Sektion „Medialität und Materialität des Spiels“ war der Frage gewidmet, in welcher Beziehung das Spiel als ein Medium der Selbstkonstitution zu den jeweils dem Subjekt zur Verfügung gestellten bzw. vom Subjekt gewählten technischen und ästhetischen Medien steht. Diese Sektion zeichnete sich vor allem durch die (kunst-)mediale Diversität der diskutierten Selbstbezüglichkeiten aus, die es erlaubte, Spezifika einzelner ästhetischer Verfahren genauer zu bestimmen.

Insgesamt erwies sich insbesondere die Fokussierung des Symposiums auf riskante Formen der Subjektivierung als produktiv, brachten doch die Beiträge zumeist Formen des Spiels in den Blick, die in der Philosophie, Ästhetik und Pädagogik, wo sie das Lob des Spiels sprechen, traditionell eher keinen guten Stand haben: das vom Zufall abhängende Glücksspiel, das Zerstörungsspiel, das Spiel mit der Täuschung und das rauschhafte ‚Taumelspiel’. So wurde beispielsweise die von den Veranstaltern aufgeworfene Frage nach der Rolle der Fiktion im Kontext von Selbstreflexion und Selbstentwurf nicht nur aufgegriffen, indem verschiedene künstlerische Medien daraufhin untersucht wurden, welche Räume sich dem Subjekt in dem Versuch, sich selbst fasslich zu werden oder neue Selbstverhältnisse zu erproben, beim Agieren in fiktiven Welten oder durch das Anlegen von Masken eröffnen. Die Hingabe an die Illusion in der Maskierung wurde auch im Hinblick auf die Interaktion des Maskenträgers mit anderen diskutiert, wobei sich eine Tendenz abzeichnete, den Dimensionsgewinn des spielerischen Imaginären dahingehend zu erweitern oder zu verschieben, dass auch Formen des So-tun-als-ob in den Blick kamen, die entschieden weniger gut konnotiert sind: die der Hoch- oder Tiefstapelei bis hin zur Täuschung.

Durchgehend wurden die vorgestellten spielerischen Selbsttechniken auf ihr ethisches Potential hin befragt, ist doch letztlich der Einsatz, um den es beim Spielen und Experimentieren mit Selbstentwürfen geht, neue, glücklichere, gerechtere, komplexere usw. Verhältnisse zu sich selbst und zu anderen zu entwickeln. Dass Spiele eine solche Erprobung von Selbstentwürfen ermöglichen, liegt, so ist zu vermuten, an einem Charakteristikum von Spielen, das in den Beiträgen des Symposiums immer wieder geltend gemacht wurde: ihrer Eigenschaft, scheinbar einander Ausschließendes zu integrieren. Im Hinblick auf diese dominante Tendenz einer Ethisierung des Spiels ist als ein wesentliches Ergebnis des Symposiums festzuhalten, dass in den Spielen, in denen das Ich sich selbst aufs Spiel setzt, zugleich immer auch etablierte Werte und überkommene moralische Normen ‚aufs Spiel gesetzt’, erprobt und durch neue ersetzt werden. Damit schließt das Symposium letztlich an eine lange und dominante Traditionslinie in der Reflexion auf das Spiel an, wenngleich diese Reflexion in entscheidenden Punkten neue Impulse erhielt.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch ERIKA FISCHER-LICHTE und die Veranstalter

Sektion I: Spielregeln und Spielformen

CLARE BRANT: Philosophical Playthings? Balloons and the play of ideas

NICOLA GESS: Vom Täuschen und Zerstören. Spiel und Kunst aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie um 1900

DOROTHEA VON MÜCKE: Spiel als Selbsttechnik der Entmoralisierung in Lessings „Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück“

HEIDE VOLKENING: Arbeit am Charakter. Über Kant, Schiller, aufklärerischen Fleiß und ästhetisches Spiel

JOSEF FRÜCHTL: Interrationale Beziehungen, oder: Das Subjekt ist nur da ganz modern, wo es spielt

SABINE MAINBERGER: Wort-Akrobatik und andere (autobiographische) Spiele: zu Vladimir Nabokov

Sektion II: Spielzeiten und Spielräume

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Goethe spielt Goethe

KNUT EBELING: Spiel und Verausgabung. Surrealistische Spieltheorien bei Bataille und Caillois

ROBERT PFALLER: Zur Ethik des Spiels. Zehn Thesen

CHRISTIAN MOSER: Autoethnographische Spiele: Huizinga, Lévi-Strauss, Geertz

GISELA ECKER: AUSZEITen

REGINE STRÄTLING: Trauerspiele. Zu Jacques Roubauds ‚biipsistischen’ Projekten

Sektion III: Medialität und Materialität des Spiels

JULIA WATSON: Virtual Play, Visible Lives: The New Subjects of Online Environments (paper co-written with Sidonie SMITH)

Filmvorführung zum Beitrag von Robin Curtis: „Meine Familie und Ich“

ROBIN CURTIS: Da, wo es weh tut: das historische Subjekt und das Spiel

FELICITAS ZEEDEN: Von irritierten Körpern und theatralen Selbstbekenntnissen. Potenziale der Subjektivation in interaktiven Theateraufführungen

ANDREJ MIRCEV: Diary as the (play)ground of identity

STEFFEN SIEGEL: Vervielfältigungsspiele. Multiplizierte Subjekte in der jüngeren Bildgeschichte

Abschlussdiskussion


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