Formen mittelalterlicher Kommunikation

Formen mittelalterlicher Kommunikation

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris (DHIP) Organisation: Ralf Lützelschwab, Freie Universität Berlin; Julian Führer, Rolf Große, DHIP; Martine Clouzot, Université de Bourgogne, Dijon
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
07.07.2013 - 10.07.2013
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Von
Ralf Lützelschwab, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Auch wenn die Begrifflichkeit allgegenwärtig scheint: Eine verbindliche Definition dessen, was unter „Kommunikation im Mittelalter“ zu verstehen ist, existiert nicht. Hinter dem Oberbegriff „Kommunikation“ verbirgt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Verständigungs- und Ausdrucksformen. Theorie und Praxis präsentieren sich ausgesprochen vielschichtig: Definitorische Vereinfachungen verbieten sich deshalb von selbst. Gleichwohl hat die mediävistische Kommunikationsforschung in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Aspekten behandelt, die Annäherungen an den Problemkomplex erlauben.

In einem vom Deutschen Historischen Institut Paris veranstalteten und von der Deutsch-Französischen Hochschule in Saarbrücken maßgeblich mitfinanzierten dreitägigen „Atelier“ wurde über diese unterschiedlichen Erklärungs- und Deutungsansätze diskutiert.

Eingeladen waren 20 Teilnehmer, vornehmlich Doktorandinnen und Doktoranden aus Frankreich und Deutschland, die Einblick in ihre laufenden Forschungsvorhaben gaben. Kommentiert wurden die jeweiligen Präsentationen von zehn ausgewiesenen Kommunikationsforschern aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland.

Nach einer Einführung in die Thematik durch RALF LÜTZELSCHWAB (Berlin) richtete sich der Blick in der aus vier Vorträgen bestehenden ersten Sektion zunächst auf den „Anderen“ (L’„Autre“). KATHARINA TUGEND (Duisburg-Essen) behandelte in ihrem Beitrag den Briefwechsel zwischen Francesco di Marco Datini, einem wohlhabenden Kaufmann aus Prato, und seiner Ehefrau Margherita (1384-1410). Das erhaltene Briefkorpus mit 434 Briefen legt Fragen nach der konkreten Ausgestaltung einer „Fernbeziehung“ nahe. Auf der Grundlage einer historischen Diskursanalyse unter Berücksichtigung systemtheoretischer Ansätze wurden nicht nur die verschiedenen Kommunikationsthemen erläutert, sondern auch die Frage diskutiert, ob es einen Kommunikationscode „Liebe“ gibt, der in der Lage ist, eine briefliche Kommunikation zu strukturieren. Das Medium des Briefes sollte auch in weiteren Vorträgen eine gewichtige Rolle spielen, so in STEPHANIE CASPARIs (Bochum) Beitrag über merowingische Königstöchter, deren Lebenswelten und Handlungsspielräume im frühmittelalterlichen Europa. Unter Einbeziehung neuer, von der Forschung kontrovers diskutierter Elitenkonzepte wurde Einblick in die Analyse der schriftlichen Zeugnisse zu Königstöchtern als Formen sozialer Kommunikation gegeben. VASILINA SIDOROVA (Moskau) sprach zum Thema „Intercultural Communication and Perception of the „Other“ according to the French Historical Writings of the 10th-12th Centuries“ und verdeutlichte die Problematik regionenübergreifender Kommunikation durch Reisende, Pilger, Diplomaten oder auch Soldaten. Mit einer besonders herausgehobenen Legatenklasse beschäftigte sich ANDREAS KISTNER (Düsseldorf): im Mittelpunkt standen die Kardinallegaten des Avignoneser Papstes Innocenz VI., die – ähnlich wie bei den Vorgängerpäpsten Johannes XXII. und Clemens VI. der Fall – als Hauptprotagonisten päpstlicher Diplomatie anzusehen sind, deren Anzahl aufgrund der schlecht erschlossenen Quellen jedoch derzeit noch schwer abzuschätzen ist. Diskutiert wurde darüber, welche Kommunikationsmittel und –wege von den päpstlichen Legaten vornehmlich verwandt wurden und wie die Bedeutung des in den Quellen häufiger mit viva voce umschriebenen mündlichen Austauschs heuristisch zu werten ist.

Die theologischen Dimensionen von Kommunikation standen im Fokus der zweiten, abermals aus vier Vorträgen bestehenden Sektion, die von MARTA BIGUS (Gent) mit Betrachtungen zur „Middle Dutch Exegesis of the Decalogue“ (1300-1550) eröffnet wurde. Auch hier ergaben sich Anknüpfungspunkte zu bereits zuvor behandelten Aspekten: denn erfolgte Exegese in Form von Predigt, ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem performativen Akt und seiner Verschriftlichung. Welche Aussagen lassen sich über die Beziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Medium der Predigt treffen? HUGO PERINA (Dijon) näherte sich einem anderen Medium und sprach über das kommunikative Potential von „L’Orgue alla moderna. Diffusion d’un modèle florentin dans l’Italie renaissante (1437-1550)“. Er behandelte dabei sowohl das sonore als auch das handwerklich-künstlerische Erscheinungsbild der italienischen Renaissanceorgel und machte so auf ein Klangbild (mit seiner architektonischen Hülle in Gestalt des Orgelgehäuses) aufmerksam, das sich deutlich von dem unterschied, was nördlich der Alpen auf diesem Gebiet anzutreffen war. IRINA REDKOVA (Moskau) richtete den Blick auf „Kommunikationsformen in der monastischen Tradition des 12. Jahrhunderts zwischen Norm und Realität“ und berücksichtigte vor allem die konkreten Auswirkungen des Schweigegebots in der klösterlichen kommunikativen Praxis. Der kommunikativen Praxis von sozial marginalisierten Gruppen – einem seit langem konstatierten Forschungsdesiderat – widmete sich MICHAEL GORDIAN (London) und lieferte eine innovative Ergänzung zum Komplex der symbolischen Kommunikation. Die Frage nach dem „Theater der kleinen Leute“ verweist auf Handlungen und Rituale, die sich zwar im Kleinen entfalten, deshalb jedoch nicht unbedingt weniger „symbolisch“ sein müssen als das, was sich an der Spitze der Gesellschaft abspielt.

Die dritte Sektion widmete sich Aspekten von „Kunst und materieller Kultur“. Während EMILIE MARASZAK (Dijon) eindrücklich die politische Aussagekraft von Miniaturen unter Beweis stellte, die sich in einer heute in Dijon aufbewahrten, aus Akkon stammenden Handschrift aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts finden, verwies BRIGITTE HOTZ (Aachen) auf das kommunikative Potential von Grabmalarchitektur bzw. -skulptur während des Großen Schismas. In den Blick geriet Sepulkralarchitektur, die als steingewordener Ausdruck päpstlicher Legitimität post mortem zu begreifen ist, als letzte Äußerung in einem Konkurrenzkampf, in dem sich Päpste und Gegenpäpste gegenüberstanden.

Medien der Heiligenverehrung im mittelalterlichen Svanetien bildeten den Mittelpunkt der Ausführungen von MARINA KEVKHISVILI (Berlin/Florenz), die Einblick in reiche, bisher nur ansatzweise erschlossene hagiographische Quellen in Georgien gab – Artefakte, die häufig aus Byzanz stammen und vor Jahrhunderten an einzelne Familien dieser abgelegenen Region Georgiens zur sicheren Verwahrung übergeben worden waren. Deren Nachfahren behüten sie noch heute und stehen dem Verlangen der Forscher nach Katalogisierung und Beschreibung reserviert gegenüber. URSULA GIESSMANN (Köln) richtete den Blick auf „Textilität – Die Stofflichkeit Kölns im Spätmittelalter“ und stellte ein umfangreiches Quellenkorpus vor, das den spätmittelalterlichen städtischen Raum auf ganz eigene Art und Weise prägte.

Die vierte Sektion beleuchtete das Verhältnis von „Kommunikation und Historiographie“.

Während ANASTASIA BRAKHMAN (Bochum) Formen literarischer Kommunikation am ottonischen Herrscherhof vornehmlich am Beispiel Liutprands von Cremona behandelte, richtete GIUSEPPE CUSA (Frankfurt a. M.) den Blick auf kommunikative Aspekte in der Chronik des Paduaners Rolandinus und hob dabei auf vier Beschreibungsebenen ab: inhaltlich, stilistisch-konzeptuell, didaktisch-pädagogisch und rezeptiv. In beiden Vorträgen war es das Verhältnis zwischen Verfasser der Chronik und potentiellem Leser, das in den Blick geriet. Mit welchen Mitteln konnten bestimmte Rezipientenkreise angesprochen und beeinflusst werden?

Aspekte von „Kommunikation und Konfliktlösung“ wurden in der fünften Sektion behandelt. Im Zentrum der Ausführungen von JEAN-DOMINIQUE DELLE LUCHE (Paris) standen die Schützenfeste im spätmittelalterlichen Reich und der daraus resultierende umfangreiche Briefverkehr zwischen den einzelnen Teilnehmerstädten mit reichen Informationen zu Terminfindung, Organisation, auftretenden Konflikten und deren Beilegung. FLORIAN DIRKS (Erfurt) griff diese grundsätzlichen Fragen weiter auf und analysierte die Mechanismen der Konfliktbeilegung auf spätmittelalterlichen Tagfahrten zwischen Weser und Elbe. Im Beitrag von ARMANDO TORRES FAVAZ (Dijon) wurden anhand der „enquêtes judiciaires“ im Burgund des 12. und 13. Jahrhunderts Mechanismen der Informationsbeschaffung und –übermittlung behandelt, während CHRISTINA WALDVOGEL (Leipzig) den Blick auf drei spätmittelalterliche Gerichtsbücher aus Bautzen aus Sicht der historischen Sprachwissenschaft richtete.

„Päpste und Kardinäle“ bildeten schließlich den Mittelpunkt der sechsten und letzten Sektion, in der SEBASTIAN T. ZANKE den Blick abermals auf das Avignonesische Papsttum und den diplomatisch hocheffizienten Einsatz von Legaten lenkte. VICTORIA TRENKLE (Erlangen) behandelte das Phänomen des hochmittelalterlichen Kardinalats, dessen Vertreter sich – zumindest bis ins späte 11. Jahrhundert – zumeist nur recht schemenhaft fassen lassen. Hier soll prosopographische Grundlagenarbeit bald Abhilfe schaffen. Beide Vorträge machten deutlich, dass die blühende Kardinalatsforschung der vergangenen Jahre erfreulicherweise noch nicht an ihr Ende gekommen ist.

Jeder Vortrag wurde zweifach kommentiert: ein Stipendiat und einer der anwesenden Professoren richteten dabei den Blick sowohl auf inhaltliche als auch auf methodische Aspekte – Aspekte, die ebenfalls Gegenstand der lebhaften Diskussionen in Anschluss an jeden Vortrag waren. Diskussionen fanden freilich nicht nur im Plenum statt: Ein Nachmittag war für „Vier-Augen-Gespräche“ zwischen Professoren und Stipendiaten reserviert.

Insgesamt bewies das „Atelier“ einmal mehr die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit des Konzepts „Kommunikation im Mittelalter“. „Symbolische Kommunikation“ spielt dabei zwar nach wie vor eine zentrale Rolle, doch wird das Lieblingskind kommunikationsgeschichtlicher Untersuchungen der vergangenen Jahrzehnte inzwischen fruchtbringend ergänzt durch Erkenntnisse weiterer historischer Disziplinen wie der Realienkunde oder der Sprachwissenschaft.

Die Vorträge der Tagung sollen online in der Reihe des DHIP „discussions“ veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht:

Ralf Lützelschwab (Berlin): Einleitung

Katharina Tugend (Duisburg-Essen): Die kommunikative Konstruktion des Ehepaares. Der Briefwechsel Margheritas und Francesco di Marco Datinis (1384-1410)

Stephanie Caspari (Bochum): Merowingische Königstöchter: verschwundene Prinzessinnen?

Vasilina Sidorova (Moskau): Intercultural Communication and Perception of the „Other“ according to the French Historical Writings of the 10th-12th Centuries

Andreas Kistner (Düsseldorf): Das Legatenwesen unter Innocenz VI.

Marta Bigus (Gent): Middle Dutch Exegesis of the Decalogue (1300-1550)

Hugo Perina (Dijon): L’Orgue alla moderna. Diffusion d’un modèle florentin dans l’Italie renaissante (1437-1550)

Irina Redkova (Moskau): Disciplina silentii und Kommunikationsformen in der monastischen Tradition des 12. Jahrhunderts zwischen Norm und Realität

Michael Gordian (London): Sprachen der Armut – Sprache der Armen. Symbolische Kommunikation von sozialen Randgruppen im Spätmittelalter

Émilie Maraszak (Dijon): La communication par l’image dans les États latins d’Orient. Les miniatures de l’histoire ancienne jusqu'à César, Saint-Jean-d’Acre, 1260-1291

Brigitte Hotz (Aachen): Gebaute Memoria in Schismazeiten (1378-1455)

Marina Kevkhisvili (Berlin/Florenz): Medien der Heiligenverehrung im mittelalterlichen Svanetien. Text, Bild, Ritual

Ursula Gießmann (Köln): Textilität – Die Stofflichkeit Kölns im Spätmittelalter

Anastasia Brakhman (Bochum): Außenseiter und „Insider“ in der frühmittelalterlichen Historiographie. Literarische Kommunikation am ottonischen Herrscherhof

Giuseppe Cusa (Frankfurt a. M.): Kommunikation in der Chronik des Paduaners Rolandinus

Jean-Dominique Delle Luche (Paris): „vmb vnsern willen euwer schießgesellen her zu vns senden“: la communication entre les villes du Saint-Empire à l’occasion des concours de tir (XVe siècle)

Florian Dirks (Erfurt): Sühnen, tagen, Frieden schließen. Die Beilegung von Konflikten zwischen Weser und Elbe auf Tagfahrten 1380-1480.

Armano Torres Favaz (Dijon): Enquête judiciaire au Moyen Âge. Techniques d’information et formes de communication (Bourgogne, XIIe-XIIIe siecle)

Christina Waldvogel (Leipzig): Drei spätmittelalterliche Gerichtsbücher aus Bautzen

Sebastian T. Zanke (München): Politik und Kommunikation im Konflikt. Das avignonesische Papsttum und die Herausforderung(en) des spätmittelalterlichen Europa

Victoria Trenkle (Erlangen): Expertise und Ehre. Kardinäle im hohen Mittelalter


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