Juristischer Wissenstransfer zwischen Deutschland und Ungarn (Debrecen 22.-25.3.2002)

Juristischer Wissenstransfer zwischen Deutschland und Ungarn (Debrecen 22.-25.3.2002)

Organisatoren
MPI für Europäische Rechtsgeschichte u. Universität Debrecen
Ort
Debrecen
Land
Hungary
Vom - Bis
22.03.2002 - 25.03.2002
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Von
Thomas Henne, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt

Die europäische Rechtskultur, häufig mehr beschworen als erfaßt, hat jedenfalls eine lange Geschichte. Und es ist eine europäische Perspektive notwendig, um die Blickverengung auf die jeweilige Landesjurisprudenz und die Verabsolutierung ihrer Eigenheiten genauso zu vermeiden wie die Mythologisierung eines angeblich früher einheitlichen ius commune. Dann aber tritt der Wissenstransfer als jenes Mittel in den Vordergrund, das die partikularen Rechtskulturen verband. Damit erfolgt ein Anschluß an andere rechtshistorisch ausgerichtete Transferforschungen, die in den letzten Jahren zum Beispiel von Mathias Reimann, Alfons Bürge und Gerhard Schuck durchgeführt wurden.1
Im Hinblick auf Deutschland und Ungarn greift diese Fragestellung ein Projekt auf, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt/M. und der Universität Debrecen teilnehmen. Das Projekt, das vom DAAD und dessen ungarischer Partnerorganisation gefördert wird, begann am 22.-25. März 2002 mit einem Kolloquium in Frankfurt/M., wo erste Ergebnisse zusammengetragen werden konnten.

I. Theoretische Grundlagen einer Analyse des Wissenstransfers

Vorab war zu klären, ob dem Projekt ein Modernisierungs-/Rückständigkeitsparadigma zugrundeliegen konnte, wie TOMASZ GIARO (Frankfurt) vorschlug und mit Beispielen zur "Konservierung von Rechtsfossilien" und zu "inkompletten Gesellschaften" illustrierte. Die damit verbundene Dichotomie und auch die normative Aufgeladenheit dieses Ansatzes verstellt jedoch eher den Blick auf Mittel und Wege des Wissenstransfers, wie MICHAEL STOLLEIS (Frankfurt) und BÉLA SZABÓ (Debrecen) übereinstimmend betonten. Weder eine Kulturträgertheorie noch die Konstatierung von "Mangelsituationen" (Giaro) schienen den meisten Tagungsteilnehmern geeignet, die Interdependenz von Eigenständigkeit und Adaption adäquat zu erfassen.
HOLGER FISCHER (Hamburg) konnte mit seinem Vortrag zudem die dem Rückständigkeitsansatz inhärente Fixierung allein auf den juristischen Wissenstransfer auflösen: Ausgehend von einem Zentrum/Peripherie-Modell belegte Fischer in seinem Überblick zu den deutsch-ungarischen (Natur-) Wissenschaftsbeziehungen, welche allgemeinen Analysekriterien den Wissenstransfer in historischer Perspektive erschließen können. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, die auf mehreren von Fischer durchgeführten Projekten zum naturwissenschaftlichen Wissenstransfer beruhen, ließen sich einige Eigenheiten des juristischen Wissenstransfers relativieren. Beispielsweise zeigte sich, daß die überwiegende Einseitigkeit des juristischen Wissenstransfers von Deutschland nach Ungarn eben nicht mit allgemeiner "Rückständigkeit" der ungarischen Seite erklärt werden kann, denn Fischer konnte beeindruckende Beispiele aus den Naturwissenschaften für den Wissenstransfer in die umgekehrte Richtung präsentieren.
Und auch der Rückgriff auf den Modernisierungsbegriff der historischen Sozialwissenschaft, den ROLF-ULRICH KUNZE (Karlsruhe) gegen neuere Thesen der Kulturwissenschaft verteidigte, kann aus der Perspektive des Wissenstransfers wegen der engen Verwobenheit jenes Modernisierungsbegriffs mit der deutschen (Sonder-?) Situtation nur begrenzt erfolgen. Als Zugriffsansatz dienten bei der Tagung daher stärker projektbezogene Kategorisierungen, indem zum Beispiel von KATALIN FÜZÉR (Philadelphia/Pécs) die Unterscheidung zwischen Rechts- und Wissenstransfer empfohlen wurde und HEINZ MOHNHAUPT (Frankfurt) auf die dem Transferbegriff anhaftende Einseitigkeit des Wissenstransports hinwies und den Wechsel zur "Wissenskommunikation" vorschlug. Dies bot ein Fundament, um die Einzelbeiträge zu diskutieren.

II. Einzelprojekte von der Frühen Neuzeit bis zum Vormärz

In der neueren ungarischen Literatur wird nicht selten für die frühe Neuzeit eine Sonderentwicklung Ungarns konstatiert, das nur wenig an das europäische ius commune angeschlossen gewesen sei. Doch diese These vernachlässigt, wie BÉLA SZABÓ (Debrecen) ausführte, den Wissenstransfer durch jene insgesamt mindestens 800 ungarischen Studenten, die in dieser Zeit an deutschen Universitäten studierten. Das waren zum Beispiel im 18. Jahrhundert immerhin rund 10 % der ungarischen Jurastudenten, die ihr im Ausland erworbenes Wissen notwendigerweise in die ungarische Rechtspraxis und -wissenschaft einbrachten. SZABÓ konnte dann im einzelnen zeigen, wie unter anderem die "Verwissenschaftlichung" der ungarischen Rechtsliteratur im 16./17. Jahrhundert eine direkte Folge des Wissenstransfers war, zumal die ungarischen Studenten regelmäßig an den zeitgenössisch "führenden" Universitäten studierten und eine große Menge an deutscher Literatur von ihrer peregrinatio mitbrachten. Der Wissenstransfer führte also zu einer Verflechtung, deren Ausmaß bislang weitgehend zu gering eingeschätzt wird.
Diese These ließ sich für das 19. Jahrhundert noch genauer belegen. Als Mittel des Wissenstransfers dienten in dieser Zeit vor allem Briefe, wie LARS HENDRIK RIEMER (Frankfurt) anhand der Korrespondenz des Heidelberger Straf- und Privatrechtlers K.J.A. Mittermaier zeigen konnte. Dessen Briefkorpus, nach Umfang und Vielfalt einzigartig innerhalb der rechtswissenschaftlichen Korrespondenz im 19. Jahrhundert, umfaßt auch etliche ungarische Briefautoren, wobei Mittermaier im Vormärz vor allem in die Kodifikation des ungarischen Strafrechts eingebunden war. Die liberalen ungarischen Kodifikatoren konnten ihre Position durch Mittermaiers Stellungnahmen wesentlich stärken, und das Ergebnis des Wissenstransfers hätte fast unmittelbar Gesetzesform erlangt, wenn nicht das Kodifikationsvorhaben in seiner Gesamtheit gescheitert wäre. Gleichzeitig präsentierte Mittermaier in seinen rechtsvergleichenden Studien den ungarischen Entwurf als Beispiel für den rechtlichen Standard der "zivilisierten Völker" - ein Beleg dafür, daß Wissenstransfer nicht als "Einbahnstraße", sondern in dem wie erwähnt von Heinz Mohnhaupt präferierten Sinne einer Wissenskommunikation zu verstehen ist.
Weitere Mittel des Wissenstransfers waren im Vormärz Fachzeitschriften und Reisen. KRISZTIÁN TÓTH (Budapest) zeigte, wie beides vor allem der Rechtsvergleichung diente, die von ihren liberalen Protagonisten offensiv als Mittel der "Modernisierung" des ungarischen Rechts vorgeschlagen wurde. Tóth belegte aber zugleich die Wirkungsgrenzen jener liaisonmen, wie sie von KATALIN GÖNCZI (Frankfurt/Budapest) bezeichnet wurden. Da die liaisonmen "fremde" Rechtsquellen in eine dazu nicht passende soziale Wirklichkeit importierten, beschränkte ein Mangel an Interesse an ihrer kurzlebigen Zeitschrift den Wissenstransfer im wesentlichen auf die liaisonmen und ihr unmittelbares Umfeld in Pest-Buda. Nicht zufällig sollte nationalistisch motivierte Kritik ("Phantasten", "das Ausland nachäffende Doktrinäre") die Befürworter des Wissenstransfers stigmatisieren. Und - aus deutscher Sicht besonders bemerkenswert - die einzige ungarische Universität in Pest fiel schon wegen der Lenkung durch die konservative Regierung als Teilnehmer am Wissenstransfer aus, der daher auch noch im Vormärz stark von universitätsfernen Politikern beherrscht war.

III. Einzelprojekte zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

Besonders für das spätere 19. Jahrhundert ließ sich dann eine Unterscheidung fruchtbar machen, die Katalin Gönczi einbrachte: Die vom Wissenstransfer ausgelösten Rezeptionen verliefen in Ungarn teils simultan, teils retrospektiv, denn die Ziele "Modernisierung" und "Selbstbehauptung Ungarns gegenüber Österreich" widersprachen sich in bestimmten Perioden. Deshalb konnte zum Beispiel JUDIT BALOGH (Debrecen) eine zeitlich verschobene und inhaltlich sehr flexible Rezeption der Thesen des Berliner Juristen F. C. v. Savigny zeigen. Victor Mataja, ein ökonomisch-soziologisch orientierter Kritiker des deutschen Schadensersatzrechts, erreichte hingegen zeitlich unmittelbar und auch ohne inhaltliche Verfremdung eine umfassende Aufmerksamkeit in der ungarischen Rechtswissenschaft, wie VIKTOR WINKLER (Frankfurt) nachwies. Voraussetzung war aber das nach dem Ausgleich von 1867 entspanntere Verhältnis zu Österreich, so daß dank des in Wien tätigen Mataja nahezu erstmals der Wissenstransfer nach Ungarn nicht mehr an Wien vorbeilief. Auch ansonsten bestanden übrigens mehr Sympathien für die Interessenjurisprudenz als für die Historische Rechtsschule: Der Budapester Romanist János Zlinszky hat 1992 den Blick auf Gusztáv Szászy-Schwarz, den "ungarischen Jhering" gelenkt, während ein "ungarischer Savigny" auch auf der jetzigen Tagung nicht benannt werden konnte.
Diese Beeinflussung des Wissenstransfers durch Faktoren, die jenseits einer schlichten "Modernisierung" liegen, zeigte sich auch bei der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Ungarn gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als mit großer Selbstverständlichkeit das österreichische Modell abgelehnt und stattdessen auf das preußische System zurückgegriffen wurde. Dieser Wissenstransfer von Preußen nach Ungarn, dem sich THOMAS HENNE (Frankfurt) widmete, ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich andere mittelosteuropäische Staaten wie Polen explizit gegen die Übernahme des preußischen Typs der Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden haben. Die Entscheidung Ungarns für das preußische Modell beruhte aber nicht nur auf einem Abgrenzungswunsch Ungarns zu Österreich, sondern vor allem auf strukturellen Vorzügen, die die preußischen Institutionen aus ungarischer Sicht besaßen.
Ob der Wissenstransfer auch das ungarische Staatsangehörigkeitsrecht beeinflußte, mußte hingegen im Vortrag von NORBERT VARGA (Debrecen) noch weitgehend offenbleiben, und auch die Beeinflussung des ungarischen Romanisten Géza Kiss durch einen Studienaufenthalt an der Universität Bonn lieferte bei SÁNDOR MADAI (Debrecen) vorläufig eher eine Forschungsfrage. Katalin Gönczi konnte daran anschließend zusammenfassend für das 19. Jahrhundert eine Periodisierung des Wissenstransfers in Form eines virtuellen Tryptichons präsentieren: Auf den enthusiastischen Vormärz folgten das "Wintermezzo" des Neoabsolutismus und die Belle Époque des Dualismus, als unter anderem viele Institutionen wie Juristenvereinigungen und die Ungarische Akademie der Wissenschaften in den Wissenstransfer eingebunden waren.
Bei KATALIN FÜZÉR (Philadelphia/Pécs) zeigte sich abschließend noch einmal, wie wirkungsmächtig ein Studium im Ausland auch noch im frühen 20. Jahrhundert war: István Csekey hatte unter anderem in Straßburg und bei Fritz Fleiner in Heidelberg studiert, bevor er in der Zwischenkriegszeit zu einem der wichtigsten ungarischen Staats- und Verwaltungsrechtler wurde. Es ist nicht nur eine in Pécs aufgefundene Vorlesungsmitschrift Csekeys von Fleiners Vorlesung, die zur Vermutung für diesen Weg des Wissenstranfers Anlaß gibt, sondern auch Csekeys umfangreiche Schriften sind jedenfalls bei einer ersten Analyse von deutschem Rechtsstaatsdenken geprägt. ROGER MÜLLER (Zürich), z.Zt. Doktorand über Fleiners Leben und Werk, konnte in der Diskussion die Vermutung für diese europäische Wirkung von Fleiner untermauern, so daß für die weiteren Analysen zu diesem Einzelprojekt eine inhaltlich und personell tragfähige Grundlage besteht.

IV. Ausblick

Die auf der Tagung vorgestellten einzelnen Teilprojekte sollen in den nächsten Monaten mit Archiv- und Literaturstudien noch weiter vorangetrieben werden. Die Weiterbewilligung der Projektgelder durch den DAAD und seine ungarische Partnerorganisaton MÖB vorausgesetzt, werden die Abschlußergebnisse zum "Juristischen Wissenstransfer zwischen Deutschland und Ungarn" im September 2003 auf einer Abschlußtagung in Debrecen diskutiert und anschließend publiziert.

1 MATHIAS REIMANN, Historische Schule und Common Law, Berlin 1993; ALFONS BÜRGE, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1991 und DERS., Ausstrahlungen der historischen Rechtsschule in Frankreich, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1997, S. 643-653; GERHARD SCHUCK, Rechtstransfer als Erfolgsgeschichte ? Zur Zivilrechtskodifikation in Japan in der Meiji-Zeit, in: Heinz Duchhardt u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Europäische Geschichte, Bd. 2 (2001), 131-146.


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