Vertrauen als historische Kategorie (ZIF Bielefeld, 06.-08.12.2001)

Vertrauen als historische Kategorie (ZIF Bielefeld, 06.-08.12.2001)

Organisatoren
Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF)
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2001 - 08.12.2001
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniel Brückenhaus

Vom 6.-8.12.2001 fand im Bielefelder "Zentrum für interdisziplinäre Forschung" (ZiF) unter der Leitung von Ute Frevert (Bielefeld) eine Tagung zum Thema "Vertrauen als historische Kategorie" statt. Die Mitglieder der von Ute Frevert aus den Mitteln ihres Leibniz-Preises ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe zur "Geschichte des Vertrauens" hatten Ergebnisse ihrer bisherigen Forschungen in Papieren zusammengefasst, deren Hauptthesen sie kurz vorstellten. Darauf antworteten jeweils Wissenschaftler/innen verschiedener Fachrichtungen mit Kommentaren und Anmerkungen. Zusätzlich stellten einige Gäste die Forschungslage zum Thema "Vertrauen" innerhalb ihrer eigenen Fachgebiete vor.

In ihrer Einleitung verwies Ute Frevert auf die vielfältigen Anknüpfungspunkte, die das Thema für die historische Arbeit biete. Die Beschäftigung mit der Gefühlshaltung "Vertrauen", in der emotionale und rationale Aspekte zusammenwirkten, lenke den Blick auf historisch spezifische Wahrnehmungen von Unsicherheit und Kontingenz, ermögliche es, verschiedene Bereiche der gesellschaftlichen Ordnung miteinander zu verkoppeln und zeige neue Wege auf, das Verhältnis von Makro- und Mikrostrukturen in vergangenen Gesellschaften zu untersuchen. Die Untersuchung der Semantik des Vertrauens in historischer Perspektive sei in diesem Zusammenhang besonders vielversprechend.

Die erste Sektion der Tagung beschäftigte sich mit dem Thema "Kommunikation und Vertrauen. Zur historischen Semantik des Vertrauensbegriffs". Dorothea Weltecke (Göttingen) stellte in ihrem Papier die These auf, dass sozialwissenschaftliche Vertrauensbegriffe stets durch die Werte und Ziele der Gegenwart bedingt seien und sich deshalb nicht unmittelbar auf mittelalterliche Forschungsgegenstände anwenden ließen. Indem sie Vorläufer des heutigen Begriffs "Vertrauen" in der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kultur in den Blick nahm, zeigte sie, dass dem heutigen Vertrauens-Begriff ein ganzes Spektrum vergangener Begriffe zugeordnet werden könne, was eine Begriffsgeschichte des Vertrauens erschwere. Franz Mauelshagen (Bielefeld) stellte in seinem Papier eine kommunikationstheoretisch fundierte Typologie auf, um Vertrauen in der Frühen Neuzeit zu untersuchen. Vertrauen hat nach Mauelshagen einen "Kommunikatoreffekt", indem es die Grenzen des Sagbaren erweitert. Die Problemlagen, in denen Vertrauen virulent werde, lagerten sich an die Unterscheidungen von kommunizierbar/nicht kommunizierbar, innen/außen und Geheimnis/Öffentlichkeit an. Während das Vertrauen in der Frühen Neuzeit in die Tugendlehre eingebunden und unmittelbar wertgebunden gewesen sei, habe mit dem Verschwinden der klassischen Metaphysik die Rückbindung des Vertrauens an Werte ihre Selbstverständlichkeit verloren. In seinem Kommentar betonte Horst Wenzel (Berlin), dass es wichtig sei, bei der Erforschung des Vertrauens von der Antike bis zur Frühen Neuzeit über sprachliche Quellen hinaus auch andere, stärker visuell orientierte Medien wie Gestik, Mimik, Kleidung und Modulation der Stimme sowie Rituale der Kommunikation mit einzubeziehen. Wenzel unterstrich, dass eine adäquate institutionelle Rahmung der Kommunikationssituation entscheidend für die Entstehung von Vertrauen gewesen sei. Andreas Gestrich (Trier) wies in seinem Kommentar darauf hin, dass in der Politik der Frühen Neuzeit gerade auch das Nicht-Reden Vertrauen habe schaffen können, indem der Herrscher nach außen dargestellt habe, dass er über nicht kommunizierbare Geheimnisse verfüge. Die fein abgestimmte Mischung von Reden und Schweigen, die in diesem Zusammenhang nötig geworden sei, könne auch im Kontext des "Dissimulationskonzepts" der Frühen Neuzeit zum Thema werden. In seinem Kommentar entwarf Reinhart Koselleck (Bielefeld) den Abriss einer möglichen "Begriffsgeschichte des Vertrauens". Anhand einer diachronen Analyse historischer Lexika könne der Bedeutungswandel des Begriffs, der zunächst theologisch imprägniert gewesen sei, sich seit der Frühen Neuzeit aber in die übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche ausdifferenziert habe, nachgezeichnet werden. Dabei müssten insbesondere die Übergänge von der Verbform "vertrauen" zum Substantiv "Vertrauen", dessen Entstehung eine theoretische Erfassung des Sachverhalts erst möglich gemacht habe, analysiert werden. Nach Koselleck ist der Begriff "Vertrauen" zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung von "Erfahrung" und "Erwartung" zu verorten. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, zwischen Vertrauen als einer analytischen Kategorie und dem Quellenbegriff "Vertrauen" klar zu unterscheiden. Außerdem wurden die Fragen aufgeworfen, inwiefern das Vertrauen, im Gegensatz zur "Zuversicht", für interpersonelle Beziehungen reserviert werden solle (im Gegensatz zu Konzepten des Institutionen- und Systemvertrauens), und ob Vertrauen innerhalb eines sozialen Systems neben der bewussten "Schaffung" auch nicht-intentional entstehen könne. Zur Frage des Umgangs mit Fremden in der Frühen Neuzeit wurde zum einen die Wichtigkeit vertrauensbildender Symbole wie Leumundsbriefe oder einer spezifischen Kleidung betont, zum anderen wurde auf die Bedeutung des ersten Kontakts mit einer neuen Gruppe hingewiesen.

Eva-Maria Engelen (Konstanz) stellte in ihrem Vortrag einen Ansatz vor, mit dem das "Vertrauen" in die von der Neurologie und Psychologie benutzten Gefühlskategorien eingeordnet werden könne. In diesem Zusammenhang gehöre das Vertrauen zu den "Gefühlen im engeren Sinne", bei denen es sich um latente, lang anhaltende Dispositionen wie etwa Liebe oder Nostalgie handele. Im Gegensatz zu den kurzfristig wirkenden "Emotionen", die sich evolutionär entwickelt hätten und somit als "überhistorisch" anzusehen seien, gebe es zwar angeborene Dispositionen für Gefühle, deren Ausformungen seien aber entscheidend durch die kulturelle und soziale Umgebung bestimmt und seien somit einer historischen Untersuchung zugänglich. In der Diskussion wurde demgegenüber angeregt, bei der Untersuchung des Vertrauens neben der Gefühlskomponente auch das Element der rationalen Kalkulation mit einzubeziehen und die Bedeutung von Handlungen und Interaktionen für die Entstehung des Vertrauens zu berücksichtigen.

In seinem Vortrag stellte Claus Offe (Berlin) den politik- und sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zum Thema "Vertrauen" vor. Vertrauen, das für Offe ausschließlich ein Verhältnis zwischen sozialen Akteuren darstellt, diene dazu, Transaktionskosten einzusparen. Vertrauensbeziehungen innerhalb der breiten Bevölkerung und der gesellschaftlichen Eliten und zwischen diesen beiden Gruppen stehen für Offe im Mittelpunkt. Dabei könne dem Vertrauen eine Sach-, eine Sozial- und eine Zeitdimension im Sinne Luhmanns zugeschrieben werden. Offe beschrieb die aktuellen Forschungen zum Thema Vertrauen im Rahmen der Theorien kollektiven Handelns, der Demokratietheorie und im Bereich der Internationalen Beziehungen. Insgesamt ist für ihn auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Schaffung eines geeigneten institutionellen Rahmens wichtig, um Vertrauen zu erzeugen. In der Diskussion wurde zur Rolle der Institutionen bei der Genese des Vertrauens die Frage gestellt, ob etablierte Institutionen nicht, statt das Vertrauen zu stärken, dieses eher ersetzen würden. Im Hinblick auf (gelegentliche) politische Skandale bleibe zu prüfen, ob diese das Vertrauen in die Demokratie nicht insofern stärkten, als sie das Funktionieren der Kontrollinstanzen wie z.B. der Medien deutlich vor Augen führten.

Die zweite Sektion der Tagung beschäftigte sich mit dem Thema "Vertrauen, Wissen, Risiko". Stefan Gorißen (Bielefeld) stellte in seinem Papier den Konflikt zwischen einem Kaufmann des 18. Jahrhunderts und dessen Handlungsgehilfen dar, dem von dem Kaufmann die Verwendung vertraulicher Informationen zum eigenen Vorteil nachgesagt wurde. Das Vertrauen wurde nach Gorißen in Geschäftsbeziehungen der Frühen Neuzeit auf mehreren Ebenen virulent: Als Vertrauen in Werte und Regeln der Gesellschaft (informelle Institutionen), als Vertrauen zwischen zwei Interaktionspartnern und als Vertrauen in die Reputation eines ehrbaren Kaufmanns. Zur zusätzlichen Absicherung von Vertrauensbeziehungen konnten Verwandtschaftsnetzwerke dienen. Insgesamt sei das Vertrauen in der Frühen Neuzeit weniger als Ressource, denn als ständig aktuelles Problem zu fassen. Albrecht Weisker (Bielefeld) untersuchte in seinem Papier den Verlust des Vertrauens in die Kernkraft im Zeitraum von 1955 bis 1980. Das Vertrauen in die Kernkraft sah er dabei als Teil eines generalisierten, gesichtsunabhängigen Vertrauens in Wissenschaft und Technik und in die Fachkompetenz der beteiligten Experten. Zusätzlich sei es durch Formen persönlichen Vertrauens in einzelne renommierte Wissenschaftler gestützt worden. Das Vertrauen in die Kernkraft sei in der Nachkriegszeit zunächst präreflexiv und nahezu alternativlos gewesen, während seit den 70er Jahren die Kernkraft in weiten Teilen der Bevölkerung immer stärker mit Risiken in Verbindung gebracht worden sei. Gegenüber dem Misstrauen und der Angst vor der Kernkraft hätten Versuche der Vertrauenswerbung durch die beteiligten Personen und Verbände in der emotionalisierten Debatte eher das Gegenteil erreicht. In seinem Kommentar betonte Franz-Josef Brüggemeier (Freiburg), dass neben anonymen Institutionen zum Aufbau und Erhalt des Vertrauens spezifische menschliche Zugangspunkte zu diesen Institutionen nötig seien. Gegen die These eines allgemeinen Vertrauensverlusts in die Wissenschaft spricht nach Brüggemeier, dass auch die aktuellen Umweltdebatten weitgehend auf modernen wissenschaftlichen Untersuchungen beruhten. Carl Christian von Weizsäcker (Köln) verwies zu der Frage, warum Techniken wie der Computer weitaus weniger Widerstand als die Kernkraft provozierten, vor allem auf die Tatsache, dass das Vertrauen im Bereich der Computerindustrie durch die schnelle Weiterentwicklung in seiner Angemessenheit "überprüfbar" werde, während der Nutzen der Kernkraft erst nach einem langem Zeitraum deutlich werden könne. Außerdem erlaubten gerade bei der Kernkraft apokalyptische Unfallszenarien eine Fokussierung auf das Misstrauen. Paul Hoyningen-Huene (Hannover) stellte in seinem Kommentar die These auf, dass innerhalb einer Gesellschaft mit steigender Komplexität immer mehr Vertrauen nötig werde. Gleichzeitig werde mit wachsender Entfernung zwischen zwei Vertrauenspartnern deren Vertrauensbeziehung immer prekärer. Das Vertrauen als eine Relation zwischen zwei Personen bezüglich eines bestimmten Gegenstands basiert nach Hoyningen-Huene auf einer Zukunftserwartung, die eine kognitive (auf die unsichere Zukunftsprognose bezogene), eine evaluative (auf den positiven Wert dessen, in das vertraut wird, gerichtete) und eine emotive, gefühlsbetonte Komponente aufweise. In der Diskussion wurde auf die große Bedeutung von generations-, geschlechts- und nationsspezifischen kollektiven Erfahrungen hingewiesen, die ein geringeres oder größeres Ausmaß an Vertrauen in die Wissenschaft erzeugten. Im Hinblick auf Thesen einer historischen Komplexitätssteigerung, die sich auf das Vertrauen in unterschiedlichen Bereichen ausgewirkt habe, wurde gefordert, zwischen der gesellschaftlichen und der individuellen Ebene zu unterscheiden: Im Hinblick auf die Arbeitsteilung habe die Komplexität seit der Frühen Neuzeit zugenommen, nicht dagegen die Komplexitätserfahrung, mit der der Einzelne konfrontiert sei. Letztere habe sich lediglich in ihrem Charakter verändert.

In der dritten Sektion der Tagung mit dem Titel "Vertrauen in interpersonalen Beziehungen" stellte zunächst Bettina Hitzer (Bielefeld) ihr Papier vor. Hitzer beschäftigte sich mit der Tätigkeit der "Inneren Mission" in Berlin um 1900, die bestrebt war, Neuankömmlingen aus ländlichen Gebieten den Übergang in das städtische Leben zu erleichtern. Im Mittelpunkt standen dabei die Strategien, mit denen die Missionsmitarbeiter um das Vertrauen der "Fremden" warben und gleichzeitig vor einer generellen Vertrauensseligkeit der Anreisenden warnten. Die Mitarbeiter stellten "Zugangspunkte" zum System dar, wobei sich eine asymmetrische Beziehung ergab: Auf Seiten der Neuankömmlinge war ein größeres Ausmaß an Vertrauen nötig als auf Seiten der Missionsmitarbeiter. Thomas Kühne (Rottenburg-Weiler) beschäftigte sich in seinem Papier mit Kameradschaftsbeziehungen unter Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Die Kameradschaft habe sich dabei mit einem "doppelten Gesicht" gezeigt: Mit Elementen einer Vertrauensgemeinschaft, andererseits aber auch mit Aspekten eines Zwangssystems, dessen konstitutives Merkmal das Misstrauen gewesen sei. Auf der Kameradschaftsebene habe das Vertrauen einen zweifachen Fokus gehabt: Als Vertrauen in individuelle Kameraden, andererseits aber auch als Vertrauen in das System der Kameradschaftsnormen. Besonders prekäre Situationen seien in diesem Zusammenhang entstanden, wenn das Vertrauen in die Kameradschaft mit dem Vertrauen in das NS-System als Ganzes rivalisierte. In seinem Kommentar ging Jürgen Reulecke (Siegen) auf geschlechtsspezifische Formen des Vertrauens ein, die in den Papieren sichtbar geworden seien. Er regte an, die untersuchten Handlungsformen mit ähnlichen Kontexten wie der städtischen Armenpflege bzw. der Bündischen Jugend zu vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Ausgestaltung von Vertrauensbeziehungen in den Blick zu rücken und um auf Wertkonflikte und Aporien, die durch aufeinandertreffende, sich unterscheidende Vertrauenskonzeptionen verursacht wurden, zu erkennen. Claudia Schmölders (Berlin) stellte in ihrem Kommentar die These auf, dass sich durch die Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Linie des Verlusts von Vertrauen in die Sprache ziehe. Demgegenüber sei der Versuch, Vertrauen zu erzeugen, immer stärker auf das Visuelle bezogen worden, was sich u.a. an der großen gesellschaftlichen Verbreitung physiognomischer Gedankengänge zeigen lasse. Am Beispiel der Propaganda Hitlers und Stalins legte Schmölders dar, dass die Politik und das Werben um das Vertrauen in die politische Führung seit 1914 zunehmend "gesichtsabhängig" geworden seien. Thomas Luckmann (Konstanz) forderte in seinem Kommentar, Phänomene des Vertrauens und Misstrauens in Schicksalsgemeinschaften wie dem Militär und in Wahlbeziehungen wie der Freundschaft deutlich zu unterscheiden. Statt von "Vertrauen" sollte im Rahmen von Schicksalsgemeinschaften wegen zahlreicher Analogien zu religiösen Beziehungen lieber von "Glauben" gesprochen werden. Zudem schlug Luckmann vor, im Hinblick auf das Vertrauen zwischen "offiziellen" moralischen Normen und den "Binnennormen" innerhalb der eigenen Bezugsgruppe klar zu trennen. In der Diskussion wurde in Bezug auf die NS-Zeit auf die Komplementarität der Treue als eines festen und statischen Elements einerseits und des Vertrauens als eines unsicheren, brüchigen Elements sozialer Bindungen andererseits hingewiesen. Außerdem wurde die Rolle der Normierung von vertrauenswerbenden Gefühlsäußerungen betont, die mit dem Begriff des "Emotionsregimes" erfasst werden könnten. Die Funktion von physiognomischen Ansätzen wurde in der Schaffung von "Ersatzwissen" als Basis von Vertrauen und Misstrauen gesehen, bei der Gesichter im Hinblick auf die Vertrauenswürdigkeit der dahinterstehenden Person nach bestimmten Regeln "decodiert" würden.

In seinem Vortrag zum Vertrauen in den Sozialwissenschaften wandte sich Thomas Luckmann gegen die Vertrauenskonzeption Niklas Luhmanns. Luckmann kritisierte zum einen Luhmanns Annahme einer grenzenlosen Welt, die weder System noch Umwelt sei und auf die deshalb nicht Bezug genommen werden könne. Zum anderen sprach er sich gegen Luhmanns Grundannahme einer überkomplexen Außenwelt aus, die das Vertrauen erst nötig mache. Luckmanns Hauptvorwurf richtete sich gegen Luhmanns These, nach der in Interaktionssituationen das Verhalten der Beteiligten zunächst als kontingent angesehen werden müsse, woraus die Notwendigkeit des Vertrauens erwachse. Dagegen ist das Verhalten der Interaktionspartner nach Luckmann von vornherein durch ihre gemeinsame Kultur und die Wirkung kanonisierender Institutionen reglementiert. In der Diskussion wurde ergänzend auf die Wichtigkeit der unterschiedlichen Relevanz verschiedener Handlungsentwürfe im Hinblick auf Vertrauen hingewiesen. Es müsse stets gefragt werden, ob das geplante Handeln nur für den Handelnden selbst, für einige andere oder aber für die gesamte Gesellschaft wichtig sei.

Carl Christian von Weizsäcker stellte in seinem Vortrag eine ökonomische Theorie des Vertrauens vor. Die Funktion des Vertrauens im ökonomischen Bereich sieht Weizsäcker darin, dass Personen zum Kauf von Gütern angeregt werden, über deren tatsächliche Eigenschaften sie nicht viele Informationen besitzen. Solange die Kunden nicht enttäuscht würden, entstehe auf diese Weise nach und nach ein Vertrauensnetzwerk zwischen Kunden und Firma, das oft auf die Gesamtheit der Produkte dieser Firma ausgedehnt werde. Das Funktionieren des Netzwerkes hänge dabei von einem schnellen Feedback darüber ab, ob das Vertrauen im jeweiligen Einzelfall auch berechtigt gewesen sei. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass Käufer nur begrenzt rational entscheiden könnten, da ihnen das volle Wissen über Wirtschaftsabläufe fehle, sie häufig von Kaufgewohnheiten geprägt seien und z.B. von der Werbung beeinflusst würden. Auch könne sich fälschlicherweise geschenktes Vertrauen nicht generell selbst korrigieren. Dies sei z.B. im Fall von stabilen Informationsasymmetrien und Monopolen kaum möglich und werde zusätzlich durch das psychologisch bedingte Ausweichen vor dem nachträglichen Infragestellen vergangener Entscheidungen erschwert. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass das vorgestellte Modell des Vertrauens z.B. im Bereich der immateriellen Güter nur bedingt anzuwenden sei.

Im Rahmen der vierten Sektion zum Thema "Politisches Vertrauen" stellte zunächst Anne Schmidt (Berlin) ihr Papier vor, in dem sie die 1918 entwickelten Versuche einer Gruppe von Beamten in der Reichskanzlei beschrieb, dem verbreiteten Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Regierung entgegenzutreten. Als dessen Ursachen wurden Versorgungsprobleme, verhinderte Reformen, der Autoritätsverlust der Regierung sowie eine verfehlte Öffentlichkeitsarbeit ausgemacht. Um gegen die Vertrauenskrise vorzugehen, wurden neue Strategien des Kontakts mit der Bevölkerung erprobt. Über leitende Mitglieder wichtiger Verbände und Parteien, die als Multiplikatoren wirken sollten, versuchte man eine neuartige, auf Transparenz und gegenseitigem Respekt beruhende Informationspolitik in Gang zu bringen, die zu erneuertem Vertrauen in die politische Führung führen sollte. Jan C. Behrends (Bielefeld) überprüfte in seinem Papier am Beispiel der DDR und Polens in der Nachkriegszeit die These, nach der die staatssozialistischen Ostblock-Staaten "Misstrauensgesellschaften" dargestellt hätten. Behrends betonte, dass die kommunistischen Eliten der DDR und Polens sich der Bedeutung des Vertrauens für das Funktionieren politischer Herrschaft sehr bewusst gewesen seien und durch Kampagnen, Inszenierungen und eine gezielte Sprachpolitik versucht hätten, Vertrauen in die Staatsführung zu erzeugen. Diese Versuche seien aber weitgehend gescheitert; die fehlende Rechtssicherheit, die eingeschränkte Kommunikation und die kontrollierte Öffentlichkeit innerhalb dieser Staaten hätten zu einer deutlich verringerten Reichweite des Vertrauens und längerfristig sogar in eine "Misstrauensfalle" geführt, die die gesellschaftliche Entwicklung gehemmt habe. Dagmar Ellerbrock (Bielefeld) untersuchte in ihrem Papier die Zusammenhänge zwischen Regelungen des Waffenrechts und dem Ausmaß des politischen Vertrauens in Deutschland. Sie unterschied dabei unterschiedliche Phasen waffenrechtlicher Regelungen, die gegen die These eines kontinuierlichen Vertrauensverlusts sprächen und vielmehr darauf hindeuteten, dass es Konjunkturen des politischen Vertrauens gäbe, das somit ebenso wachsen wie auch vakant werden könne. Am Beispiel des Waffenrechts legte sie dar, dass politisches Vertrauen stets im Tandem mit politischem Misstrauen aufträte, wobei die Artikulation von politischem Misstrauen häufig mit Verfahren der potentiellen Vertrauensgenerierung verknüpft sei. Vertrauen sei eine Kategorie, die zum einen aus Interaktionszusammenhängen und zum anderen stark von symbolischem Kapital gespeist werde und dabei hochgradig kontext- und rezipientenabhängig und sowohl horizontal wie vertikal wirksam sei. Claus Offe setzte in seinem Kommentar Anne Schmidts Thesen mit aktuellen Forschungen zur Vertrauenswerbung in der Öffentlichkeit in Beziehung, in deren Rahmen die Vertrauenswerbung um 1918 sich als geradezu idealtypischer Versuch darstelle. Im Hinblick auf die kommunistischen Staaten betonte Offe die Bedeutung der Geschichtspolitik als eines an der Vergangenheit orientierten Versuchs der Vertrauenswerbung. Alles in allem sei aber das Bestreben nach direkter, misstrauensgeleiteter Kontrolle und Bespitzelung der Bevölkerung wichtiger gewesen. Thomas Lindenberger (Potsdam) wies auf das enge Zusammenspiel von Vertrauen und Misstrauen in sozialistischen Gesellschaften hin. Lindenberger ging außerdem auf die Rolle des Vertrauens im Zusammenhang mit dem Judenmord in der Zeit des Nationalsozialismus ein: Während den Juden immer mehr gesellschaftliches Vertrauen entzogen worden sei, sei gezielt das Vertrauen der Bevölkerung in Hitler aufgebaut worden. Zudem seien durch internes Vertrauen zusammengehaltene Tätergemeinschaften entstanden. In seinem Kommentar analysierte Axel Honneth (Frankfurt/Main) das Wortfeld "Vertrauen" mit dem Ziel, das seiner Meinung nach für die Analyse von Vertrauensphänomenen oft ungeeignete Vokabular der historischen Akteure durch hilfreichere Kategorien zu ersetzen. Er unterschied erstens den auf die normative Ordnung der Gesellschaft gerichteten Legitimitätsglauben, zweitens die Loyalität als einer Disposition zu längerfristigen Bindungen an "Projekte" und drittens das Vertrauen im weitesten Sinne, das er für Beziehungen zwischen einzelnen Personen reservierte. Dieses Vertrauen müsse weiter differenziert werden in das Zutrauen in die Fähigkeiten einer Person und das präreflexive, auf die ganze Person gerichtete Vertrauen im engeren Sinne. In der Diskussion wurde der Vorschlag gemacht, auch dann, wenn man das Vertrauen lediglich für interpersonale Beziehungen reserviere, neben dem Vertrauen in konkrete Einzelpersonen auch das Vertrauen in abstrakte Rollen mit zu berücksichtigen. Außerdem wurde die Frage gestellt, ob Vertrauen von politischen Führungen überhaupt bewusst hergestellt werden kann, oder ob nicht der Versuch der offensiven Vertrauenswerbung gerade Misstrauen hervorrufe.

In einer abschließenden Paneldiskussion wurde in mehreren Beiträgen ein Fazit der Tagung gezogen. Gunilla Budde (Berlin) sah als eines der Hauptthemen der Tagung die Unterscheidung zwischen analytischem Vertrauensbegriff und dem Quellenbegriff. Außerdem wies sie auf mehrere Grundfragen hin: Welches ist die je spezifische Vertrauenssituation? Ist Vertrauen in Institutionen möglich? Wie sind Vertrauensbeziehungen im Hinblick auf Symmetrie/Asymmetrie und Horizontalität/Vertikalität strukturiert? Und inwieweit schafft oder bedroht Nähe das Vertrauen? Martin Hartmann (Frankfurt/Main) forderte, das Vertrauen als Handlungskategorie zu fassen und auch das Sprechen über Vertrauen mit seinem Bezug auf die Interessen der Akteure als Handlung zu verstehen. Zudem wies er auf den Umstand hin, dass explizites Sprechen über Vertrauen immer schon auf eine Krise des Vertrauens hindeute. Joanna Pfaff (Bielefeld) betonte, dass vor allem ökonomisches Vertrauen gerade in familiären oder engeren gesellschaftlichen Beziehungen durchaus auch hinderlich sein könne. Sie stellte die These auf, dass die Institutionen die Hauptquellen des Vertrauens seien. Entscheidend für die Funktionsweise des Institutionenvertrauens sei es dabei, dass Organisationen und Institutionen personalisiert und personifiziert würden. Die große Bedeutung derartiger Personifizierungsvorgänge brachte Axel Honneth dazu, sich generell gegen den Begriff des Institutionenvertrauens auszusprechen. Im Hinblick auf die historische Untersuchung des Vertrauens forderte Honneth ein klares begriffliches Raster, das es ermögliche, die Selbstbeschreibungen der historischen Akteure einzuordnen und gegebenenfalls zu korrigieren. Zum Abschluss der Tagung sprach sich Ute Frevert dafür aus, das Phänomen des Vertrauens zwischen den Ebenen der analytischen Kategorie und des Quellenbegriffs zu verorten und in der historischen Arbeit nach beiden Seiten hin abzugleichen. Nach Ute Frevert entwickelte sich im 19. und 20. Jahrhundert eine neue Dimension des Vertrauens, die es ermöglicht habe, mit der durch die immer weiter geöffneten Zukunftserwartungen verschärften Unsicherheit umzugehen.

Die Tagung fand mit ihren anspruchsvollen Beiträgen und Diskussionen sowie mit ihrer gelungenen Kommunikation über disziplinäre Grenzen hinweg bei allen Beteiligten ein sehr positives Echo. Die vorgestellten Beiträge der Mitglieder der Arbeitsgruppe zur "Geschichte des Vertrauens" sollen in einem Tagungsband einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Weitere Informationen können bei Prof. Ute Frevert, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universität Bielefeld, nachgefragt werden.

Kontakt

Prof. Ute Frevert, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universität Bielefeld


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts