Ist forschend-historisches Lernen im Geschichtsunterricht noch zeitgemäß? Reflexion zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2012/2013

Ist forschend-historisches Lernen im Geschichtsunterricht noch zeitgemäß? Reflexion zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2012/2013

Organisatoren
Körber-Stiftung, Lehrstuhl Didaktik der Gesellschaftswissenschaften; RWTH Aachen University
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.04.2013 - 27.04.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefanie Paufler-Gerlach, Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, RWTH Aachen University

„Ist forschend-historisches Lernen im Geschichtsunterricht noch zeitgemäß?“ – unter dieser zentralen Fragestellung veranstaltete das Körber-Netzwerk Geschichtsvermittlung in Kooperation mit der Professur Didaktik der Gesellschaftswissenschaften der RWTH Aachen University eine wissenschaftliche Tagung, um gemeinsam mit Praktikern und Geschichtsdidaktikern den diesjährigen Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten kritisch zu reflektieren. Die Tagung verfolgte das Ziel, an der Schnittstelle von theoretischer Lehre und praktischer Anwendung die normativen Zielsetzungen des forschend-historischen Lernens anhand aktueller schulischer Anforderungen und jüngster Forschungsergebnisse zu überprüfen.

In seinem einführenden Vortrag präsentierte STEFAN FRINDT (Körber-Stiftung) zunächst Themen und Tendenzen der diesjährigen Beitragsarbeiten und zog eine erste inhaltliche und statistische Bilanz. Gleichzeitig benannte er aber auch ein grundsätzliches Problem des forschend-historischen Lernens, nämlich die Herausforderung des selbständigen Arbeitens und der damit häufig verbundenen Überforderung der teilnehmenden Schüler/innen. Denn einer Anzahl von über 1.300 eingereichten Arbeiten und der Teilnahme von insgesamt 4.956 Schülerinnen und Schülern am diesjährigen Wettbewerb steht eine geschätzte Quote von bis zu 50% nicht abgeschlossener Arbeiten gegenüber. Als mögliche Ursachen führte er hierfür die schulischen Rahmenbedingungen wie G8 und Ganztagsbetreuung und eine fehlende intrinsische Motivation auf, demgegenüber können Projekterfolge wiederum auf die individuelle Wissbegierde und eine stringente Fragestellung zurückgeführt werden. Thematisch orientierten sich die eingereichten Arbeiten schwerpunktmäßig an der lokalen Nachbarschaft und am zeitgeschichtlichen Kontext, wobei der Nationalsozialismus nur vereinzelt behandelt wurde. Die erste Sichtung der Arbeiten verweist zudem auf die Zunahme von Zeitzeugenbefragungen, während die Arbeit in Archiven rückläufig ist und tendenziell ein Anstieg von kreativen Beiträgen wie Spielen, Filmen und Hörspielen zu verzeichnen ist.

In der anschließenden Sektion „Schülerprojekte beim Geschichtswettbewerb begleiten“ stand das studentische Engagement im Fokus. AMELIE DIEDERICHS und LENA HABERSTROH (Heidelberg) berichteten von ihren Erfahrungen als Tutoren und skizzierten den Verlauf ihrer Projektbegleitung. Sie unterstützten zehn Schüler/innen der neunten Klasse einer Förderschule bei der Konzeption eines Stadtrundgangs zu einer lokalen Sage. Probleme beim Textverständnis erschwerten jedoch die Recherche und die Erschließung von Quellen, so die beiden Studentinnen. Bereits die Themenfindung und die Arbeitsorganisation überforderten die Schüler/innen, so dass die beiden Referentinnen die forschend-historische Projektarbeit an Förderschulen als schwer umsetzbar bewerteten. In der sich anschließenden Diskussion wurden die Grenzen und Möglichkeiten des Wettbewerbs an Förderschulen, aber auch an anderen Schulformen kontrovers diskutiert. Denn die Defizite bei der Arbeitsorganisation und der Themenfindung impliziert zugleich die Frage des Grades an Unterstützung durch den betreuenden Tutor, da dieser die Eigenständigkeit der Schüler/innen und schließlich auch ihre Eigenleistung beeinflussen könnte.

Eine andere studentische Sichtweise auf den Wettbewerb nahmen IRINI MITANOUDI und JULIA LAQUEUR (Duisburg-Essen) ein. Sie stellten die ersten Ergebnisse ihrer qualitativen Untersuchung vor, die sie im Rahmen ihrer Staatsexamensarbeit ermittelt haben. Ihr Erkenntnisinteresse galt dabei den methodischen Fähigkeiten der Schüler/innen und den Ursachen für einen (möglichen) Abbruch der Forschungsarbeiten, die in zwei Schulgruppen mit insgesamt 15 Probanden mittels offener Fragebögen und den eingereichten Wettbewerbsbeiträgen ermittelt wurden. Zusätzlich wurden die Lehrertagebücher der beteiligten Tutoren ausgewertet. Aufgrund ihres Befunds, dass die aktuellen schulischen Rahmenbedingungen eine kontinuierliche Bearbeitung beeinträchtigen und die Betreuung durch Tutoren den Lernzuwachs der Schüler/innen begünstigten, favorisierten die beiden Studentinnen die Entwicklung eines modulierten Konzepts des Wettbewerbs: An strategischen Zeitpunkten, wie beispielsweise zur Mitte der dreimonatigen Forschungsphase, sollten Module angeboten werden, die gleichermaßen methodische Anregungen und motivierende Aspekte beinhalten. Ferner könne die Installation einer Kommunikationsplattform eine erfolgreiche Teilnahme begünstigen, damit Fragen und methodische Unsicherheiten zeitnah und entsprechend den medialen Affinitäten der Zielgruppe zeitgemäß geklärt werden können.

Ein zentrales Anliegen der Tagung bestand in dem Erfahrungsaustausch zwischen den Tutor/innen. Im Spannungsfeld zwischen „Kooperationspartner“ und „Krisenmanager“ bewegte die insgesamt über 50 studentischen Tutoren vorrangig die Frage „Was zeichnet einen guten Tutor aus?“. Die Debatte konkretisierte zum einem den Wunsch nach einer stringenteren Zusammenarbeit mit den Schulen bzw. Lehrkräften, da häufig organisatorische Diskrepanzen die inhaltliche Betreuung überlagerten, und zum anderem die Unsicherheit des Grades an methodischer und inhaltlicher Unterstützung. Das hier thematisierte Dilemma zwischen Forderung und Förderung verdeutlicht das Desiderat offener Lernformen im schulischen Alltag, denn diese müssen erst eingeübt werden und dies muss gleichermaßen für Lerner und Lehrerinnen bzw. Tutor/innen gelten. Ein dezidierteres Format des Beurteilungsbogens seitens des Wettbewerbsträgers könne zudem zukünftig Synergieeffekte sowohl für Schüler/innen als auch für die Tutor/innen erzielen, um Ansprüchen und Bedürfnissen besser gerecht zu werden.

BODO VON BORRIES (Hamburg) widmete sich in seinem Abendvortrag den Fragen „Ist Forschendes Lernen mehr als der Geschichtswettbewerb? Ist Historische Kompetenz mehr als lokalgeschichtliche Re-Konstruktion?“. Er sprach sich mit Blick auf die in den Schülerarbeiten herangezogenen Materialien und Medien dafür aus, das forschende Lernen um die historische Grundoperation der De-Konstruktion zu ergänzen. Entsprechend des Kompetenzmodells „FUER Geschichtsbewusstsein“ betonte von Borries, dass die Erforschung eines historischen Phänomens nicht nur die Heuristik, Kritik und Interpretation von Quellen umfasst und somit eine reine Re-Konstruktion erfolgt, sondern beim Forschen auch Darstellungen herangezogen werden. Während die Deutungen im wissenschaftlichen Kontext rezipiert und revidiert werden, reduziert sich der Anteil beim forschenden Lernen häufig auf die bloße Informationsentnahme. Der Hamburger Geschichtsdidaktiker plädierte für eine stärkere Beachtung der De-Konstruktion im Rahmen des Wettbewerbs, weil sie die Wahrnehmung von Sachurteilen fördere und ergo einen wichtigen Beitrag zum Verständnis geschichtskultureller Angebote leiste. Demnach sei forschendes Lernen auch nur an Darstellungen möglich, da sie das gleiche Potential zur Erforschung historischer Phänomene besäßen und dieser Prozess zu ähnlichen Einsichten und Entdeckungen führe wie die Arbeit mit Quellen.

Dass forschend-historische Zugänge auch eng mit dem außerschulischen Lernen verknüpft sind, verdeutlichte die erste Sektion des zweiten Konferenztages. Den Auftakt und einen praxisnahen Bezug bildeten Stadtrundgänge, die fernab der klassischen Routen wie dem Dom und der Kaiserpfalz von Aachener Lehramtsstudierenden geleitet wurden. Ihre Auswahl von weniger prominenten Plätzen basierte auf den Ergebnissen eines didaktischen Hauptseminars im vorausgegangenen Wintersemester. CHRISTIAN KUCHLER (Aachen) ergänzte und vertiefte mit seinem Vortrag die konzeptuellen Grundideen der Führungen um die Perspektive des didaktischen Potentials von Städten als Lernräume. Er zog zunächst einen Vergleich mit dem klassischen Frontalunterricht: lokale Erkundungen folgten häufig der Narration eines Stadtführers, wobei dieser den alleinigen Redeanteil einnehme und zugleich auch die Auswahl von stadthistorischen Attraktionen bestimme. Dieser Umstand trage dazu bei, dass die Bedeutung und der Wandel von historischen Orten nur marginal erschlossen und kaum Fragen abgeleitet werden, die zu einer eigenständigen Rekonstruktion von Geschichte führen könnten. Um das didaktische Potential von Exkursionen zu historischen Stätten und Städten zu optimieren, bedürfe es eines multisensorischen Lernens vor Ort. Dies wiederum involviere eine neue Dimension für das historische Lernen, die durch das Durchschreiten, Anfassen und Vermessen des historischen Ortes erzielt werden könne. Somit fördere der haptische Zugang die Wahrnehmungs- und Erschließungskompetenz.

Im Anschluss an diese lerntheoretischen Ausführungen präsentierte JOHANNES MEYER-HAMME (Hamburg) in seinem Vortrag das Konzept eines modifizierten Arbeitsleitfadens, der in einer Projektwerkstatt zum Geschichtswettbewerb an der Universität Hamburg entwickelt wurde. Studierende erarbeiteten zunächst relevante Aspekte der historischen Projektarbeit und diskutierten diese dann gemeinsam mit Experten der Geschichtsdidaktik und der Schulpraxis. Praxisnah hospitierten sie anschließend an acht am Wettbewerb teilnehmenden Schulen, wobei ihr Hauptinteresse den Arbeitsblättern der Körber-Stiftung galt. Basierend auf diesen Beobachtungen und Bewertungen entwickelte Meyer-Hamme einen gestuften Leitfaden, der sowohl Jörn Rüsens Regelkreis des historischen Denkens als auch die unterschiedlichen Niveaus der Lernenden berücksichtigt. Ziele des Konzepts sollen demnach zum einen eine stärkere Anleitung des Arbeits- und Schreibprozesses sein und zum anderen auch eine Reduktion des Textumfangs der bisherigen Arbeitsblätter.

Als Fazit der Tagung kann festgehalten werden, dass sich die Frage des zeitgemäßen forschend-historischen Lernens nicht erschöpfend mit methodischen Empfehlungen erwidern lässt. Die Vorträge und Diskussionen illustrierten vielmehr, dass die Fragestellung eng mit dem medialen und digitalen Wandel zusammengedacht werden muss, wobei hierfür weitere empirische Untersuchungen unabdingbar sind. Nötig ist jedoch auch eine präzisere Schärfe des Begriffs „Forschendes historisches Lernen“ in der Geschichtsdidaktik, um theoriegeleitet und domänenspezifisch die normativen Zielsetzungen zu untersuchen.

Konferenzübersicht:

Stefan Frindt (Körber-Stiftung), Christian Kuchler (RWTH Aachen University): Begrüßung

Stefan Frindt (Körber-Stiftung): Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. »Vertraute Fremde. Nachbarn in der Geschichte« - Tendenzen und Themen -

Amelie Diederichs/ Lena Haberstroh (PH Heidelberg) und Irini Mitanoudi/ Julia Laqueur (Universität Duisburg-Essen): Schülerprojekte beim Geschichtswettbewerb begleiten - Erfahrungen von Studierenden -

Studentische Tutoren des Geschichtswettbewerbs: Erfahrungsaustausch und Diskussion

Bodo von Borries (Universität Hamburg): Ist Forschendes Lernen mehr als der Geschichtswettbewerb? Ist Historische Kompetenz mehr als lokalgeschichtliche Rekonstruktion?

Studierende der RWTH Aachen University: »Lernort Stadt«: Historische Stadtrundgänge durch Aachen

Christian Kuchler (RWTH Aachen University): Lernort Stadt und forschendes historisches Lernen

Johannes Meyer-Hamme (Universität Hamburg): Arbeitsblätter zum forschenden historischen Lernen – Modell einer Stufung und Binnendifferenzierung

Franz Jungbluth (Körber-Stiftung): Ausblick auf das Jahr 2014


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