Die neue Wirklichkeit: Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik seit den 1970er Jahren

Die neue Wirklichkeit: Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik seit den 1970er Jahren

Organisatoren
Ariane Leendertz, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln; Wencke Meteling, Philipps-Universität Marburg; Wolfgang Streeck, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.05.2013 - 24.05.2013
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Von
Sebastian Haus, Frankfurt am Main

In der Zeitgeschichte haben seit einigen Jahren Forschungsansätze Konjunktur, die sich den 1970er-Jahren als einer vielschichtigen Umbruchphase in der Geschichte moderner Gesellschaften zuwenden. Sie versuchen, die Zeit ab 1970 im geschichtlichen Verlauf des 20. Jahrhunderts als eigenständige Epoche zu markieren, als Anfang heutiger Probleme, Phänomene und Wirklichkeiten. Über den Zäsurcharakter der 1970er-Jahre herrscht unter den Spezialisten dabei weitgehend Einigkeit. Jedoch ist die Zeitgeschichte weiterhin auf der Suche nach neuen Interpretamenten und Erzählungen, die fähig sind, die Vielfältigkeit der Transformationsprozesse im Hinblick auf unsere heutige politische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit sinnstiftend zu integrieren. Etablierte Interpretationen für die frühe Geschichte der Bundesrepublik wie jene der „Verwestlichung“ oder der „Liberalisierung“ reichen zur Erklärung der jüngsten Vergangenheit jedenfalls nicht aus.

Vor diesem Hintergrund fand am 23. und 24. Mai 2013 am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln eine interdisziplinäre Tagung zum Thema „Die neue Wirklichkeit. Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik seit den 1970er Jahren“ statt. Sie richtete sich an Historiker/innen und Sozialwissenschaftler/innen, denen es um die Interpretation der jüngsten Vergangenheit als Vorgeschichte der Gegenwart geht. Nach der Leitthese der Tagung könne die vielfach konstatierte Transformationsphase seit den 1970er-Jahren auch als Phase des Wandels von Semantiken und Metaphoriken der politisch-sozialen Sprache begriffen werden, welche die Wirklichkeit der Zeitgenossen strukturierten. Der inhaltliche Fokus der gelungenen Tagung lag entsprechend auf dem Sprachgebrauch, auf dem Wandel von Leitbegriffen und Metaphern sowie auf der Frage, wie und unter welchen Bedingungen sich in einem solchen semantischen Wandel eine „neue Wirklichkeit“ abzuzeichnen begann.

In ihrem Eröffnungsvortrag reflektierten die beiden Veranstalterinnen ARIANE LEENDERTZ (Köln) und WENCKE METELING (Marburg) die aktuellen zeitgeschichtlichen Forschungstendenzen. Dabei plädierten sie in Anlehnung an Hans Günter Hockerts für eine Verschränkung von „Problemlösungs-“ und „Problemgenesegeschichten“, die dem ambivalenten Charakter zeitgenössischer Ordnungsversuche gerecht werde. Die Zeitgeschichte setze sich intensiv mit (sozialwissenschaftlichen) Konzepten und Deutungen der 1970er-Jahre auseinander und fordere zu Recht deren Historisierung, ohne dass allerdings bisher viel darüber bekannt sei, wie die Zeitgenossen ihre Wirklichkeit begrifflich ordneten. Hier setzte die Tagung an. Sie sollte neue Erkenntnisse zum semantischen Wandel zutage fördern und neue Forschungsperspektiven eröffnen für das Verhältnis zwischen Zeitgeschichte und Soziologie, gerade was den Umgang mit Konzepten und Zeitdiagnosen der Sozialwissenschaften der 1970er- und 1980er-Jahre betrifft.

In seinem Vortrag ordnete TOBIAS WERRON (Bielefeld) verschiedene globalisierungstheoretische Zeitdiagnosen seit den 1970er-Jahren in ihren historischen Kontext ein. Ausgehend von der in Globalisierungstheorien häufig zu findenden Leitunterscheidung zwischen einem nationalen Zeitalter und einem globalen, dessen Beginn häufig auf die 1970er-Jahre datiert wird, zeigte Werron, dass Nationalstaat und Globalisierung schon seit dem 19. Jahrhundert und bis in die heutige Gegenwart miteinander verschränkt sind. Aus wissenssoziologischer Perspektive seien die Globalisierungstheorien seit den 1970er-Jahren deshalb nicht wegen ihres theoretischen Erkenntniswertes, sondern als Ausdruck eines sich in dieser Phase vollziehenden Legitimationswandels des Nationalstaats von einem „expansiv-imperialen“ zu einem „bescheidenen“ Modell aufschlussreich – ein Übergang, an dem sozialwissenschaftliche Akteure maßgeblich beteiligt waren.

Mit intellektuellen Wirklichkeitsdeutungen beschäftigte sich auch FRIEDRICH KIEßLING (Erlangen) in seinem Vortrag über zeitdiagnostische Konzepte in der Kulturzeitschrift Merkur. Er arbeitete zwei zentrale Verschiebungen in den intellektuellen Zeitdiagnosen zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren heraus. Eine erste Transformation lasse sich um das Jahr 1960 beobachten, als anthropologische und klassisch-modernekritische Semantiken von modernisierungs- und zukunftsoptimistischen Begrifflichkeiten abgelöst worden seien. Ungefähr zehn Jahre später verschoben sich diese Semantiken erneut. Neue Themen wie der Umweltschutz seien nun – teilweise von denselben Autor/innen – im Rahmen einer umfassenden Technik- und Vernunftkritik und unter neuen Begriffen wie dem der „Komplexität“ diskutiert worden. Dabei habe sich bereits vor den Krisenphänomenen des Jahres 1973 ein Krisendiskurs im Merkur abgezeichnet, der die sich seitdem ausbreitende Krisenstimmung vorwegnahm.

ARIANE LEENDERTZ thematisierte in ihrem Vortrag den Begriff „Komplexität“ als „intellektuelle und politische Herausforderung“ der 1970er-Jahre. Der Begriff etablierte sich in den Vereinigten Staaten gleichzeitig sowohl in der Policy-Forschung und den Internationalen Beziehungen als auch in politischen Debatten. Die Rede über angeblich zunehmende gesellschaftliche und globale Komplexität interpretierte Leendertz als Ausdruck einer „Paradigmenverschiebung in der Sicht auf Gesellschaft“. „Komplexität“ postulierte eine neue Realität, die sich mit den gestaltungsoptimistischen Kategorien der 1960er-Jahre nicht mehr greifen ließ. Die Gesellschaft und ihre Zukunft schienen sich aus der Sicht der Zeitgenossen der intellektuellen und politischen Kontrolle entzogen zu haben. Hier kann man, so Leendertz, zahlreiche Schnittmengen zu anderen zeitgenössischen Konzepten wie „Risiko“ oder „Pluralisierung“ finden. „Komplexität“ habe dabei nicht ausschließlich als analytisches Konzept, sondern auch als Metapher und politisches Argument fungiert – etwa um in der „Overload“-Debatte über die Rolle des Staates die Reduzierung von Staatsaufgaben zu fordern oder um die US-amerikanische Außenpolitik in einer Zeit „komplexer Interdependenzen“ neu zu bestimmen.

Auf ganz andere Weise näherte sich DAVID KUCHENBUCH (Gießen) den Bedeutungsverschiebungen der 1970er-Jahre. Statt die Sprache selbst zu analysieren, betrachtete er in einer mediengeschichtlichen Analyse die „Semantiken des Weltganzen“ ausgehend von Bildern und Weltkarten wie der Peters-Projektion und der Fuller Map. Diese fanden in den 1970er-Jahren sowohl in technikaffinen Weltsteuerungsplänen als auch in alternativen konsumkritischen Milieus vor dem Hintergrund der neuen Problematik des Nord-Süd-Konflikts vielfach Verbreitung. Die in diesem Kontext entstandenen Diagramme, Grafiken, Bilder und Karten des Planeten verstand Kuchenbuch als Inszenierungen globaler interdependenter Zusammenhänge, die den Einfluss des individuellen Alltagsverhaltens auf die „Eine Welt“ und damit die wechselseitige Abhängigkeit von (westlichem) Individuum und globalen Prozessen skalierten und vermittelten. Als solche moralischen „Responsibilisierungshilfen“ seien diese Medien Teil neuer Subjektivierungspraktiken gewesen, die zum ständigen Nachdenken über die Folgen eigener Entscheidungen in einem komplexen Weltganzen aufforderten.

ALEXANDER FRIEDRICH (Darmstadt) setzte sich mit dem Begriff des „Netzwerks“ auseinander und zeichnete dessen Geschichte von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart nach. Die steile Karriere des Netzwerkbegriffs erklärte er dadurch, dass er als wissenschaftlicher Begriff, Modewort, Weltbild und politische Kategorie fungierte. Er war nicht nur Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, sondern wurde zugleich als Beschreibungskategorie wie als Mittel der gesellschaftlichen Veränderung verwendet. Aufgrund dieser konzeptionellen Breite erlangte der Begriff nach Friedrich zunächst in alternativen politischen Milieus als Gegenkonzept zu rationalistischen Gesellschaftsentwürfen Bedeutung, später auch in kapitalistischen und staatlichen Reorganisationsmodellen. Außerdem diente er als Beschreibungskategorie in den Sozial- und Kulturwissenschaften und schließlich in jüngerer Zeit in militärischen Konzepten der Kriegführung. Spätestens in den 1980er-Jahren sei die Idee von sich selbst organisierenden Netzwerken zu einem Weltbild geworden, das eine weitreichende Neuordnung der Gesellschaft induzieren sollte.

Anders als die übrigen Tagungsteilnehmer/innen wählte RALPH JESSEN (Köln) einen quantitativen Zugang, um den „Thematisierungskarrieren“ der Begriffe „Wettbewerb“ und „Konkurrenz“ sowie semantisch nahestehender Wörter bzw. Begriffspaarungen wie „harte Konkurrenz“ oder „Konkurrenzgesellschaft“ nachzuspüren. Dahinter stand die Frage, inwieweit der Strukturbruch der 1970er-Jahre zur Herausbildung neuer ökonomischer Kulturen führte, in denen Begriffe wie „Konkurrenz“ zu Leitbegriffen avancierten. Mittels des Google Ngram Viewer griff Jessen auf den Bestand an deutschsprachigen Büchern in Google Books zu und traf Aussagen zur Verwendungshäufigkeit der Begriffe pro Jahr gemessen in Prozentanteilen an allen in Google Books gebrauchten Wörtern. Für die Zeit seit den 1970er-Jahren zeigt sich ein starker Anstieg in der Verwendung der Begriffe und Begriffsfolgen aus dem semantischen Feld „Wettbewerb“ und „Konkurrenz“.

„Konkurrenz“ spielte auch im Vortrag von WENCKE METELING (Marburg) zur Debatte um den „Standort Deutschland“ seit den späten 1970er-Jahren eine prominente Rolle. Sie zeichnete die Karriere des Begriffs „Standort Bundesrepublik“ von seiner Verwendung in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung im Zusammenhang mit der angebotsorientierten Wende des Sachverständigenrats über das erste Aufflackern der Standortdebatte in der Bonner Republik Ende der 1980er-Jahre bis hin zum Durchbruch als politischer Leitbegriff in den frühen 1990er-Jahren nach. Der Begriff „Standort“ entstammt eigentlich der Mikroökonomie. Auf die Ebene der Makroökonomie übertragen, stand er für die Gesamtheit nationaler Regeln und Institutionen im Vergleich zu und im Wettbewerb mit anderen nationalen Regelsystemen. Im Zuge seiner politischen Karriere avancierte er zu einem alternativen Identitätskonzept zur „Nation“. Insofern könne die Standortdebatte auch als nationaler Selbstverständigungsprozess infolge des ökonomischen Strukturwandels gedeutet werden, in dem der Ort der Bundesrepublik in einer als hochkompetitiv wahrgenommenen internationalen Umwelt neu ausgehandelt wurde. In jenen Auseinandersetzungen seien besonders jene Akteure gehört worden, die ihre Interessen in der innovativen und politisch attraktiven Semantik des Standorts zu artikulieren vermochten.

STEPHAN LESSENICH (Jena) fokussierte in seinem Vortrag den „Ruhestand“ als soziale Praxis und sozialpolitische Leitidee seit den späten 1950er-Jahren. Kaum sei der Ruhestand mit der Rentenreform 1957 demokratisiert gewesen, sei er in den 1980er-Jahren durch einen erneuten Mentalitätswandel und eine damit zusammenhängende neue Semantik des „aktiven Alterns“ moralisch delegitimiert worden. Im Zusammenhang mit neuen Bedrohungsszenarien wie der demografischen „Überalterung“ wurde etwa in den Altenberichten der Bundesregierung das Alter als zusätzlicher Abschnitt eines verlängerten Leistungslebens entdeckt, und zwar nicht nur für die Rentner selbst, sondern auch für die Gesellschaft. Solche und andere Entwicklungen verdichteten sich schließlich in einem „Unruhezustands-“, später in einem „Produktivitätsdispositiv“ des Alters. Im Gegensatz zum „Ruhestandsdispositiv“ der 1960er- und 1970er-Jahre gelte das Alter nun als Potenzial und Ressource, die eigeninitiativ und eigenverantwortlich im Hinblick auf einen breiten gesellschaftlichen Nutzen aktiviert werden müsse.

Im abschließenden Vortrag befasste sich ULRICH BRÖCKLING (Freiburg) mit dem Ende des Planungsparadigmas in den 1970er-Jahren und der Entstehung neuer Steuerungskonzepte sowie deren inhärenten Zeitstrukturen. Nach Bröckling verlor die Planungsidee in den 1970er-Jahren an Einfluss, da sie eine dreifache Delegitimierung erfuhr: erstens durch ihre inneren, nun offenbar werdenden Widersprüchlichkeiten; zweitens durch eine neoliberale Kritik, die dem Markt ein größeres Potenzial an gesellschaftlicher Steuerung zusprach; und drittens durch eine Kritik des geschichtsphilosophischen Überschusses der Planung. Der positive Zukunftsbezug der Planungsidee sei durch eine Vorstellung verdrängt worden, in der die Zukunft als emergentes, nicht antizipierbares und durch Planung nicht gestaltbares Phänomen konzipiert werde. Aus diesen Diskursen sei schließlich mit der Prävention ein neues Handlungskonzept hervorgegangen, das auf die Minimierung der Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter negativer Zukünfte zielte. An die Stelle des Planungsparadigmas trat nach Bröckling ein neoliberales Zukunftsmanagement qua Wettbewerbsförderung, flankiert durch eine „soziale Grammatik der Sicherheit“, die bedrohlich imaginierte Zukünfte durch Strategien der Prävention zu verhindern hoffte.

In den regen Zwischendiskussionen und der Abschlussdiskussion wurde deutlich, wie eng die verschiedenen Themen der Vorträge auf der Ebene der Semantik miteinander verschränkt sind. Vor allem Begriffe aus dem Feld der Systemtheorie und der Kybernetik scheinen die semantischen Transformationen in den 1970er-Jahren in verschiedenen Bereichen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus angeleitet zu haben. Die Leitthese der Tagung, dass sich die Umbruchphase der 1970er-Jahre auch als eine Phase grundlegenden semantischen Wandels von Begriffen und Metaphern der politisch-sozialen Sprache fassen lasse, hat durch den inhaltlichen Ertrag der Vorträge und Diskussionen starke Bestätigung gefunden. Auch hat sich der begriffs- und diskursgeschichtliche Ansatz für den Austausch zwischen einer kulturwissenschaftlich informierten Zeitgeschichte und einer historisch orientierten Sozialwissenschaft als sehr hilfreich und weiterführend erwiesen. Deutlich wurde überdies, wie vielversprechend eine mediengeschichtliche Erweiterung sprachanalytischer Verfahren für den Blick auf die Bedeutungsverschiebungen der 1970er-Jahre sein kann.

Konferenzübersicht

Begrüßung
Wolfgang Streeck (Köln)

Thematische Einführung
Ariane Leendertz (Köln), Wencke Meteling (Marburg)

Tobias Werron (Bielefeld): Wie neu ist Globalisierung? Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten soziologischer Zeitdiagnosen

Friedrich Kießling (Erlangen): Konzepte der Gegenwartsdiagnose im Merkur der 1970er und 1980er Jahre

Ariane Leendertz (Köln): Gesellschaftliche und globale „Komplexität“ als intellektuelle und politische Herausforderung in den 1970er Jahren

David Kuchenbuch (Gießen): „Eine Welt“ im Bild: Mediale Repräsentationen globaler Abhängigkeitsverhältnisse in den 1970er und 1980er Jahren

Alexander Friedrich (Darmstadt): „Vernetzung“ als Modell gesellschaftlichen Wandels. Begriffsgeschichtliche Aspekte einer historischen Problemkonstellation

Ralph Jessen (Köln): „Konkurrenz“ und „Wettbewerb“: Überlegungen zur Begriffskarriere seit den 1970er Jahren

Wencke Meteling (Marburg): „Standort Deutschland“: Nationale Standortsemantiken seit den späten 1980er Jahren

Stephan Lessenich (Jena): Von der Lebensleistung zum Leistungsleben: Legitimationsprobleme des „Ruhestands“

Ulrich Bröckling (Freiburg): Zukunftsmanagement: Von der Planung zur Prävention

Diskussionsteilnehmer
Martin Geyer (München)
Bernd Greiner (Hamburg)
Martin Kindtner (Trier)
Uwe Schimank (Bremen)


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Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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