Konstruktionen mediterraner Insularitäten

Konstruktionen mediterraner Insularitäten

Organisatoren
Zentrum für Mittelmeerstudien, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.05.2013 - 01.06.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Simon Puschmann, Seminar für Klassische Philologie, Ruhr-Universität Bochum

„Welche Fülle und Mannigfaltigkeit der Inseln!“1 Sind mediterrane Inseln mannigfaltig? Sind sie spezielle Orte? Kurz: Sind mediterrane Inseln „insular“? Das war die zentrale Frage, der sich der Workshop „Konstruktionen mediterraner Insularitäten“ widmete, der vom 31. Mai bis zum 01. Juni 2013 vom Zentrum für Mittelmeerstudien an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde. Unter dem Terminus „Insularität“ sind hierbei spezifische oder paradigmatische Qualitäten und Charakteristika von Inseln zu verstehen, die sie allgemein auszeichnen und als eigenständige Ortskategorie von nicht-insularen Orten unterscheiden. Weil dieser Begriff differierenden Verständnishorizonten unterliegt, galt es, Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zusammen zu führen. Daher bestand das übergreifende Ziel des Workshops darin, verschiedene konzeptionelle Ansätze zusammen zu stellen, die sich mit dem Terminus „Insularität“ verbinden.

Zu diesem Zweck gliederte sich der Workshop in vier Themenfelder. Das erste Themenfeld „Imaginationen“ setzte sich mit fiktiven und realen Vorstellungen von Inseln und deren Wahrnehmung auseinander. Unter der Rubrik „Geographische Situierungen“ wurden die Verortung von Inseln und die Prozesse ihrer räumlichen Zuschreibung behandelt, die aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen kann. Das dritte Themenfeld „Transitorität und Vergleich“ befasste sich mit der These, dass Inseln aufgrund ihrer Einbettung in ein vollständiges Wasser sowie ihrer limitierten Ressourcen als Orte gesteigerter Kontaktmöglichkeit und Kommunikation angesehen werden können und einem erhöhten Anpassungs- und Flexibilitätsdruck unterliegen. Der letzte Bereich „Persistenz und Identität“ ging den Fragen nach, inwiefern Inseln besondere Beharrungspotentiale besitzen bzw. inwiefern ihnen solche zugeschrieben wurden und wie sich Inseln unter Fremdherrschaft eine eigene Identität bewahrt oder erst eine entwickelt haben. Übergreifend wurde überlegt, ob überhaupt ein allgemeines Paradigma mediterraner Insularität entwickelt werden kann oder es hinter der Untersuchung unterschiedlicher und vielfältiger „Insularitäten“ zurücktreten muss.

GIAN FRANCO CHIAI (Berlin) eröffnete das erste Themenfeld und stellte anhand literarischer Textstellen griechischer und lateinischer Autoren die Bedeutung des Begriffes „Insel“ als ein mentales Modell und kognitive Kategorie zur Wahrnehmung und Definition geographischer Räume in der Antike an Beispielen heraus: darunter die römischen Wohnkomplexe, die als insulae bezeichnet und offenbar mit dem Meer samt seinen Inseln assoziiert worden seien. Weiterhin zeigte er drei Merkmale auf, die in der Antike mit Inseln in Verbindung gebracht worden seien: Inseln sind Landeinheiten; sie wurden stets mit dem Meer assoziiert; sie wurden horizontal gesehen und als von Wasser umgeben wahrgenommen. So könnten auch die hochgelegenen Siedlungen in der überfluteten Nillandschaft als Analogie zu Inseln gesehen werden, während das Gegenteil für Oasen festzustsellen sei, die als Inseln in der terrestrischen Wüste zur Orientierung wahrgenommen worden seien.

MANUEL BAUMBACH (Bochum) wies in seinem philologischen Vortrag darauf hin, dass es den Begriff „Insularität“ in der Antike nicht gegeben habe. Inseln und Festland hätten geographisch nebeneinander existiert, so dass das Konzept der vermeintlichen isolierten Insel mit eigener kultureller und sozialer Identität in Frage zu stellen sei. Er vertrat die These, dass sich die antike Literatur jenseits der geographischen Realität und aktiven Wahrnehmung fiktive Insularitäten konstruiert habe, um poetologische Aussagen zu treffen. Baumbach sprach von „insularen Insularitäten“. Anhand der ekphrastischen Schildbeschreibung der homerischen Ilias legte Baumbach dar, dass der Schild wie eine Insel aussehe und daher, wie das Insulare generell, zur Reflexion über den poetischen Schaffensprozess anrege. Die einzigartige Lebenswelt auf dem Schild schlösse die Realität zwar nicht generell aus, sei aber doch fiktional. Dasselbe gelte für die Darstellung der Inseln in der Odyssee Homers, die als fiktive Gegenwelten zur Heimat des Odysseus stets konstruierte Insularitäten seien. Bei Lukian dienten Inseln nicht mehr der Reflexion über Gegenwelten, sondern über die Grenzen und Möglichkeiten literarischen Schaffens, wofür die Insel ein Modell zu sein scheine. Die „Reise durch die Literatur“ lasse sich am Besten insular darstellen. Die Insel eigne sich aufgrund ihrer eigenen Gesetze, Regeln und eigener Zeit als poetische Denkfigur. Allerdings seien die Inseln bei Lukian nicht verortbar und stünden als Metapher für die abgeschlossene Welt eines Werkes, die mehr oder weniger vom Rezipienten „besucht“ würden und nur durch die ganze Literatur erklärbar seien. Dadurch breche Lukian Gattungsgrenzen und verorte sein Werk in mehreren Gattungen.

MARCO FRENSCHKOWSKI (Leipzig) leitete das zweite Themenfeld mit Betrachtungen zum Verhältnis von Meer und Inseln in Antike und Frühmittelalter ein. Eine Liebe zum Meer habe es nicht gegeben, vielmehr sei die gefährliche Unberechenbarkeit des Meeres niemals vergessen worden. Das habe zu einer weitgefächerten Mythologie von heiligen, mythischen und gefährlichen Inseln geführt, die als von Helden, Göttern, Toten oder Ungeheuern bewohnt imaginiert worden seien. Dazu führte er mehrere Beispiele an, so die von Prokop erwähnte Insel der Toten nahe der Küste der Bretagne. Die von vielen Autoren erwähnten Fortunatae Insulae seien zwar fern, aber doch als realer und zugänglicher Ort verstanden worden. Anhand dieser Inseln, die mit der Goldenen Zeit in Verbindung gebracht und durch den Ozean vor Ungeheuern geschützt worden seien, postulierte Frenschkowski für die Griechen eine Sehnsucht nach wunderbaren Orten in der Ferne. Allerdings seien nicht alle Inseln so idyllisch und bezüglich Platons Atlantis herrsche bei den Autoren Uneinigkeit, ob es sich um eine reale oder fiktive Insel gehandelt habe. Abschließend ging Frenschkowski auf die keltische Tradition ein, die mit Avalon und anderen Inseln Einfluss auf den Mythos der „Neuen Welt“ genommen und zu einer Projektion eines glücklichen entfernten Ortes geführt habe. So stehe der Mythos von Amerika in dieser Tradition und sei mit dem der Fortunatae Insulae vergleichbar.

CHRISTY CONSTANTAKOPOULOU (London) legte dann den Fokus auf die Religion. Sie führte die unterschiedliche Bedeutung von Delos und Samothrake als kulturelle und religiöse Zentren aus, die auf die unterschiedliche geographische Lage der Inseln zurückzuführen sei. So seien für Delos mit Apollon als Gottheit weite Handelsbeziehungen und viele Schatzkammern belegt. Im Gegenzug habe ein Export des Kultes und der Religion stattgefunden, so dass ein weitreichendes religiöses Netzwerk entstanden sei. Während daher Delos als das religiöse Zentrum der südlichen Ägäis angesehen worden sei, sei die Anziehungskraft von Samothrake mit ihrem zwar bekannten Mysterienkult, aber mit Gottheiten, die heute nicht historisch erfasst werden könnten, aus ihrer relativen Distanz und ihrer Grenzlage resultiert. Desweiteren könne für die Einwohner von Samothrake eine spezielle Verbindung zum Meer, sowie die Wahrnehmung für eine gefährliche Lage im Meer nachgewiesen werden. Daher hätten die geographische Lage und die maritime Konnektivität Einfluss auf die Anziehungskraft des Kultes gehabt.

HANNAH BAADER (Florenz) postulierte in ihrem kunsthistorisch orientierten Abendvortrag abwechselnde Phasen von Konnektivität und Isolation im Mittelmeerraum. In diesem Zusammenhang seien die Funktion, Struktur und Topographie von insularen Häfen, Städten und Hafenstädten als Orte der Kommunikation von Bedeutung. Demnach gebe es zwischen Inseln und der Topographie vormoderner Städte am Meer strukturelle Gemeinsamkeiten. Beide ließen sich durch Momente der Abgrenzung und Momente der Öffnung beschreiben. Das legte Baader anhand von drei Beispielen dar, nachdem sie die Wahrnehmung und die Repräsentation von Inseln als spezifische Entitäten auf Karten, in Insularien und in weiteren bildlichen Darstellungen erläutert hatte. In Mahdia sei durch die große Befestigungsanlage samt Isthmos für die militärische Sicherheit eine Isolation, aber gleichzeitig eine kontrollierte Öffnung festzustellen. Venedig verfüge weder über Stadtmauern, noch über einen Hafen, sondern über kleinere Anlegeplätze, sollte aber durch die konsequente Pflege der Lagune unbedingt Insel bleiben. La Valetta gelte dagegen mit der starken Befestigung und zwei strategischen Häfen als strategische und abgeschlossene Stadt. In allen drei Fällen gebe es ein Wechselverhältnis von menschlichem Eingreifen und natürlichen Bedingungen. Generell hätten Schiffe als verbindende Einheiten zwischen solchen Orten gedient. Somit seien Inseln Verstärker von Prozessen von Isolation und Konnektivität, die Kontakt begünstigen und verhindern könnten.

Den vornehmlich zeitgenössischen Aspekten gewidmeten zweiten Tag des Workshops und das dritte Themenfeld leitete DIRK GODENAU (La Laguna) ein. Ihn interessierte am Beispiel der Migration zwischen dem südlichen Marokko und den Kanaren die Kombination aus geographischer Nähe, politischer Trennung und Insularität. Dabei ging er davon aus, dass Grenzen soziale Institutionen bzw. politische Konstrukte seien, um Verhalten zu steuern und eine unterschiedliche Durchlässigkeit für eingehende und ausgehende Ströme zu regulieren. Sie behinderten daher bestimmte Mobilitäten und begünstigten andere. Die Kanarischen Inseln, die seit den späten 1990er-Jahren für afrikanische Migranten als alternative Atlantikroute nach Europa immer wichtiger geworden seien, um die Mittelmeergrenzen zu übergehen, würden auch als ständiger Wohnsitz, besonders von Marokkanern, favorisiert, die dort Migrantennetzwerke aufrecht erhielten. Die geringe Durchlässigkeit der Grenzen infolge des Westsahara-Konfliktes und der Grenzkontrollen hätten ebenso wie die geographische Nähe Auswirkungen auf die Migration und die transnationalen Aktivitäten gehabt. Godenau sprach vom „migratory transnationalism of the South Moroccans in the Canaries“. Die transnationalen Aktivitäten innerhalb der Netzwerke, die trotz und gegen die undurchlässigen Grenzen statt gefunden hätten, charakterisierte er als „transnationalism from below“.

CHRISTIAN DEPRAETERE (Montpellier) folgte mit einem strukturellen geologisch-historischen Vergleich zwischen den Inselwelten des Mittelmeeres und der Ostsee. Prägend sei eine große Asymmetrie zwischen den beiden Meeren im Hinblick auf die Relation von der Größe der Inseln zu ihrer Entfernung zum Festland, die Beschaffenheit und die Dichte der Inseln: das Mittelmeer verfüge vor allem über gebirgige Inseln, relativ weit entfernt vom Festland, während die oft minimalen Ostsee-Inseln flach seien, in Küstennähe lägen und dabei eine hohe Flächendichte aufwiesen. Daraus ergäben sich spezifische Bedingungen für die Migration und das Siedlungswesen. Für das Mittelmeer erkläre sich daher das Auftreten der vielen Thalassokratien, wie der minoischen, phönizischen, athenischen und römischen. Dennoch habe sich das Mittelmeer „a sense of unity“ bewahrt, zumal die Inseln hier stets von Prozessen des Festlandes beeinflusst worden seien. Generell plädierte Depraetere für die stärkere Einbindung geohistorischer Modelle, um verschiedene historische Thesen zu erklären.

CHRISTIAN GIORDANO (Fribourg) eröffnete mit einem soziologisch-historischen Vortrag das letzte Themenfeld. Er legte dar, dass sich erstens mediterrane Inseln als Metaphern von mediterranen Gesellschaften ansehen ließen, zweitens der Mittelmeerraum und die Inseln nicht als homogenes Kulturgebiet angesehen werden dürften und drittens soziale Spannungen normal und kein disintegratives Phänomen seien. Mit dem Schwerpunkt auf die großen Inseln, wie Zypern, Kreta, Sizilien, Sardinien und Korsika führte Giordano aus, dass diese Inseln nie isolierte Entitäten, wohl aber periphere Gebiete gewesen seien. Zu dieser Peripherisierung des Mittelmeerraumes sei es infolge politischer, urbaner, technologischer und ökonomischer Überlagerungsprozesse durch fremde erobernde Herrschaftseliten und Herrschaftssysteme gekommen, denen die Inseln besonders zwischen 1450 und 1600 mit dem Aufkommen des kapitalistischen Weltsystems ausgesetzt gewesen seien. Diese wahrgenommenen und interpretierten historischen Erfahrungen hätten die soziale Repräsentation und die Handlungsstrategien, besonders aber das eigene Selbstbild in den fremdbeherrschten Inseln tief geprägt. Die Angehörigen solcher Gesellschaften fühlten sich als Objekte und als Subjekte der eigenen Vergangenheit, welche sich als feindliche Macht entuppt habe. Politische Fremdherrschaft und sozioökonomische Peripherisierung würden von den Angehörigen als Ursache der unabwendbaren Abfolge von Niederlagen gedeutet, was sich in jeglicher gesellschaftlicher Repräsentation und im sozialen Handeln bemerkbar mache.

Im letzten Vortrag des Workshops fragte STEPHEN A. ROYLE (Belfast) nach insularen Identitäten und nahm dabei Bezug auf Zypern, Mallorca und Malta in der Neuzeit. Inseln besäßen eine beträchtliche Variabilität, hätten aber viel gemein. Demnach hätten sie oft durch ihre strategische Lage und maritime Konnektivität das Interesse von Außenstehenden geweckt, so dass sie eine komplexe politische Geschichte unter Fremdherrschaften gehabt hätten. Abgesehen von Malta und Zypern „gehöre“ noch heute jede Insel des Mittelmeeres zu einer außenstehenden Landmacht. Dass Inseln lange Zeit fremden Einflüssen ausgesetzt gewesen seien, habe sich auf die Identität und ihre Strukturen ausgewirkt. Auf Malta und Zypern seien Städte im Inland errichtet worden, eine eigene Sprache sei gesprochen worden und ein Rückzug sei festzustellen. Noch heute zeige sich auf Malta eine eigene Identität, während es auf Zypern Hinweise auf Akkomodation unter den Bedingungen der faktischen politischen Spaltung gebe. Starke internationale Einflüsse seien durch den Tourismus besonders auf Mallorca festzustellen, doch auch hier habe sich eine eigenständige Inselidentität erhalten.

Die folgende Abschlussdiskussion wurde sehr angeregt über die Frage geführt, ob sich Inselspezifisches und/oder Mittelmeerspezifisches herausstellen lasse. Während letzteres zum Teil verneint wurde, spreche viel für spezifische Merkmale, die nur auf Inseln zu erkennen seien, sowie für die Koexistenz von Isolation und Verbundenheit von Inseln. Die Diskussion, bei der die verschiedenen Disziplinen selbst wie Inseln erschienen, die in einen lebhaften Austausch getreten sind, führte zwar zu keinem abschließenden Ergebnis, aber zu dem Konsens, dass die Vielfalt der interdisziplinären Themen und Fragestellungen die Bedeutung des Gegenstandes aufgezeigt habe und dieser sich daher zu untersuchen lohne, so dass gemeinsame Methoden entwickelt werden sollten, um dem „Phänomen“ der Insularität näher zu kommen.

Konferenzübersicht:

Gian Franco CHIAI (Alte Geschichte, Berlin): Thinking spaces as islands: Insularität als mentales Modell in der Antike

Manuel BAUMBACH (Klassische Philologie, Bochum): Islands of Dreams: Ancient Utopias as Borderliners of Mediterranean Concepts of Insularity

Marco FRENSCHKOWSKI (Evangelische Theologie, Leipzig): Fortunatae Insulae. Die Identifikation mythischer Inseln mit realen geographischen Gegebenheiten in der Antike

Christy CONSTANTAKOPOULOU (Klassische Archäologie, London): Centrality and peripherality: insular location and the appeal of the religious networks of Delos and Samothrace in the classical and hellenistic periods

Hannah BAADER (Kunstgeschichte, Florenz):Mediterrane Topographien: Städte und Inseln

Dirk GODENAU (Angewandte Ökonomie, La Laguna): Islands, borders and migratory transnationalism. The case of South Moroccans in the Canaries

Christian DEPRAETERE (Geographie, Montpellier):Performing the World-Archipelago: a comparison between the islands of the Mediterranean and the Baltic seas

Christian GIORDANO (Sozialanthropologie, Fribourg):Mediterrane Insularitäten zwischen Zentrum und Peripherien: Selbstrepräsentation und Handlungsstrategien

Stephen A. ROYLE (Geographie, Belfast):‘The people, the houses, the plants, the very pebbles on the road had a distinct character‘ (George Sand on Mallorca): persistence, durability and identity in Mediterranean islands

Anmerkung:
1 Cic. nat. deor. 2, 100 (Üb. Blank-Sangmeister).


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