20 Jahre nach der deutschen Asylrechtsreform: Niedergang oder Transformation des Flüchtlingschutzes?

20 Jahre nach der deutschen Asylrechtsreform: Niedergang oder Transformation des Flüchtlingschutzes?

Organisatoren
J.Olaf Kleist/ Jochen Oltmer, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.06.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Julia Kleinschmidt, Göttingen

In diesem Frühling jährte sich der „Asylkompromiss", den die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP gemeinsam mit der oppositionellen SPD am 26.Mai 1993 beschlossen, zum 20. Mal. Aus diesem Anlass organisierten J. OLAF KLEIST und JOCHEN OLTMER vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) in Osnabrück in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin eine Bestandsaufnahme der historischen Flüchtlingsforschung in und über Deutschland. Olaf Kleist erklärte einführend, dass eben diese in der Bundesrepublik erst in den Anfängen stecke, aber verwies gleichzeitig auf die seit einigen Jahren angelaufenen Projekte, die sich sowohl mit politischen Flüchtlingen, der staatlichen Rolle im Aufnahme- und Ablehnungsprozess, aber auch der zivilgesellschaftlichen Partizipation in der Flüchtlingspolitik beschäftigen. Während die Flüchtlingsforschung im angloamerikanischen Raum bereits seit Längerem etabliert sei, stecke sie in Deutschland in den Kinderschuhen und kämpfe nicht zuletzt mit Determinationen und der Semantik von Begriffen wie Vertreibung/forced migration/Flucht. Aufgrund der auch heute weiterhin tagesaktuellen Bedeutung von Flüchtlingspolitik „müsse Flüchtlingsforschung ethisch sein”, dürfe sich aber nicht dem Schicksal der Betroffenen verschreiben. Hier wurde deutlich, wie sehr praktische und theoretische Zugänge im Feld der Migration und des politischen Asyls miteinander verstrickt sind. Kleist stellte abschließend das von ihm, Jochen Oltmer und Nora Markard initiierte Netzwerk Flüchtlingsforschung.net vor, welches zum Juli online ging, und einerseits einen Überblick über die deutschsprachige Flüchtlingsforschung geben und andererseits die Basis für weitere Symposien und Arbeitsgemeinschaften werden soll.1

In einer Keynote „What is Asylum" sprach GUY S. GOODWIN-GILL (Oxford) über die aktuellen Entwicklungen in der Europäischen Asylrechtssprechung aus juristischer Perspektive. Augehend von dem immanenten Paradoxon zwischen internationaler Handhabe in einer nationalstaatlich organisierten Welt, legte er die Entwicklungen internationaler Vereinbarungen zum Flüchtlingsschutz und die Schwierigkeiten, diese auf nationalem Gebiet umzusetzen, dar. Zugleich betonte Goodwin-Gill, dass Asyl nicht die Antwort auf jede Menschenrechtsverletzung sein könne, dennoch in bestimmten Angelegenheiten das individuelle Recht über dem der nationalen Sicherheitspolitik stehen müsse. Die Rhetorik der letzten Jahre sei, anstatt sich auf tatsächliche Bedrohungen zu konzentrieren, durch Präventionsmaßnahmen von potentiellen Risiken ersetzt worden.

In einem weiteren Schritt konzentrierte sich Goodwin-Gill auf die Verpflichtung, die aus dem Wissen um die Bedrohung für das Individuum sowohl durch die Verfolgung und Flucht als auch nicht menschenrechtswürdige Behandlung als Asylsuchende wachsen würden. Die Urteile zu den Fällen Hirsi und Al-Saadoon2 vor dem EU-Gerichtshof für Menschenrechte hätten gezeigt, dass die Kosten der Schutzgewährung und des Asylprozesses nicht auf die Grenzstaaten der Europäischen Union zu verlagern seien. Goodwin-Gill folgerte daraus, dass die EU-Staaten in indiziert gefährlichen Situationen eine besondere Sorgfalt walten lassen müssten. Das internationale Übereinkommen, dass Menschenrechte nicht verletzt werden dürften, transferiere sich hiermit zu einer positiv formulierten Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte („positive obligation to protect”).

Im ersten Panel „Asyl in Deutschland im Rückblick” widmeten sich die SprecherInnen der westdeutschen Geschichte des Asyls. YVONNE RIEKER (Bochum/Osnabrück) eröffnete das Themenfeld mit einem vertieften Blick auf die Beziehung zwischen internationalen Organisationen wie dem Völkerbund und Flüchtlingshilfsorganisationen und dem Nationalstaat als Verursacher von Flucht und zugleich gesetzgebenden Instanz. Sie konzentrierte sich auf die vielschichtigen Konzeptionen von Aufnahme in Deutschland und Frankreich und legte anhand der jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa und Russland dar, wie die ersten juristischen Ideen zum Flüchtlingsschutz in Form eines Asylrechts diskutiert wurden. Rieker führte aus, dass in Anbetracht eines ethno-nationalistischen Antisemitismus trotzdem Zuflucht gewährt werden konnte, allerdings ohne dass eine dauerhafte Ansiedlung vorgesehen war. Sie erläuterte, dass sich bereits in der Weimarer Republik Mitglieder des parlamentarischen Rats der Verantwortung im Flüchtlingsschutz bewusst gewesen seien und erste Versuche unternommen hätten, diese im Grundgesetz verankern zu wollen.

PATRICE G. POUTRUS (Wien) stellte in seinem Beitrag die Verknüpfung zwischen der Entwicklung des westdeutschen Asylgesetzes mit dem Nationalsozialismus her. Poutrus stellte klar, dass das Asylgesetz zwar als Konsequenz aus der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten entstand, aber auf deren Ausländerpolizeiverordnung aufgebaut worden war und als juristischer Nebensatz zum als „Schutzparagraph für Deutsche“ zugehörigen Artikel 16 des Grundgesetzes zu lesen sei. Auch verwies er auf die problematische Aufnahmepraxis, nach der die lokale Ausländerpolizei noch in den 1950er-Jahren über Entscheidungsbefugnisse verfügte, wer einen Asylantrag stellen durfte. Der eigentliche Umbruch in der Asylpolitik sei mit dem ungarischen Aufstand 1956 und der Entscheidung Konrad Adenauers, 3.000 Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, zu verzeichnen gewesen. Auch hier richtete sich die Quote zunächst auf ethnisch Deutsche in Ungarn oder Ungaren, die bereits in Westdeutschland studierten. Deutlich wurde hier zudem, dass die Gegner des Kommunismus als die richtigen Flüchtlinge im Kalten Krieg angesehen waren. Diese Zuschreibung habe aber nicht geheißen, dass die Aufnahme von osteuropäischen Flüchtlingen unproblematisch abgelaufen sei. Erst die internationalen Entwicklungen und politischen wie kulturellen Umbrüche der 1960er-Jahre führten nach Poutrus dazu, dass die Bundesrepublik 1974 einer Aufnahme von 3.000 chilenischen Flüchtlingen in Folge des Pinochet-Putsches zustimme.

URSULA MÜNCH (Tutzing) wies in ihrem Vortrag auf die problematische Herangehensweise der bundesrepublikanischen Politik hin, das Asylgesetz auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention zu entwickeln und keine engere Bestimmung der Aufnahmegründe vorzunehmen. Ebenso hätte sich die Annahme, dass die Einwanderung durch nationale Gesetze gesteuert werden könne, für die Asylpraxis als unpraktikabel erwiesen. Aus diesen Irrtümern und im Zuge immer neuer Flüchtlingsgruppen entstand eine Strategielosigkeit der 1960er-Jahre, die zu dem Zusammenbruch des zentralen Sammellagers für Flüchtlinge in Zürndorf führte. Als Konsequenz daraus wurden Asylzuständigkeiten von nun an kommunalpolitisch verteilt. Dieser Strukturwandel bewirkte nach Münch die Verschärfung des Asyldiskurses der 1970er- und 1980er-Jahre. Nachdem die Asylanträge in den 1980er-Jahren nach anfänglichen Höchstantragsraten von über 100.000 wieder gesunken waren, wurde dies als Bestätigung von neu eingeführten Maßnahmen wie Arbeitsverbot und Visapflicht interpretiert. Seitdem seien die Parteien daran interessiert gewesen, sich ausländerpolitisch zu profilieren. Münch beobachtete in den 1990er-Jahren Kontinuitäten in der Asylpolitik der vorangegangenen Jahrzehnte, andererseits aber durch eine zunehmende europäische Einbettung von Einwanderungspolitik und vor dem Hintergrund des demografischen Wandels weitreichende Veränderungen in Gesellschaft und Politik.

REINHARD MARX (Frankfurt am Main) konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die Bedeutung der Asylrechtsreform von 1993 für die bundesdeutsche Asylpolitik der letzten 20 Jahre. Marx stellte wie seine Vorrednerin Münch klar, dass die Polarisierung in den Themen Asyl und Menschenrechte kein Phänomen nach der Wiedervereinigung gewesen sei, sondern in den 1980er-Jahren entstanden wäre. Er ordnete den Asylkompromiss von 1993 als Beendigung dieses Prozesses ein. Marx deutete die neue Gesetzgebung als ein Zeichen der Entrechtung, der den zivilgesellschaftlichen Diskurs im Zuge der Anschläge der frühen 1990er-Jahre auf Ausländer stark beeinflusste. Mit Blick auf die Drittstaatregelung machte Marx anschließend die Problematik aufmerksam, dass internationales Recht nach wie vor durch nationales Recht entkräftet werden könne und legte die Dichotomie zwischen internationalen Sachverhaltsregelungen, kommunalen Verfahren und nationalen Gesetzen dar. Dabei wies er auf den Alleingang der Bundesrepublik im Fall der Einzelfallprüfung während des Dublin-Übereinkommen im Jahr 1992 hin. Gleichzeitig zeigte er jedoch auf, dass durch jüngste Rechtsprechungen auf internationaler Ebene die Abschiebung innerhalb der EU für rechtswidrig befunden worden sei.

Im zweiten Panel „Die Politik des Asyls in Europa” ging es um die aktuellen Problematiken von Flüchtlingspolitik in der europäischen Union und an ihren Grenzen. NORA MARKARD (Bremen/ New York) ging in ihrem Vortrag von der Frage „Who is a refugee?“ aus. Rückblickend auf die europäische Wirtschaftsunion und die Schengen- wie Dublin-Verträge erläuterte Markard die Verpflichtungen der Staaten ihren Bürgern gegenüber, ihnen einerseits Bewegungsfreiheit und andererseits Schutz gewähren zu müssen. Danben hätten sich die europäischen Staaten auch verpflichtet, diese Funktion schutzlosen Flüchtlingen gegenüber zu übernehmen. Anschließend ging Markard auf die verschiedenen Statusfragen von Flüchtlingen ein und wies darauf hin, dass Kriegsflüchtlinge keinen internationalen Flüchtlingsstatus besäßen. Zurzeit sei das einzige geregelte Instrument zur Duldung der 2005 eingeführte Abschiebestopp für sechs Monate. Dass im Krieg aber evidenter Weise Menschenrechte verletzt würden, unter anderem da regelmäßig Zivilpersonen Schaden nehmen, sei hier eine Lücke im internationalen Recht zu diskutieren. Sie führte aus, dass die Verbindung zwischen Gewalt und Asyl nicht ausreichend geklärt sei. Eine Lösung, so Markard, könne es sein, die Gewalt zu bezeichnen, sie zu benennen und damit die Aufnahme in internationale Gesetze zu ermöglichen.

EVANGELIA TSOURDI (Brüssel/ Louvain) legte dar, dass das Dublin-System die Verantwortung im Asylprozess auf einige Grenzstaaten der EU konzentriere, obwohl bestimmte Mitgliedsstaaten wie Griechenland die Standards gar nicht erfüllen könnten. Durch eine aktuelle Entscheidung des EU- Gerichtshofs, müsse diese Praxis aber zukünftig entschärft werden. Die Fehlerhaftigkeit des europäischen Asylsystems zeige sich vor allem an der türkisch-griechischen Grenze, an der knapp 90 Prozent der Migrierenden als irreguläre Zuwanderung verzeichnet bzw. vermutet würden. In Griechenland bedürfe es, um den tatsächlichen Flüchtlingen gerecht werden zu können, höherer Aufnahmekapazitäten, besserer Bedingungen in den Aufnahmezentren an den Grenzen und einen gesicherten Zugang zum Asylverfahren. Diese Faktoren seien von Belang, damit überhaupt festgestellt werden könne, wer Schutz brauche, und damit ein Zugang zur potentiellen Legalisierung garantiert werden könne. Tsourdi erläuterte, dass am 7. Juni 2013 ein neues Einwanderungsgesetz in Kraft getreten sei, das erste Schritte in diese Richtung signalisiere. Auch heute könnten zwar die bestehenden Plätze nicht alle Flüchtlinge auffangen, dennoch seien die Aufnahmekapazitäten erhöht. Tsourdi beschrieb die Situation von AsylbewerberInnen als prekär, die nur mithilfe von Kirchen und NGOs überleben können, da der Staat aufgrund seiner Finanzprobleme zu wenig Mittel zur Verfügung stelle.

MAARTEN DEN HEIJER (Amsterdam) erklärte in seinem Vortrag, dass Migration an sich nicht unbedingt als Problem in Europa wahrgenommen werde, sondern vor allem die Zuwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen auf große Ressentiments und staatliche Abschreckungsprogramme stoße. Das Problem von territorialen Staatengrenzen, dass sie zu lang und unsicher seien, hätte in prominenten Fällen wie Israel und USA dazu geführt, über massive Zäune eine Lösung für die ungeregelte Einwanderung zu suchen. Weniger bekannt sei, dass auch Griechenland, die Türkei und Marokko Zäune aufgestellt hätten, um unberechtigte (unauthorised) Migranten abzuhalten. Im aktuellen Flüchtlingsdiskurs wäre die Einwanderung von Roma aus den Balkanstaaten ein weiteres Indiz dafür, wem nach Ansicht Westeuropas der Zugang verwehrt werden solle. Die Behauptung der verantwortlichen PolitikerInnen, dass Roma den „echten“ Flüchtlingen den Platz wegnähmen, deute auf diese zentrale Klassifizierung von Flüchtlingen hin. Diese Problematik werde in der EU-Politik zudem als entscheidender Beitrag zu den Beitrittsverhandlungen der Balkanstaaten gesehen und so hätte der Kandidat Serbien stärkere Ausreisekontrollen eingeführt und wären macedonische Behörden sogar dazu übergegangen, Pässe einzubehalten.

Das dritte Panel wandte sich in Fallstudien der “Situation von Flüchtlingen” zu. FRANCK DUVELL (Oxford) sprach über Flüchtlinge am Rande der EU-Region in Nordafrika und Süd-Osteuropa, da die meisten Flüchtlinge, die in die EU kommen wollten, gar nicht über die Grenzen gelangen würden. Unabhängig vom Bürgerkrieg in Syrien seien in jüngster Zeit in der Türkei neue Abschiebecenter mit EU-Geldern finanziert und ein neues Einreisegesetz etabliert worden. Beides hätte dazu geführt, die Infrastruktur zur Verhinderung der Einreise in die EU zu manifestieren. Duvell zählte diverse Probleme in der Asylaufnahme der EU-Randstaaten auf. Geringe Anerkennungsraten, Rassismus und Gewalt von staatlichen Autoritäten und der Gesellschaft, Korruption und Missbrauch durch Schmuggler und willkürliche Inhaftierungen führten oft zu einer Illegalisierung der Menschen. In einem zweiten Schritt schlug Duvell vor, die unterschiedlichen Flüchtlinge in fünf Gruppen zu kategorisieren, um sie für wissenschaftliche Erhebungen besser erfassen zu können. Neben den „regular resettlement refugees“, die zumeist innerhalb von Nationalstaat und UNHCR vereinbarten Kontingenten ankommen, gebe es demnach Flüchtlinge mit Papieren, die er als „quasi-regular travellers“ chrakterisierte. Die „verborgenen" Reisenden seien nach Duvell mit finanziellen und materiellen Mitteln ausgestatte, besäßen aber kein Visum. Daneben gäbe es die Papierlosen, verborgene Arbeitsmigranten und schließlich die gescheiterten („stranded“) Flüchtlinge, die kaum Arbeitskraft liefern können, über keine Papiere und Fähigkeiten verfügten.

TOBIAS PIEPER (Berlin) berichtete von der Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland. Asylsuchende ebenso wie Geduldete unterlägen jahre-, manchmal jahrzehntelang einer Residenzpflicht und wohnten zumeist in dezentralen Gemeinschaftsunterkünften, von denen ein gutes Drittel lagerähnliche Institutionen wie alte Kasernenkomplexe seien. Über 35 Prozent der Betroffenen seien noch nicht volljährig, 50 Prozent unter 25 Jahre alt und viele in den Heimen und Zentren geboren. Die Abschiebegefängnisse an den großen internationalen Flughäfen erklärte Pieper zu der schärfsten Form der Delegitimation des Fluchtprozesses. Eine von Ausländerbehörden und Polizei inszenierte Kriminalisierung des Tatbestandes Flucht werde hier mit Freiheitsentzug der Betroffenen geahndet. Pieper schilderte die Situation der Menschen, die sich sowohl im Aufnahme- wie im Abschiebeprozess befinden. Sie lebten häufig in staatlich intendierter gesellschaftlicher Isolation und würden kaum bis keine Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft angeboten bekommen. Darum versuchten viele in Asylbewerberheimen untergebrachte Migranten, illegal zu arbeiten und würden darum häufig reell nicht vor Ort wohnen bleiben. Das ergäbe eine Vereinsamung der Unterkünfte, die manchmal nur noch zu 10 Prozent bewohnt seien. Den Charakter der Heime definierte Pieper deswegen als „provisorische Unterbringungsstätte für viele Menschen“.

LIZA SCHUSTER (London) berichtete von ihren Ergebnissen einer dreimonaten ethnografischen Studie, für die sie selbst geführte Interviews, Gespräche und Unterrichtseinheiten über die Situation aus Europa ausgewiesener oder abgeschobener afghanischer Flüchtlinge ausgewertet hatte. Zurzeit leben etwa 90.000 AfghanInnen in Deutschland, 900.000 AfghanInnen in Iran, 1,6 Millionen in Pakistan und es gibt viele weitere undokumentierte Fälle. Leitend sei für Schuster die Frage gewesen, was die Deportation mit den Menschen mache. Als deutliches Ergebnis könne sie berichten, dass keiner der Menschen die aus Europa kamen, nun in Afghanistan bleiben wollten. Die zukünftigen Handlungsmöglichkeiten seien ebenso variabel und vielzählig wie die Menschen selbst. Sie würden teils gekidnappt, getötet oder „verschwänden“. Viele könnten von ihrer Remigration und erneuter Deportation/Abschiebung berichten. Der Großteil der ausgewiesenen Flüchtlinge sei männlich und unter 40 Jahre alt. Diese Gruppe würde aber auch die höchste Bereitschaft zur Remigration zeigen. Sie litten unter einem Stigma, alles verloren zu haben und daher wäre eine Rückkehr für sie häufig unmöglich. Die vor Ort an den Rückkehrpunkten bestehenden Hilfsangebote würden teils abgelehnt und teils benutzt, um die Remigration zu erleichtern. Deportation, so Schuster, sei nicht das Ende der Migration.

Die sehr unterschiedlichen Vorträge ermöglichten einen wie von den Veranstaltern intendierten breiten Einblick in die Forschungslandschaft der Asylpolitik. Gleichzeitig zeigte sich, dass die juristischen Herangehensweisen an das Thema sich von den historischen und ethnographischen/soziologischen Studien stark unterscheiden. Die Theoretisierung des Feldes der Asylpolitik bleibt, so scheint es, noch immer den Rechtswissenschaften überlassen. Die eher junge Forschung zur Flüchtlingspolitik in den Geschichtswissenschaften dagegen muss sich noch viele Zusammenhänge erarbeiten, lässt aber aufgrund laufender Projekte auf baldige Studien hoffen.

Immer wieder wurden die Richtersprüche zur Abschiebepolitik der EU-Staaten der letzten drei Jahre des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die damit verbundenen Hoffnungen als potentieller Auslöser einer zukünftig humaneren Asylgesetzgebung auch in Deutschland thematisiert. Es ist zu hoffen, dass diese Tagung nur der Auftakt zu einem, auch durch das neu gegründete Netzwerk flüchtlingsforschung.net, weitereren und intensiveren Austausch zwischen den Disziplinen und Konkretisierung innerhalb der Fächer beitragen kann.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einleitung
J. Olaf Kleist (Universität Osnabrück)

Keynote
Guy S. Goodwin-Gil
(All Souls College, University of Oxford)
What is ‘asylum’?

Panel I: Asyl in Deutschland im Rückblick
Moderation: Jochen Oltmer (Universität Osnabrück)

Yvonne Rieker
(Ruhr Universität Bochum / Universität Osnabrück)
Asylrecht und Asylgewährung im Europa der Zwischenkriegszeit – transnationale Rechtsfragen und politische Handlungsfelder

Patrice G. Poutrus
(Simon-Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien, Wien)
Von Beginn an umstritten. Asylrecht, Asylpolitik und Asylpraxis in der frühen Bundesrepublik (1949 – 1976)

Ursula Münch
(Akademie für Politische Bildung, Tutzing)
Asylpolitik unter dem Eindruck steigender Asylbewerberzahlen – Asylgewährung in den 1980er und 1990er Jahren

Reinhard Marx
(Rechtsanwalt, Frankfurt am Main)
Asylrechtsreform 1993 aus der Sicht von 2013

Panel II: Die Politik des Asyls in Europa
Moderation: Guy S. Goodwin-Gill

Nora Markard
(Universität Bremen / Columbia University, New York)
Disparate Minimum Protection Standards: The Qualification Directive

Evangelia (Lilian) Tsourdi
(Université libre de Bruxelles / Université catholique de Louvain)
The Common European Asylum System under strain: the case of the Greek asylum system

Maarten Den Heijer
(University of Amsterdam)
Shifting migration control – a legal perspective

Panel III: Die Situation von Flüchtlingen
Moderation: J. Olaf Kleist

Franck Düvell
(University of Oxford)
Refugees on the margins of Europe: their legal, social and economic situation and modes of entry to the EU

Tobias Pieper
(Opferperspektive, Berlin)
Das Flüchtlingslagersystem in Deutschland

Liza Schuster
(City University London)
The Consequences of Deportation: Death, Debt and Desolation

Anmerkungen:
1 <www.fluechtlingsforschung.net> (13.09.2013).
2 Urteile unter <http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-97575#{"itemid":["001-97575"]}ot;001-97575"]}> und <http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-109231#{"itemid":["001-109231"]}t;001-109231"]}> (13.09.2013).


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