Zum 200. Todestag von Johann Christian Reil (1759-1813). Universalmediziner, Stadtphysikus, Wegbereiter von Psychiatrie und Neurologie

Zum 200. Todestag von Johann Christian Reil (1759-1813). Universalmediziner, Stadtphysikus, Wegbereiter von Psychiatrie und Neurologie

Organisatoren
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.06.2013 - 19.06.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Saskia Gehrmann/Dajana Napiralla, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Vom 18. bis 19. Juni 2013 fand anlässlich des 200. Todesjahres des Anatomen, Chirurgen, Badearztes und Stadtphysikus’ Johann Christian Reil (1759-1813) eine interdisziplinäre Tagung in den Franckeschen Stiftungen Halle (Saale) statt, welche seine Verdienste auf verschiedenen Gebieten würdigte. Auf Einladung des Direktors des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Florian Steger, diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fachgebieten Anatomie, Neurowissenschaften, Psychiatrie, Literaturwissenschaft, Medizingeschichte und Geschichtswissenschaft sowie Kulturschaffende den aktuellen Forschungsstand zu Leben und Werk Johann Christian Reils und Möglichkeiten der künstlerischen Annäherung an Reils Wirken.

FLORIAN STEGER (Halle-Wittenberg) eröffnete die Tagung mit einem Überblick zum aktuellen Stand der Forschung und steckte den inhaltlichen Rahmen ab. Die Tagung habe das Ziel, so Steger, an neue Untersuchungen zu Reil anzuknüpfen, sich kritisch mit dem bisher Geleisteten auseinanderzusetzen und eine Neubewertung der Person Reils und seines Wirkens vorzunehmen. Außerdem sei Reils Einfluss auf die moderne Medizin, vor allem als Begründer der Psychiatrie, von großem Interesse. Dabei sei vor allem eine Einordnung von Reils Schriften in die unterschiedlichen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen von großer Bedeutung.

Reils Wirken als Stadtphysikus von Halle (Saale) wurde von ELKE SCHLENKRICH (Halle-Wittenberg) thematisiert. Die Referentin wies zunächst auf die schwierige Quellenlage zu Reils Wirken als Stadtphysikus hin, da nur wenige Quellen überliefert seien. Daher entschied sich die Referentin, die Wirkung des Stadtphysikus Reil in der Stadt Halle zu untersuchen. Ihr Vortrag bezog sich dabei auf die Felder Interaktion mit Patienten, Initiativen zur Verbesserung der materiellen und personalen Situation im Lazarett sowie der allgemeinen Hygiene- und Versorgungssituation mitteldeutscher Städte. Schlenkrich kam zu dem Fazit, dass Reils Ideen und Wirken als Stadtphysikus zwar für Halle (Saale) innovativ gewesen seien, aber im Vergleich zu andern Städten Mitteldeutschlands keinesfalls Seltenheitswert gehabt hätten.

KAI TORSTEN KANZ (Jena) sprach über Reils Berufungskorrespondenz mit den Ärzten Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772-1835) und Carl Friedrich von Kielmeyer (1765-1844). Reil habe, so Kanz, eine ideale Medizinische Fakultät angestrebt, welche er mit Professoren zu besetzen versuchte, die an den Universitäten im deutschsprachigen Raum einen sehr guten Ruf genossen haben. In diesem Zusammenhang habe er versucht, Autenrieth und Kielmeyer nach Halle (Saale) an die Medizinische Fakultät zu holen, was ihm aber nie gelungen ist. Trotzdem habe Reil zum Aufschwung der Universität und der Medizinischen Fakultät im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beigetragen.

Über Reils Beitrag zur Neuroanatomie, der bislang von der Reil-Forschung zu wenig berücksichtigt worden sei, referierte OLAF BREIDBACH (Jena). Reils Arbeiten zur Neuroanatomie zielten – für seine Zeit sehr innovativ – auf die Klassifikation der verschiedenen Gewebe und Bereiche im Gehirn. Dabei habe Reil auf die funktionelle Proportionierung des Gehirns aufmerksam gemacht und am Kleinhirn prinzipielle Funktionen des Großhirns dargestellt. Voraussetzung für diese Forschungsergebnisse war die Entwicklung neuer Techniken, die das strukturelle Präparieren des Gehirns mithilfe von Fixationstechniken und chemischer Nachbearbeitung möglich gemacht haben.

DIETRICH VON ENGELHARDT (Lübeck/Karlsruhe) stellte in seinem Vortrag die Verbindung zwischen Medizin und Philosophie her, indem er Reils Konzept der Psychotherapie würdigte. Er präsentierte verschiedene Positionen der um 1800 wirkenden Philosophen zu ‚Geisteskrankheit’ und kontrastierte diese mit den Vorstellungen Reils. Gemeinsamkeiten der philosophischen Standpunkte mit denen Reils lassen sich vor allem im Bezug zur Patientenselbstbestimmung herstellen. Die Heilung von einer psychischen Krankheit beruhe laut Reil unter anderem auf der Sympathie zwischen Arzt und Patient sowie der Annahme, dass selbst einem psychisch Kranken noch ein gewisses Maß an Vernunft innewohnt.

Den Abschluss des ersten Tages bildeten Einblicke in die künstlerische Bearbeitung von Reils Werk durch DAGMAR VARADY-PRINICH (Halle). Sie stellte als Work-in-Progres Studien aus dem Experimentalfilm „Reizen“ vor. Zentrales Element des Films seien Lichtreize, erläuterte Varady-Prinich, welche in Reils Werken zur Psychiatrie und Psychotherapie Bedeutung für die Therapie psychisch Kranker hätten. Im Film werden Zitate aus Reils Werken zum Thema „Blödsinn“ künstlerisch in Bildsequenzen umgesetzt. Damit werde versucht, Reils Theorien zu versinnbildlichen.

Der zweite Tag begann mit einem Referat über Reils „romantische Medizin“ von HEIDI RITTER (Halle-Wittenberg). Ausgehend von der Frage, inwiefern Reils Diskurs über den Wahnsinn Einfluss auf die deutsche Literatur ausübte, stellte die Referentin verschiedene Rezeptionslinien der Ausführungen Reils zu den Geisteskrankheiten dar. Diese hätten breiten Einfluss auf die Literatur der Romantik gehabt. Zentral sei die Auffassung des Tollhauses als Spiegelbild der Gesellschaft, welche von Reil vertreten wurde und auf Zustimmung von Literaten wie E.T.A. Hoffmann (1776-1822) gestoßen sei. Generell seien Reils Werke fächerübergreifend und nicht nur im medizinischen Kontext wahrgenommen und rezipiert worden.

RÜDIGER SCHULTKA (Halle-Wittenberg) zeichnete den universitären Werdegang Johann Friedrich Meckel des Jüngeren (1781-1833) als „Meisterschüler“ Reils nach. Dieser habe sich durch seine Ausbildung bei Reil sehr stark von dessen Ideen und Konzepten zur Anatomie leiten lassen. Vor allem Reils neuroanatomische Schriften veranlassten den jungen Meckel, sehr detaillierte anatomische Studien zum Aufbau und den Funktionen des Gehirns zu betreiben. Dadurch gelang es ihm beispielsweise, die Entstehung des Neuralrohrs zu beschreiben. Außerdem könne man, so Schultka, eine Arbeitsteilung zwischen Reil und Meckel dem Jüngeren nachweisen.

Johann Christian Reils Wirken als Kurarzt rekonstruierte EVA SCHERF (Halle) anhand einiger Briefe von Wilhelm Grimm (1786-1859) an seinen Bruder Jacob Grimm (1785-1863). Wilhelm Grimm hatte sich 1809 in Halle (Saale) aufgehalten, um sich von Reil im Rahmen einer Kur behandeln zu lassen. Dies belegen zahlreiche Briefe an seinen Bruder Jacob, in welchen er detailliert auf die Reilsche Kur eingeht. Besonderheiten dieses Quellenkorpus seien die Beschreibung der Kur aus Patientensicht, sowie Aussagen über das Verhältnis Arzt und Patient. Im Vortrag arbeitete die Referentin exemplarisch die Besonderheiten des Reilschen Kurbades heraus und setzte diese in Beziehung zur Biografie Wilhelm Grimms.

Über die Entwicklung der Irrenanstalt im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel der Irren- und Heilanstalt Nietleben (bei Halle) referierte CHRISTINA VANJA (Kassel). Sie griff Reil als Propagandisten der Heilanstalten auf, welcher die bisherige Unterbringung psychisch Kranker in Toll- und Zuchthäusern scharf kritisierte. Er habe bereits konkrete Pläne zum Bau von Irrenheilanstalten geäußert, welche aber erst durch den halleschen Arzt Heinrich Philipp August Damerow (1798-1866), in Form der Irrenheilanstalt Nietleben, realisiert wurden. In der Klinik erfuhren vor allem sogenannte „heilbar Kranke“ eine Aufnahme. Die Bauweise der relativ verbundenen Heilanstalt, welche seit Mitte des 19. Jahrhunderts Standard wurde, und die Aufteilung einzelner Häuser auf einem großen Gelände hätten streng Reils Vorstellungen entsprochen.

DAN RUJESCU und FRANK PILLMANN (Halle-Wittenberg) stellten zum Abschluss einen Bezug zur modernen, naturwissenschaftlichen Medizin her und referierten über die Aktualität von Reils integrativem Modell psychischer Störungen. Sie stellten den psychiatriehistorischen Diskurs des 19. Jahrhunderts am Beispiel der sogenannten „Psychiker“ und „Somatiker“ dar und zeichneten dessen Auswirkungen auf die heutige psychiatrische und psychotherapeutische Praxis nach. Dabei war das bio-psycho-soziale Modell grundlegend für ihre Ausführungen. Besondere Bedeutung maßen sie Reils starker Abgrenzung der Psychiatrie von der Philosophie und deren Zugehörigkeit zur Medizin bei. Anschließend stellten sie aktuelle Forschungsfragen in der Psychiatrie am Beispiel der Genetik psychischer Erkrankungen vor. So ist die Schizophrenie sowohl genetisch bedingt als auch von Umwelteinflüssen abhängig.

Die Tagung bot mit ihrer interdisziplinären Ausrichtung einen breiten Überblick über die aktuelle Reil-Forschung. Kern aller Beiträge war die medizinhistorische Würdigung Johann Christian Reils, die Analyse von Reils Einfluss auf die unterschiedlichen Fachdisziplinen sowie die biografische Neubestimmung seiner Person. Es konnte nachgewiesen werden, dass Reils Arbeiten wichtige Impulse für die moderne Psychiatrie und die Neuroanatomie geliefert haben und somit als richtungsweisend gelten. Darüber hinaus gelang es den Referentinnen und Referenten, auf Basis der bisher geleisteten Forschungsarbeit, neue Fragen für künftige Forschungsvorhaben zu generieren. So wurde am Beispiel der biografisch ausgerichteten Vorträge die Notwendigkeit einer kritischen Reil-Biografie deutlich.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Tagung: Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Elke Schlenkrich (Halle-Wittenberg): Reils Wirken als Stadtphysikus in Halle

Kai Torsten Kanz (Jena): „Halle zum vollkommnen Muster einer Academie zu organisieren.“ Reils Berufungskorrespondenz mit Autenrieth und Kielmeyer in Tübingen

Olaf Breidbach (Jena): Ueber den Bau des Hirns und der Nerven – Reils Beitrag zur Neuroanatomie

Dietrich von Engelhardt (Lübeck/Karlsruhe): Johann Christian Reils Konzept der Psychotherapie im Kontext der Medizin und Philosophie um 1800

Dagmar Varady-Prinich (Halle): Reizen, work in progress – ein Kurzfilm

Heidi Ritter (Halle-Wittenberg): Reils romantische Medizin und die Literatur der Romantik

Rüdiger Schultka (Halle-Wittenberg): Johann Friedrich Meckel d. J. (1781–1833) – Meisterschüler Reils. Meckels Beitrag zur Erforschung des Nervensystems

Eva Scherf (Halle): „Einen Magnet trage ich nun auch über dem Herzen (…)“ Reil als Kurarzt von Wilhelm Grimm

Christina Vanja (Kassel): Von Reil zu Damerow – Die Entwicklung der Irrenanstalt im frühen 19. Jahrhundert

Dan Rujescu und Frank Pillmann (Halle-Wittenberg): BIOPSYCHO – Ist Reils integratives Modell psychischer Störungen heute noch gültig?


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