Der Nabel der jüdischen Welt. Eine internationale Tagung entdeckt die Frankfurter Judengasse als Forschungsthema wieder

Der Nabel der jüdischen Welt. Eine internationale Tagung entdeckt die Frankfurter Judengasse als Forschungsthema wieder

Organisatoren
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main: Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit und Seminar für Judaistik; Jüdisches Museum Frankfurt am Main; Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden; Leo Baeck Institute (Jerusalem)
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.05.2004 - 18.05.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Constanze Baumgart, Köln

In dieser Straße liegen die Wurzeln der Familie Rothschild, und der Dichter Juda Löb Baruch, besser bekannt unter dem Namen Ludwig Börne, wurde hier geboren. Lange Zeit waren das wohl die bekanntesten Fakten über die Frankfurter Judengasse. Das änderte sich schlagartig, als 1987 Bauarbeiten Häuser-Fundamente der Judengasse zu Tage förderten. Die Funde führten zu einer heftigen Debatte, waren die Steine doch Zeugnisse eines ebenso bedeutenden wie brisanten Stücks Frankfurter Stadtgeschichte. Das jüdische Ghetto, errichtet 1460/62, war lange Zeit identisch mit der jüdischen Gemeinde der Stadt. Erst die Französische Revolution brachte den Juden freies Wohnrecht in der ganzen Stadt. Ende der 1880-er Jahre wurden die letzten baufälligen Häuser abgerissen. Die Diskussion über die Erhaltung der Fundamente kam relativ zügig zu einem Ergebnis: 1992 öffnete - unter den Fittichen des Jüdischen Museums Frankfurt - das Museum Judengasse seine Pforten.

Das wiedererwachte Interesse am jüdischen Ghetto machte schnell den eklatanten Mangel an moderner wissenschaftlicher Literatur deutlich. Das gilt nicht nur für Frankfurt, generell ist die Geschichte der Juden im frühneuzeitlichen Deutschland bisher wenig erforscht. Grund genug für eine wissenschaftliche Tagung, denn, wie der israelische Historiker Prof. Dr. Robert Liberles (Ben-Gurion University of the Negev und Direktor des Leo Baeck Institute Jerusalem), Mitglied der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden, betont: "Frankfurt stand im Zentrum von nahezu allem, was in der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte im Alten Reich geschah."

Vorbereitet wurde diese internationale und interdisziplinäre Tagung, die vom 16.-18. Mai 2004 stattfand, von einem Arbeitskreis, dem von Seiten der Frankfurter Universität Prof. Dr. Margarete Schlüter (Seminar für Judaistik) und Dr. Gisela Engel (Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit) angehörten; das Jüdische Museum Frankfurt war vertreten durch seinen Direktor Georg Heuberger und den Leiter der Dependance Museum Judengasse Fritz Backhaus. Aus der israelischen Judaistik war Robert Liberles dazugestoßen. Gefördert wurde die Tagung vom Leo Baeck Institute (Jerusalem), von den Freunden und Förderern des Leo Baeck Institute (Frankfurt), von der Stiftung zur Förderung der internationalen Beziehungen der JWGU, von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden (als Mitveranstalter) und von der Rothschild GmbH.

25 Wissenschaftler aus fünf Ländern trugen die Ergebnisse ihrer teilweise langjährigen Beschäftigung mit der Frankfurter jüdischen Geschichte und der Judengasse zusammen. So konnten Forschungsstand und -perspektiven umfassend beleuchtet werden. Die Historiker, Judaisten, Rechtshistoriker, Germanisten und Kunsthistoriker und nahmen sehr unterschiedliche Aspekte der Geschichte und Kultur der Judengasse in den Blick: soziale, rechtliche und politische Strukturen, die Beziehungen zwischen Juden und Christen, aber auch Ethnografie und Historiografie der Judengasse.

Die Gründe für Frankfurts Bedeutung und konkurrenzlose Stellung erklärte Rotraud Ries. Eine Reihe günstiger Faktoren bildete die Basis, auf der die Gemeinde der Reichsstadt im 16. Jahrhundert zum Nabel der jüdischen Welt aufstieg und selbst Wien oder Prag übertrumpfte. So machten die Messen die Stadt zu einem hoch attraktiven Wirtschaftsstandort, das "kaisernahe" Frankfurt bot den Juden Schutz, und auch geografisch lag die Stadt im Zentrum. Demografische Grundlage dieser Machtposition, die Frankfurt bis ins 18. Jahrhundert hielt, war ein explosionsartiges Wachstum der jüdischen Bevölkerung der Stadt im 16. Jahrhundert, das Fritz Backhaus einer genauen Betrachtung unterzog.

Gleich mehrfach wurden auf der Konferenz die jüdisch-christlichen Beziehungen thematisiert. So etwa in der Sektion "Juden vor Gericht" vor dem Hintergrund, dass in nahezu allen Gerichtsverfahren, die über Bagatellfälle hinausgingen, Christen über Juden urteilten. Schlaglichtartig beleuchtet wurde dieses Verhältnis aber auch, als Wolfgang Treue (Universität Düsseldorf) Frankfurter Ratsherren und jüdische Gemeindevorsteher in Verhalten und Amtsverständnis verglich und auf verblüffende Parallelen stieß.

Mit Treue und seinem ebenfalls anwesenden Jerusalemer Kollegen Yacov Guggenheim geriet ganz nebenbei auch das wohl größte Forschungsprojekt zur deutschen jüdischen Geschichte in den Blick: Beide sind Mitarbeiter der Germania Judaica, ein Projekt, das vor rund 100 Jahren ins Leben gerufen wurde. Ziel ist eine Enzyklopädie zur Geschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich. Zur Zeit nimmt die Germania Judaica IV die frühe Neuzeit in Angriff.

Zu den wohl originellsten Quellen zur jüdischen Geschichte Frankfurts gehören die "Jüdischen Merckwürdigkeiten" des Johann Jakob Schudt. 1714 erschienen, bieten sie aller Voreingenommenheit des protestantischen Theologen Schudt zum Trotz reiche Informationen über die Frankfurter Juden. Zwei junge israelische Forscher, Aya Lahav und Yaacov Deutsch, unterziehen zur Zeit den umfangreichen Text einer genauen Analyse. Ihre weitere Forschung verspricht hier unter anderem vertiefte Erkenntnisse über das christlich-jüdische (Wechsel-) Verhältnis.

In der modernen Historiografie ragt die bis heute einzige Gesamtdarstellung, die "Geschichte der Judengasse zu Frankfurt am Main" (1904) von Isidor Kracauer, wie ein Meilenstein heraus. Das Werk des deutsch-jüdischen Historikers ist gleichzeitig wissenschaftliche Darstellung und historisches Zeitzeugnis. Christhard Hoffmann (Universität Bergen) machte Kracauers Perspektive deutlich: Es war die des durch die Aufklärung geprägten, "verbürgerlichten" Juden. Sein sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Ansatz ist sehr modern; im Gegensatz zu vielen jüdischen Historikern schreibt er keine Religionsgeschichte. Und er widersteht ausgeprägten Tendenzen seiner Zeit: Weder verteufelt Kracauer das Ghetto als Denkmal historischer Unterdrückung und Isolation, noch verklärt er es romantisch.

Über Entstehung und Definition des Begriffs Ghetto hatte zu Beginn der Tagung der Venedig-Experte Benjamin Ravid (Brandeis University Massachusetts) reflektiert - bekanntlich liegt das "Copyright" für diesen Begriff bei den Venezianern. Doch noch ist die Frage nicht geklärt, wann das Wort "Ghetto" die Alpen überquerte. Fest stand für Ravid jedoch eins: Nie hat ein Jude der Frankfurter Judengasse von sich gesagt, er lebe in einem Ghetto.

Auf der Tagung hatten Detailanalysen das Bild geprägt und so deutlich gemacht, welch erhebliche Forschungslücken es noch zu füllen gilt. Als ein wichtiges Forschungsdesiderat kristallisierte sich der Wunsch heraus, die Geschichte des Frankfurter Ghettos mit der Geschichte anderer Ghettos in Europa oder mit der Geschichte nichtghettoisierter jüdischer Gemeinden zu vergleichen. Wichtige Erkenntnis: Für ein Verständnis des Ghettos entscheidend ist der vergleichende Blick zur christlichen Bevölkerungsmehrheit und zu den Dynamiken in der hegemonialen Kultur. Denn auch wenn sich das Ghetto als "Stadt in der Stadt" entwickelte, war es trotzdem eng verbunden mit seiner städtischen Umwelt: Aller Abgrenzung zum Trotz war es doch mehr ein Miteinander als ein Nebeneinander.

Zur Konferenz wird ein Tagungsband mit allen Beiträgen publiziert werden (voraussichtlicher Erscheinungstermin: März 2005).