Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (SGWSG)
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
14.06.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Straumann, Universität Zürich

Die Wirtschaftsgeschichte hat seit dem Ausbruch der jüngsten Finanzkrise vermehrt Aufmerksamkeit erhalten, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Geschichtswissenschaft. Die Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (SGWSG) hat deswegen ihre traditionelle Jahrestagung dem Thema „Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte“ gewidmet. Das Ziel war, die ganze Breite der Ansätze abzubilden, die momentan an Schweizer Universitäten verfolgt werden. Neuere kulturgeschichtlich inspirierte Fragestellungen fanden dabei ebenso ihren Platz wie ökonometrisch fundierte Studien.

Am Vormittag referierten der Frühneuzeithistoriker JON MATHIEU (Luzern), die Unternehmenshistorikerin MARY O‘SULLIVAN (Genève) und der Finanzhistoriker MARC FLANDREAU (Genève). JON MATHIEU widmete sich in seinem Referat der umstrittenen Frage, inwiefern die Klimageschichte zu einer neuen Sicht der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte beitragen kann. Sein Fazit fiel gemischt aus. Auf der einen Seite habe die Forschung bei der Rekonstruktion der klimatischen Variabilität der Vormoderne enorme Fortschritte gemacht. Auf der andern Seite aber bestünden immer noch große Unterschiede zwischen den einzelnen Klimarekonstruktionen, etwa bei der zeitlichen Festsetzung der Kleinen Eiszeit im Spätmittelalter. Zudem seien die Versuche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche mit langfristigen Klimaschwankungen zu erklären, schnell an ihre Grenzen gestoßen. Mathieu plädierte daher für eine neue Bescheidenheit, um das massive Ungleichgewicht in der historischen Klimatologie – viel Rekonstruktion, wenig Impact – etwas auszugleichen. Erstens sollte sich die Klimageschichte auf die kurzfristigen Schwankungen konzentrieren, weil Ursache, Wirkung und Rückkoppelung besser beobachtet werden könnten. Zweitens müsse sich die Forschung noch viel mehr der Frage widmen, wie die Variabilität in peripheren Gebieten wie etwa dem Alpenraum beschaffen war, statt implizit anzunehmen, dass sie besonders ausgeprägt gewesen sei. Und drittens machte Mathieu die methodische Empfehlung, in einem ersten Schritt ausschließlich von den beobachteten Stresssymptomen auszugehen und das Spektrum der möglichen Erklärungen ganz offen zu lassen. Klimaschwankungen können eine wichtige Rolle spielen, aber sie a priori zum wichtigsten Faktor zu erklären, führte schnell in die Irre.

MARY O’SULLIVAN präsentierte ein Kapitel aus ihrem neuen Buch über die Finanzierung der amerikanischen Industrialisierung, das demnächst erscheinen wird. Im Zentrum ihres Referats stand die Frage, ob die Entwicklung der Stahlindustrie nach dem Bürgerkrieg (1861-65) auf externer oder interner Finanzierung beruhte und wie man den Erfolg des Stahlmagnaten Andrew Carnegie diesbezüglich einschätzen müsse. Die Literatur hat bisher sich widersprechende Antworten gegeben. Gemäß Lance Davis habe die externe Finanzierung keine Rolle gespielt, und Carnegies Aufstieg habe auf dem hohen Grad an interner Finanzierung beruht. Alfred Chandler hingegen postulierte, dass Carnegie zu einem großen Teil auf externe Finanzierung zugreifen konnte, in dieser Beziehung aber einzigartig gewesen sei. O’Sullivan zeigt anhand einer Fallstudie, dass beide Ansichten nicht zutreffen. Die Joliet Iron & Stell Company in der Nähe von Chicago konnte in den 1870er und 1880er Jahren auf ein hohes Maß an externer Finanzierung zugreifen, aber geriet deswegen auch in große Konflikte mit dem wichtigsten Geldgeber in New York. Vor der Entwicklung der New Yorker Börse beruhte das Verhältnis zwischen Management und Financier auf „persönlichem Kapitalismus“, der die Führung eines Unternehmens in Krisensituationen enorm erschweren konnte.

MARC FLANDREAU stellte sein neustes Projekt zur Bedeutung der Anthropologie für die Entwicklung der Börse im viktorianischen England vor. Wie Flandreau lebhaft schilderte, stieß er bei Recherchen zum Londoner Markt für Auslandsanleihen auf eine interessante Verflechtung zwischen britischen Anthropologen und der Corporation of Foreign Bondholders (CFB). Bei der weiteren Nachforschung wurde klar, dass die anthropologische Expertise eine entscheidende Bedeutung bei der Emission und beim Verkauf von lateinamerikanischen Anleihen spielte. Die Geschäftsträger der CFB, die zugleich die anthropologischen Gesellschaften in London leiteten, weckten gezielt die Kursphantasie mit wissenschaftlichen Gutachten und übten großen Einfluss auf den Markt aus. Flandreau sieht deswegen eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der verhängnisvollen Rolle, welche die Ökonomie bei der jüngsten Finanzkrise gespielt hat, und derjenigen der Anthropologie bei den heftigen Finanzzyklen, die in den 1860er- und 1870er-Jahren in London auftraten.

Am Nachmittag stellten die Doktorandinnen und Doktoranden ihre laufenden Arbeiten in Kurzreferaten in drei separaten Panels vor. Das erste Panel diskutierte die Geschichte des „organisierten Kapitalismus“ in der Schweiz in vergleichender Perspektive. Die Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft bei Wirtschaftsverhandlungen im Ersten Weltkrieg, die Regulierung des Agrarsektors und die Entwicklung der Altersvorsorge dienten als empirische Grundlage für generalisierbare Aussagen über den spezifisch schweizerischen Korporatismus.

Das zweite Panel beschäftigte sich mit den Beziehungen zwischen weltwirtschaftlichen Veränderungen, der schweizerischen Wirtschaftspolitik und der regionalen Wirtschaftsstruktur. Die langwierige Entwicklung hin zu einem nationalen Patentgesetz im 19. Jahrhundert, die Verwandlung der Städte um 1900, der Strukturwandel der Wirtschaftsbranchen (Beispiel Buchdruck und Luftfahrt) und die tektonischen Verschiebungen des nationalen Wirtschaftsraumes sind aufs Engste mit globalen Trends und Zyklen verbunden.

Das dritte Panel behandelte die Strukturen der Weltwirtschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Themen umfassten den internationalen Handel im Spätmittelalter (venezianischer Sklavenhandel), die Entstehung und Ausbreitung von Finanzkrisen („Panic of 1907“ und lateinamerikanische Schuldenkrise der 1980er-Jahre), die Rolle von internationalen Organisationen bei Regulierungsfragen (OEEC in den 1950er-Jahren) und die grenzüberschreitende Kapitalflucht in der Zwischenkriegszeit.

Die Tagung demonstrierte eindrücklich, dass die wirtschaftshistorische Forschung in der Schweiz in den letzten Jahren einen starken Schub erlebt hat. Nicht nur in Genf und Zürich, wo die Wirtschaftsgeschichte seit langem institutionell verankert ist, sondern auch in Basel, Bern, Lausanne und Luzern ist das Feld in Bewegung geraten. Des Weiteren wurde in den Diskussionen deutlich, dass von einem großen Graben zwischen Geschichte und Ökonomie keine Rede sein kann. Es ergaben sich zahlreiche Berührungspunkte, sobald man über ein konkretes wirtschaftshistorisches Problem sprach. Der befürchtete Streit der Fakultäten blieb aus.

Konferenzübersicht:

Keynotes

Jon Mathieu (Universität Luzern): Klimawandel und Wirtschaftsgeschichte der Vormoderne: Zur Methodendiskussion
Kommentar: Christian Rohr (Universität Bern)

Mary O’Sullivan (Université de Genève): A Fine Failure: Financing the Joliet Iron & Steel Company, 1869-1888
Kommentar: Thomas David (Université de Lausanne)

Marc Flandreau (Graduate Institute, Geneva): Acts of Speculation: Anthropology as White Collar Crime in Victorian Britain 1860–1876
Kommentar: Tobias Straumann (Universität Zürich)

Panel 1: Staat und Wirtschaft (Leitung: Jakob Tanner, Universität Zürich)

Florian Weber (Universität Zürich): Schweizer Unterhändler oder Exportunternehmer? Hans Sulzers diplomatische Mission in Washington im Ersten Weltkrieg

Roman K. Abt (Universität Basel): Schweizer Preise für Käse und Getreide (1910–1938)

Dorothee Ryser (Universität Basel): Die Regulierung des Agrarsektors in der Schweiz: Das Beispiel der Schweizerischen Käseunion (1914–1999)

Pierre Eichenberger (Université de Lausanne): Les caisses de compensation professionnelles en Suisse : du rêve corporatiste local au centralisme patronal (1929–1940)

Beat Stüdli (Universität Basel): Wirtschaftsverwaltung im Wandel: Die französische Versicherungsdirektion (1900–1950)

Panel 2: Internationale Arbeitsteilung, nationale Politik und regionale Wirtschaftsstruktur (Leitung : Matthieu Leimgruber, Université de Genève)

Nicolas Chachereau (Université de Lausanne): Pourquoi se priver de copier ? Partisans et opposants helvétiques des brevets d’invention (1876–1888)

Benedikt Meyer (Universität Bern): Schweizer Luftfahrt: Angebot und Nachfrage (1945–1990)

Christian Stohr (Université de Genève): Agglomeration economies and economic growth in Switzerland, 1860–2000

Heinz Nauer (Universität Luzern): «Fromme Industrie»: Die Geschichte des Benziger Verlags Einsiedeln (1750–1960)

Laura Fasol (Universität Luzern): Stadtgestalt und Stadtgesellschaft: Identitätskonstruktionen in Winterthur, Luzern und Bern um 1900

Panel 3: Strukturen der Weltwirtschaft und internationale politische Ökonomie (Leitung: Tobias Straumann, Universität Zürich)

Juliane Schiel (Universität Zürich): Wirtschaftsfaktor Sklaverei: Zur Rolle und Bedeutung der Ware „Sklave“ im venezianischen Handelsgeflecht des 14. und 15. Jahrhunderts

Beatrix Purchart (Universität Zürich): Die «Panic of 1907» und ihre Auswirkungen auf die Schweiz

Christophe Farquet (Université de Lausanne): Transit illégal de titres, domicilations fictives et confidentialité bancaire: le développement de la finance offhore en Europe dans l’entre-deux-guerres

Patricia Hongler (Universität Luzern): Das Ende «Eurafrikas» und der Übergang von der OEEC zur OECD

Sebastian Alvarez (Université de Genève): Willingness Above Capacity: Exploring Latin America Defaulting Decisions in the 1980s


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