Helmut Schelsky - der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption

Helmut Schelsky - der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption

Organisatoren
Alexander Gallus, Technische Universität Chemnitz; gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung
Ort
Chemnitz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.10.2012 - 26.10.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Ellen Thümmler, Technische Universität Chemnitz

Anlässlich des hundertsten Geburtstages vom Helmut Schelsky (14.10.1912 - 24.02.1984) würdigten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen den Intellektuellen, Hochschullehrer und Weggefährten als changierenden Soziologen und politischen Seismographen der Bundesrepublik. Gerade an seinem Geburtsort offenbarte die interdisziplinäre Perspektive von Historikern, Politikwissenschaftlern, Philosophen und Soziologen Möglichkeiten und Grenzen der Schelsky-Interpretation für eine bundesrepublikanische Kultur- oder auch Geistesgeschichte.

Das doppelte Spannungsverhältnis als namhafter Soziologe der Nachkriegszeit und mit seiner Disziplin hadernder Anti-Soziologe einerseits sowie als (universitäts)politischer Reformer und streitbarer Konservativer andererseits stellte das eigentliche Forschungsprogramm der bewusst breit gefächerten Tagung dar. Die Neurezeption sowohl in biografischer wie werkgeschichtlicher Hinsicht entdeckte Helmut Schelsky als „Stichwortgeber des Zeitgeistes“ (Clemens Albrecht in Erneuerung des Wortes von Ludolf Herrmann) mit einem „exemplarischen Wissenschaftlerleben im Jahrhundert der Diktaturen“ (Matthias Zwang). Dabei hat der Wert jener von Schelsky geforderten geistigen Durchdringung der sozialen Wirklichkeit mit dem philosophisch wie soziologisch geschulten Auge und der treffenden Feder auch in den heutigen Sozialwissenschaften, die sich ebenfalls als beratende Disziplinen verstehen, noch Gewicht.

In vier Sektionen wurden über zwei Tage nicht nur Rezeptionslinien gezeichnet, sondern auch nach neuen Interpretationsmöglichkeiten und Anknüpfungsmomenten gesucht. So wurde Schelsky nicht nur als Person und Lehrer vorgestellt, sein politisches Denken im Kontext der Nachkriegsgeschichte rekonstruiert und sein Beitrag zur Disziplin- und Universitätsgeschichte ideenhistorisch eruiert, sondern bewusst nach einer möglichen Re-Lektüre gefragt. Von Beginn an richtete sich die konkrete Debatte auf eine spätere Publikation hin aus. Der Sammelband erscheint unter dem Titel der Tagung und um vier Beiträge ergänzt, mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, im Herbst 2013 im Wallstein-Verlag.

Mit der These, dass Schelskys Vergessenheit auch aus seinem Status als ungeliebter Klassiker gespeist wurde, eröffnete der Gastgeber ALEXANDER GALLUS (Chemnitz) die einführende Rundschau auf Helmut Schelsky. In seiner Deutung bleibt Schelsky als Widerpart von Soziologie und Anti-Soziologie, mit seinem „Realitätsdrall“ bei gleichzeitigem Abstoßen vom Mainstream der Wissenschaft und Hochschulpolitik eine schillernde und gleichsam mehrgeteilte Figur, die Konsistenzen im zäsurreichen 20. Jahrhundert als Zeitalter der Ideologien aufweist. Gallus betonte die Verbindung zwischen Philosophie, Soziologie und Politik, die der durch die Jugendbewegung geprägte Schelsky über ein Studium in Königsberg und Leipzig und die Promotion 1935 bis in den national-revolutionären Elan des Nationalsozialismus überführte. Die Prägung einer anthropologischen Handlungs- und Institutionentheorie in Anlehnung an Hans Freyer und Arnold Gehlen durchziehe das Werk des 1943 an die Reichsuniversität Straßburg berufenen Denkers, der jene akademischen Ehren kriegsbedingt nicht antreten konnte und erst 1948 an die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft berufen wurde. Anhand der weiteren biografischen Stationen – das Ordinariat für Soziologie an der Hamburger Universität 1953, der Ruf nach Münster 1960 und seine Funktion als Leiter der renommierten Sozialforschungsstelle in Dortmund bis hin zum Wirken als Hochschulgründer und –manager an der Universität Bielefeld – vollzog Gallus eine Kontextualisierung der Person. Ab den 1970er-Jahren galt Schelsky, so Gallus, als Protagonist einer konservativen „Tendenzwende“: Er selbst setzte 1973 seinen Aufsehen erregenden Wechsel zurück an die Universität Münster durch und profilierte sich mit einer Intellektuellenschelte, die linken utopischen Zukunftsentwürfen eine totalitäre Tendenz unterstellte. In diesem Sinne gab Gallus die breite Fragestellung vor: Wer also war Helmut Schelsky und was bleibt von ihm, von diesem Soziologen und Anti-Soziologen, diesem Hochschulgründer und –kritiker, diesem Empiriker und Polemiker, diesem Intellektuellen und Anti-Intellektuellen?

Die Referenten der ersten Sektion unterstrichen die biografischen Motive. KARL SIEGBERT REHBERG (Dresden) überblickte das Werk Schelskys im Fokus einer soziologischen und kulturgeschichtlichen Zieldeutung, die jene Wirklichkeitsbindung der modernen Sozialwissenschaften erst einmal herausbilden und begründen musste. Somit schrieb, so Rehberg, Schelsky auch einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Universitätssoziologie: Sich von dem philosophischen Übervater Arnold Gehlen lösend entwickelte er mit Forschungen zur familialen Lebensweise, zur Sexualität und zur Ausdifferenzierung der kapitalistischen Gesellschaften Stichworte und Muster seiner Disziplin. Dabei warnte der spätere Anti-Soziologe vor der zunehmenden Schlüsselstellung seiner Disziplin, die in der Nachbarschaft zum modernen Institutionen- und Rechtsverständnis nicht einem neuen Mystizismus und einer Ideologisierung verfallen dürfe.

VOLKER GERHARDT (Berlin) präsentierte Wegmarken seiner eigenen wissenschaftlichen Ausbildung in den Begegnungen mit Helmut Schelsky. Diese persönliche Sicht auf den Lehrer, Förderer und Kritiker untermauerte zugleich den Stellenwert einer rechtsanthropologisch orientierten Philosophie, welche die Untiefen einer transzendentalen Begründung von Gesellschaften umschiffen kann. Gerhardt charakterisierte Schelsky abseits aller Polemik und Schärfe der wissenschaftlichen und hochschulpolitischen Auseinandersetzungen als gesprächsbereiten und offenen Lehrer, der eine vielfältige Diskussions- und Lernkultur förderte, ohne die Konfrontation zu scheuen. Gerhardt insistierte schließlich darauf, den in der Öffentlichkeit mitunter polemisch-konservativ agierenden Intellektuellen Schelsky nicht mit dem von Liberalität geprägten Lehrer zu verwechseln.

Die Vortragenden der zweiten Sektion sezierten das politische Denken der Nachkriegszeit anhand der von Schelsky gestifteten Begriffe der „skeptischen Generation“ und der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Ein Desiderat der familien- und jugendsoziologischen Arbeiten Schelskys sah CLEMENS ALBRECHT (Koblenz-Landau) in der Desorganisation sozialer Normen nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Gerade die normierende Funktion familialer Strukturen offenbare die Äquidistanz von öffentlichem Sozialbewusstsein und wissenschaftlicher Sozialstrukturanalyse, die Schelsky auch disziplingeschichtlich las. Seine Auseinandersetzungen mit den Begriffen der Klasse oder der sozialen Schicht betonten in der Deutung Albrechts den Wert einer reflexiven Sozialstrukturanalyse, die an der Erkenntnis sozialer Wirklichkeit mit fundierten empirischen Methoden interessiert war. Der Soziologe skizzierte das Bild eines Fachklassikers, dessen Modelle und Begriffe auch für die heutige Beschreibung transnationalisierter Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung nutzbar gemacht werden können, eben weil die fortschreitende Einigung Europas weniger auf Ideen denn funktionalem Sachzwang basiere. Zugleich wurde Schelsky in dieser Deutung zu einem tragischen Anti-Soziologen, da seine Schlagworte ein Eigenleben entwickelten, wie Albrecht anhand der Begriffe von Wirklichkeit oder Realitätsbindung konzedierte.

Der Historiker NIKOLAI WEHRS (Frankfurt an der Oder) betonte den Wert zeitgeschichtlicher Forschungen zu Schelsky. Der besonders in den 1970er-Jahren als Essayist und Kolumnist wirkende Professor habe mit den genannten Stichworten, aber besonders mit der Zuspitzung des Gegensatzes von Demokratisierung und Gewaltenteilung im Ruf nach mehr Demokratie oder mehr Freiheit an intellektuellen Deutungsschemata gesellschaftspolitischer Diskurse gefeilt. Exemplarisch zeichnete Wehrs Schelsky im Kontext des 1970 gegründeten „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ nach und konnte so eine genauere Sicht auf das liberal-konservative Meinungsklima der bundesrepublikanischen Eliten vor den Herausforderungen der Studentenbewegung entwickeln. Obwohl Schelsky in diesem intellektuellen Milieu als Gesprächspartner geschätzt worden sei, verhinderte seine NS-Mitgliedschaft eine offene Mitwirkung, ja hätte in gewisser Hinsicht auch zu seiner Isolierung von liberal-konservativen Eliten der Bundesrepublik geführt.

Innerhalb der dritten Sektion untersuchte CARSTEN KLINGEMANN (Osnabrück) die Rezeption Max Webers im Werk von Helmut Schelsky. Jener hätte sich demnach in der geistigen Nachfolge zu Weber gesehen, die ihn von anderen Mitgliedern der sogenannten Leipziger Schule, wie Arnold Gehlen und Hans Freyer, unterschied bzw. mit diesen verband. Klingemann interpretierte diese Rezeption auch disziplingeschichtlich: Ohne seine Weber-Lektüre können die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft wie seine politische Intellektuellenschelte nach den Begriffen von Macht und Herrschaft nicht verstanden werden. Dass diese verdeckte Weber-Rezeption in die Zeit des Nationalsozialismus falle, bekräftige nur den Widerspruch gegen die These, damals hätte es keine Soziologie gegeben. ALFONS SÖLLNER (Berlin) interessierte Schelsky als Hochschulpolitiker und -planer vor dem Kontext des Humboldt’schen Universitäts-Ideals. Der an der Bielefelder Neugründung und besonders am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung wirkende Schelsky habe die zukünftigen Herausforderungen der Universitäten in der Bildungskatastrophe der 1960er- und 1970er-Jahre gesehen. Sein Credo lautete: Zurück zu Humboldt (organisatorische Einheit von Forschung und Lehre, soziale Einheit von Lehrenden und Lernenden, philosophische Einheit der Wissenschaften) und vorwärts in der technischen Entwicklung, um die zunehmende funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaften auch hochschulpolitisch abzubilden. Söllner sprach sich dagegen aus, Helmut Schelsky als gescheiterten Hochschulreformer zu verorten. Dieser habe sich zwischen den studentischen Rufen nach einer stetigen Demokratisierung der Hochschulen, dem breiten Versagen der Professoren in Reform und Verwaltung wie in der politischen Instrumentalisierung zerrieben. Zugleich löste Söllner die geistige Linie von der Universitätskrise zur allgemeinen Staatskrise in der politischen Rechtsdrift Schelskys keineswegs auf, sondern suchte darin Anleihen zum früheren „konservativen Revolutionär“ Schelsky.

Die Vortragenden der vierten Sektion unternahmen explizite Re-Lektüren. Der am gastgebenden Lehrstuhl tätige FRANK SCHALE (Chemnitz) las die 1939/41 geschriebene, 1981 unverändert publizierte Habilitationsschrift Schelskys zu Thomas Hobbes als ambivalente Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Das in der geistigen Gemengelage der Weimarer Republik so tiefe Spannungsverhältnis von Rationalismus, Individualismus und der modernen Gesellschaft wandele Schelsky mit seiner Hobbes-Lektüre in ein faschistisch-totalitäres Plädoyer für den Nationalsozialismus. Die totale Mobilmachung kenne keine Legitimationskriterien für Herrschaft mehr. Die auch später durchschimmernde Glorifizierung des technischen Staates sei als spezifischer Zugang zum Nationalsozialismus verstanden worden, die Hobbes’ Absolutismus überstrapaziert und sogar noch Carl Schmitts Veto für den totalen Staat zu überhöhen versuche.

Der Sozialwissenschaftler GERHARD SCHÄFER (Berlin) nutzte die anthropologisch fundierte Institutionentheorie des jungen Leipziger Wissenschaftlers Schelsky für seine Verortung in der Nachkriegssoziologie der Bundesrepublik. Auch hier ergebe sich ein soziologiegeschichtliches Desiderat, das aber zugleich theoriestrategische und biografische Facetten entblättere. Schäfer schrieb Schelsky in Konfrontation zu Helmuth Plessner, René König und dem aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Frankfurter Institut für Sozialforschung die Entwicklung einer Erfahrungssoziologie der Institutionen zu. PATRICK WÖHRLE (Dresden) interpretierte Schelskys Soziologie der Sexualität vor dem Geist der restaurativen 1950er-Jahre neu. Auch wenn seine Ergebnisse zur Rolle der Frau, zu Monogamie und Prostitution sowie zur Homosexualität überholt erscheinen würden, hätte das ethnologisch fundierte Material zu den Geschlechtsbeziehungen noch Gewicht. Nach dieser Deutung entwickelte Schelsky eine sozialkulturelle Kontingenz von Sozialnormen, die abseits des zeithistorisch Abnormen wiederum als methodische Frage bedeutsam bleibt.

Gerade die vermeintlichen Tabuthemen führten demnach zu einer besseren Lokalisierung Schelskys zwischen Rückwärtsgewandtheit und Modernisierung. Die Ursachen seiner zunehmenden Vergessenheit als Klassiker der Soziologie müssen in der anfangs skizzierten Vieldeutigkeit und Mehrgeteiltheit gesucht werden. Die Teilnehmer der Tagung waren sich im Wert einer Schelsky-Re-Lektüre für disziplingeschichtliche Forschungen einig, deren endgültige Desiderate neben dem biografischen Kontext noch nicht vollständig absehbar sind. Der Ungeliebte sperrt sich gegen sein Verdrängen.

Konferenzübersicht:

Einführung
Alexander Gallus (Chemnitz)

Sektion I: Die Kontextualisierung der Person
Moderation: Alexander Gallus (Chemnitz)

Karl-Siegbert Rehberg (Dresden): Von der soziologischen »Suche nach Wirklichkeit« zur »Anti-Soziologie«. Helmut Schelskys Position in der Nachkriegsgeschichte des Faches

Volker Gerhardt (Berlin): Erinnerungen und Begegnungen

Sektion II: Helmut Schelsky und das politische Denken nach 1945
Moderation: Frank Schale (Chemnitz)

Clemens Albrecht (Koblenz-Landau): Helmut Schelsky und die Ideengeschichte der Bundesrepublik

Nikolai Wehrs (Frankfurt an der Oder): Rückblick auf einen »Anti-68er«. Helmut Schelsky und der »Bund Freiheit der Wissenschaft«

Sektion III: Schelsky und die Wissenschaft
Moderation: Frank-Lothar Kroll (Chemnitz)

Carsten Klingemann (Osnabrück): Zur Rezeption Max Webers durch Helmut Schelsky im Kontext der ,Leipziger Schule der Soziologie’

Alfons Söllner (Berlin): Helmut Schelsky und die Hochschulpolitik der 1960er-Jahre

Sektion IV: Schelsky – (Re-)Lektüren
Moderation: Michael Vollmer (Chemnitz)

Frank Schale (Chemnitz): Thomas Hobbes. Eine politische Lehre

Patrick Wöhrle (Dresden): Soziologie der Sexualität

Gerhard Schäfer (Berlin): Ortsbestimmung der deutschen Soziologie


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