9. Promovierendentage zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Methoden, Inhalte und Techniken im Umgang mit Streitgeschichte

9. Promovierendentage zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Methoden, Inhalte und Techniken im Umgang mit Streitgeschichte

Organisatoren
Institut für Hochschulforschung (HoF), Universität Halle-Wittenberg; Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Ort
Lutherstadt Wittenberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.07.2013 - 21.07.2013
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Von
Marcus Böick, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Folgt man einem hartnäckigen Historiker-Bonmot, dann trafen in der Wittenberger Leucorea vermeintliche Gegenspieler in den medial entgrenzten Deutungskämpfen um die Geschichte aufeinander: Zeitzeugen hier, Nachwuchshistoriker/innen dort. Ein Dutzend Promovierende konnte Gastgeber PEER PASTERNACK (Wittenberg) begrüßen, die der Einladung des Instituts für Hochschulforschung (HoF) und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu den neunten Promovierendentagen zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte, die vom 18. bis 21. Juli 2013 in Lutherstadt Wittenberg stattfanden, gefolgt waren. Mit der Oral History stand eine nicht unumstrittene erfahrungsgeschichtliche Forschungstechnik zur Zeitzeugenbefragung im Fokus, die sich in den späten 1970er- und 1980er-Jahren in der bundesdeutschen NS-Geschichtsschreibung ihren Platz gegen beträchtliche sozialhistorische „Subjektivismus“-Vorbehalte erst erkämpfen musste – und gegenwärtig im Feld der DDR-Geschichtsschreibung ein bemerkenswertes Revirement erlebt. Grund genug also, sich in einem Praxisworkshop erneut mit diesem theoretisch wie praktisch anspruchsvollen Themenfeld auseinanderzusetzen.

Einen Blick durch einige, in zwanzig Jahren eigener Forschungspraxis justierte „Brenngläser“ gewährte ALFONS KENKMANN (Leipzig) den Teilnehmer/innen in seinem Abendvortrag zum Thema „Zeitzeugen und Zeitgeschichte“. Anhand eines eindrücklichen WDR-Werbefilms aus dem Jahr 1975 mit dem plakativen Titel „War Opa Revolutionär?“ zeichnete Kenkmann nach, wie der Zeitzeuge letztlich über einen Umweg in die bundesdeutsche Wissenschaft gelangte: Durch den 1973 von Bundespräsident Gustav Heinemann und der Körber-Stiftung ausgelobten Schülerwettbewerb, der einer bis dahin in Deutschland kaum anerkannten Forschungspraxis zum gesellschaftlichen „Durchbruch“ verholfen habe, wie Kenkmann pointiert argumentierte. Dieser republikweite schulische Wettstreit habe zu einer spürbaren „Vitalisierung der bundesdeutschen Geschichtskultur“ beigetragen, indem er die Auseinandersetzung mit regionalen, lokalen wie familiären Geschichten breitenwirksam forciert habe: Der „großväterliche Zeitzeuge“ habe sich vermehrt dem „jugendlichen Hobbyhistoriker“ im nicht immer konfliktfreien Dialog gegenüber gesehen; am Familientisch wurde nun vermehrt um die Erteilung eines „intergenerationellen TÜVs“ verhandelt, wie Kenkmann griffig formulierte. Derlei Impulse zu einer Geschichte „von unten“ wurden auch in der akademischen Geschichtswissenschaft – etwa in Martin Broszats „Bayern-Projekt“ oder dem Programm zu „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet“ unter Leitung von Lutz Niethammer – aufgenommen; auch Kenkmann selbst wusste dies an eindrücklichen, selbst eingefangenen Quellenbeispielen zu belegen. In der folgenden Diskussion wurde insbesondere die in der Oral History zur NS- wie zur DDR-Geschichte verbreitete Grenzziehung zwischen „guten“ und „schlechten“ Zeitzeugen problematisiert: Diese erfolge entlang schematischer, moralisch imprägnierter Opfer-Täter-Dichotomien und führe forschungspraktisch dazu, dass man zwar „authentischen“ Stimmen der Opfer einerseits breiten Raum gewähre – sich aber meist nicht um subjektive Deutungen „der“ Täter bemühe.

Mit ALEXANDER VON PLATO (Winnipeg/Hagen) und ALMUT LEH (Hagen) offerierten zwei ausgewiesene Oral Historians tiefe Einblicke in Theorie und Praxis ihrer Spezialdisziplin. Diskutiert wurden verschiedene Gesprächstypen (Experteninterviews, lebensgeschichtliche Interviews, Gruppen-, Familien- oder Paarinterviews, quantitative Befragungen) sowie unterschiedliche Verfahren zur Auswahl der Gesprächspartner/innen (Schneeballprinzip, Netzwerk, Sozialauswahl), die vor allem dem explorativen Einfangen „verschiedener Erfahrungsdimensionen“ dienen sollen, ohne aber dabei einer „Illusion der Repräsentativität“ zu verfallen. Auch praktische Aspekte der Gesprächsvorbereitung und -gestaltung wie die Erstellung eines Leitfadens oder mögliche kommunikative Varianten zur „Aktivierung der Erinnerung“ wurden exemplarisch vertieft. Der spezifische kommunikative Gegensatz von situativer Intimität einerseits und professioneller Distanz andererseits erweise sich dabei, so Leh und von Plato, als das spannungsreiche wie produktive Movens, das die dialogische Quellenproduktion vorantreibe.

Den Übergang von der Theorie zur Praxis markierte ein von ULRICH MÄHLERT (Berlin) moderiertes Podiumsgespräch mit den drei Schauspieler/innen Uta Koschel, Thomas Pötzsch und Andrej Kaminsky. Als Zeitzeugen berichteten sie aus subjektiver Perspektive über ihre jeweiligen Erfahrungen vor, während und nach der Friedlichen Revolution 1989/90: Dabei wurde etwa der „Nischen“-Charakter des Theaterspielens innerhalb der DDR-Gesellschaft herausgestellt, die individuelle Furcht vor unberechenbarer staatlicher Repression beschrieben oder mit einiger Verwunderung an das gerade für die Bühnenakteure selbst überraschende Maß an Politisierung des ostdeutschen Theaterpublikums im Jahr 1989 erinnert: So habe eine an sich harmlose Zeile über das vergebliche Innehalten im heftigen Schneetreiben zu hitzigen wie unverhofften Gefühlsaufwallungen seitens des Publikums geführt. Aber auch die Phase nach der revolutionären „Euphorie“ wurde angesprochen, deren sich rapide wandelnde gesellschaftliche Kontexte den Theaterschaffenden einiges an individueller Neuorientierung abverlangten; schließlich galt es, neue „Feindbilder“ aufzuspüren, an denen man sich produktiv abarbeiten könne. Interessanterweise wussten alle drei Schauspieler/innen von durchaus erfolgreichen Berufswegen nach 1989/90 zu berichten, die sie auch zu Engagements an Bühnen im Westen und Süden der vereinten Republik führten und welche sie nicht zuletzt mit ihrer soliden Ausbildung an den Schauspielschulen der DDR in Verbindung brachten: In der deutsch-deutschen Theaterszene nach 1990 schien also eine „DDR-Biographie“ kein Karrierehemmnis zu sein.

Das abendliche Podiumsgespräch bildete den Auftakt für den eigentlichen Praxisteil, die mehrstündigen Gesprächstrainingseinheiten mit den drei Theaterschauspieler/innen. Die Kleingruppen von Interviewern wurden während des Gesprächs wiederum durch die anwesenden Oral-History-Experten aufmerksam beobachtet. Eine gemeinsame Präsentation und Diskussion der Gesprächsverläufe und -resultate bildete den Schwerpunkt des zweiten Nachmittags: Hierbei kreisten die Diskussionen vor allem um Fragen einer angemessenen Transkription der Gespräche, dem Nutzen von elektronischen Auswertungsprogrammen bzw. Datenbanken sowie (rechtliche) Fallstricke bei der Archivierung oder Veröffentlichung des gesammelten erfahrungsgeschichtlichen Quellenmaterials. Das Abendprogramm wurde von CHRISTIANE BERTRAM (Tübingen) bestritten, die in einem anregenden Vortrag über ihr empirisch-analytisches Forschungsprojekt berichtete, das anhand verschiedener Probeunterrichtsformen und Umfrageschleifen die pädagogische Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht untersucht.

In der abschließenden Sitzung stand schließlich die sachgerechte quellenkritische Interpretation der gewonnenen empirischen Quellenmaterialien im Mittelpunkt: Welche Rolle spielen verschiedene, meist implizite Deutungsfolien auf Seiten der Historiker/innen, wie etwa vorsichtige Formen der Psychoanalyse? Können standardisierte Analyseverfahren bzw. -techniken der qualitativen Sozialforschung Abhilfe schaffen? Wie verändert die zunehmende Multimedialität den Charakter der Quellen, die zunehmend in Text-, Ton- und filmischer Form vorliegen? Und schließlich wurde auch die Gretchenfrage der Oral History berührt: Wie geht man mit der meist beträchtlichen zeitlichen Distanz zwischen subjektivem Erleben und interaktivem Berichten um? Anders gewendet: Welchen interpretativen Wert haben retrospektive Zeitzeugeninterviews als von Historiker/innen eigens erzeugte „Traditionsquellen“ gegenüber zeitgenössisch verfertigten „Überresten“ – etwa Akten aus der staatlichen Verwaltung?

Die theoretischen wie praktischen Reflexionen über Vorzüge, aber auch Gefahren bei der sachgerechten Generierung und kritischen Interpretation erfahrungsgeschichtlichen Quellenmaterials erscheinen rückblickend als Quintessenz der Promovorierendentage: Eine Oral History, die ihre eigenen Entstehungs- und Produktionsbedingungen sowie interpretative Potenziale und Grenzen entsprechend beständig reflektiert, kann damit Zeitzeugen und Zeithistoriker/innen aus ihrer (vermeintlichen) „Feindschaft“ herausführen und auch künftig – gegenläufiger Erwartungen und Interessen zum Trotz – zu einem produktiven Miteinander anregen, wenn es darum geht, erfahrungsgeschichtlich-subjektive Dimensionen in der Geschichte anhand vielfältiger (Lebens-)Geschichten auszuleuchten.

Konferenzübersicht

Peer Pasternack: Begrüßung und Einführung

Vorstellung der Dissertationsprojekte im Plenum

Vortragsgespräch

Alfons Kenkmann: Zeitzeugen und Zeitgeschichte

Workshop zum Thema Zeitzeugeninterviews
Leitung: Almut Leh, Alexander von Plato

Podiumsgespräch
Moderation: Ulrich Mählert

Uta Koschel, Thomas Pötzsch und Andrej Kaminski: Theater in der Friedlichen Revolution

Workshop: Methoden der Oral History
Leitung: Uta Koschel, Thomas Pötzsch, Andrej Kaminski

Vortrag

Christiane Bertram: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht

Fortsetzung und Abschlussrunde des Workshops


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