"This is the Modern World". Pour une histoire sociale du Rock / For a Social History of Rock Music

"This is the Modern World". Pour une histoire sociale du Rock / For a Social History of Rock Music

Organisatoren
Université Charles-de-Gaulle Lille 3 (Lille, France) - Organization Committee: Martine Aubry, Lille 3, IRHIS; Arnaud Baubérot, Paris Est-Créteil, CRHEC; Laurent Brassart / Florence Tamagne / Mélanie Traversier / Sylvie Vérité, Lille 3, IRHIS
Ort
Lille
Land
France
Vom - Bis
13.06.2013 - 15.06.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Bücher, die eine Geschichte der Rockmusik oder zumindest bestimmter Kapitel daraus versprechen, gibt es aus der Feder von MusikwissenschaftlerInnen und -expertInnen in großer Zahl. Ganz selten wurde bisher jedoch versucht, die Entwicklung dieser Hauptrichtung populärer Musik ins Zentrum komplexer gesellschafts- oder sozialhistorischer Untersuchungen zu stellen.1 Ist das überhaupt machbar und wie könnte es systematisch angegangen werden? Derartige Fragen wurden im Aufruf zur Konferenz „‚This is the Modern World‘. Pour une histoire sociale du Rock / For a Social History of Rock Music” empirisch wie theoretisch ausdifferenziert und stießen auf breite Resonanz. Dass die Tagung jedoch nur ein Anfang sein und einen Impuls geben könne, stellten die beiden Organisatoren, FLORENCE TAMAGNE (Lille) und ARNAUD BAUBEROT (Paris), gleich in ihrer Einführung fest. Entsprechend schlugen sie vor, nicht über die Definition von „rock music“ und deren Abgrenzungen zu debattieren, sondern pragmatisch-heuristisch-quellenbezogen nichts auszuschließen, was sich selbst diesem musikalischen Genre zuordnete. Und die Frage, was „social history“ bei einem solchen Gegenstand meinen könne, wurde in den Vorträgen gar nicht erst angesprochen.

Doch ganz offenbar ergibt sich aus der Vielfalt und Disparatheit der Ansätze zu einer Geschichte der Rockmusik eine große Motivation zu Austausch und Diskussion. Von allen fünf Kontinenten waren ReferentInnen gekommen und das Programm umfasste 36 Vorträge. Angesichts solcher Fülle kann dieser Bericht auch nur versuchen, einige allgemeinere Beobachtungen zum Forschungsfeld zu formulieren.

Im multidisziplinären Programm bildeten HistorikerInnen nur eine – und keineswegs die größte – Gruppe. Musikwissenschaft und Musikethnologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Kultur- und Medienwissenschaften, Amerikanistik, Anglistik und Romanistik waren als Fächer ebenfalls vertreten. Einige Beiträge kamen von nichtakademischen Experten und viele Teilnehmer sind in außeruniversitären Kulturprojekten engagiert, bis hin zu Auftritten als Musiker. Diese Vielfalt und Eigenart der Interessen und Zugänge zum Thema kennzeichnete die Tagung auch insofern, als kaum ein Beitrag spezialistische Züge trug, die Teilnehmer anderer Provenienz ausgeschlossen hätten. Kritisch wurde dazu angemerkt, dass man zwar häufig auf bestimmte musikalische Eigenschaften von Kompositionen, Genres oder Bands einging, dass es jedoch keine einzige streng musikologische Analyse gab.

Vielleicht das bemerkenswerteste Ergebnis der Konferenz ist: Es gibt in diesem Feld kein nationalgeschichtliches Paradigma; über Rockmusik kann man offenbar nur im Horizont weltweiter kultureller Transfers, Beziehungen und Koevolutionen sprechen. Selbst Beiträge zum „rock français“ stellten ihren Gegenstand fraglos in den Zusammenhang mit der Präsenz internationaler Trends in Frankreich und mit den Austauschprozessen der Frankophonie (SCOTT HENDERSON, St. Catharines; CÉCILE PREVOST-THOMAS, Paris; PHILIPPE GONIN, Burgund) oder verglichen ihn mit der anglophonen Welt (DAVID LOOSELEY, Leeds). Systematisch vertrat diese Perspektive MOTTI REGEV (Raanana) mit seiner These einer kohärenten Weltgeschichte des Rock und Pop seit den 1960er-Jahren, der ein übereinstimmendes Muster nationaler/regionaler Adaptionsprozesse der vom Rock’n’Roll ausgehenden Impulse unterliege. Andere empirische Studien bezogen sich auf Konzepte der Hybridisierung am Beispiel des „anatolischen Rock“ (HOLGER LUND, Ravensburg) und der Transkulturation (CLAUDE CHASTAGNER, Montpellier).

Ein Panel widmete sich der Frage nach Archiven und Methoden. Nationalbibliotheken und vergleichbare Einrichtungen versuchen, ihre kleinen, heterogenen und stark von den Zufällen der Erwerbungsgeschichte geprägten popmusikalischen und popmusikbezogenen Bestände zugänglich zu machen (ANDY LINEHAN, London). Dabei müssen sie sich ebenso mit den Beschränkungen durch Copyrights und Datenschutz auseinandersetzen wie die von lokalen Aktivisten ins Netz gestellten und „von unten“ wachsenden Internetarchive zur Geschichte regionaler Musikszenen (JEZ COLLINS, Birmingham). Daneben entstehen regionale Datenbanken; sie erschließen der Forschung Material, das aber im Kontext begrenzter Fragestellungen zusammengestellt wurde (JOANNE ELART / PASCAL DUPUY, Rouen). Wie beweglich und kaum zu fassen die Gegenstände historischer Populärmusikforschung sind, machte Linehan daran deutlich, dass Musikunternehmen identische Einspielungen eines Titels in verschiedensten Kontexten auf den Markt bringen. LUC ROBÈNE (Rennes) zeigte, dass hinter dem Namen einer Band ständig wechselnde Musiker stecken und dass diese Geschichte selbst von Beteiligten nicht zuverlässig rekonstruiert werden kann. Die meisten Beiträge nutzten Tonträger, Musikvideos, Fanzines und Zeitschriften sowie Fotografien als Quellen. Schon die für die Popmusik zentralen Events wie Konzerte und die Aktivitäten des Publikums dort sind selten umfassend dokumentiert und wurden nur in einer Studie analytisch herangezogen (SOLVEIG SERRE, Paris).

Fragt man nach systematischeren oder theoretischen Zugängen zu einer Sozialgeschichte der Rockmusik, dann kann man eine ganze Reihe von Perspektiven benennen, die einzelne Studien verfolgten – ohne dabei explizit auf geschichts- und kulturwissenschaftliche Theoriedebatten Bezug zu nehmen. Im Vordergrund stand die weit gefasste Frage nach Rockmusik in politischen Kontexten. Untersucht wurden Musikprojekte als postkoloniale (IFALIANTSOA RAMIALISON, Paris) und humanitäre Interventionen (LUIS VELASCO PUFLEAU, Paris), die Auseinandersetzung des Madrider Punkrock mit der Franco-Vergangenheit (MAGALI DUMOUSSEAU LESQUER, Avignon), die Reaktion der finnischen Kulturpolitik auf das Vordringen internationaler Popmusik (TARJA RAUTIAINEN-KESKUSTALO, Tampere), die Bedeutung französischer Popmusik im Franco-Spanien der 1960er-Jahre (ISABELLE MARC, Madrid), politische Stimmungen als Ursachen für Aufstieg und Niedergang der französischen Rockband „Trust“ (GEROME GUIBERT, Paris), künstlerische Auseinandersetzungen mit der Militärdiktatur in Brasilien (HOLLY HOLMES, Urbana-Champaign), der Streit um elektrische Gitarren in der chilenischen Popularmusikbewegung der 1970er-Jahre (EILEEN KARMY/MARTIN FARIAS, Santiago de Chile), Positionen südafrikanischer Popmusik zur Apartheid (SCHALK VAN DER MERWE, Stellenbosch), Auseinandersetzungen um Punk-Rock in der späten Sowjetunion (CHRISTIAN WERKMEISTER, Jena), schließlich der Streit um die Frage, wie kritisch Rockbands in den letzten Jahren der DDR auftreten konnten und auftraten (MICHAEL RAUHUT, Agder).

Weitere Zugänge richteten sich auf die Entwicklung der Musikindustrie am Beispiel der britischen Electric and Musical Industries Ltd. (EMI) (DAVE LAING, Liverpool) und darauf, wie Musiker auf Veränderungen in den Technologien der Musikerzeugung (zum Beispiel Synthesizer) reagierten (JOHN WILLIAMSON, Glasgow). Selbstverständlich wurden Zusammenhänge zwischen Rasse/Ethnizität und Rockmusikgeschichte angesprochen, mit der Frage nach dem Verhältnis des Rock’n’Roll zur „Blackness“ (KEIVAN DJAVADZADEH, Paris) und mit einer Studie zur Entwicklung des „Chicano Rock“ (CLAUDE CHASTAGNER, Montpellier). Nur ein Beitrag fokussierte die Geschlechterthematik am Beispiel weiblicher Skinheads (GILDAS LESCOP, Nantes). Die Positionierung von Rockmusik in Distinktionshierarchien legitimer und illegitimer Kultur sprachen DAVID LOOSELEY (Leeds) anhand von Rock und Chanson in Frankreich sowie KASPAR MAASE (Tübingen) am Beispiel des „kulturellen Klassenkampfes“ um US-amerikanischen Rock in der Bundesrepublik an. TONY MITCHELL (Sidney) zeichnete die öffentliche Auseinandersetzung um die Auftritte der „Pretty Things“ in Neuseeland 1965 nach.

Einen ideengeschichtlichen Ansatz verfolgte SIMON WARNER (Leeds) mit der Frage nach dem Einfluss der US-amerikanischen Beatautoren auf die britische Rockmusikszene der 1960er-Jahre. Ideologie und innere Struktur von Rockmusikszenen untersuchten MENG TZE CHU (Tainan) mit dem Blick auf Elitismus unter extremen Metalheads und SOLVEIG SERRE (Paris) anhand der Gemeinschaftsideologie unter den Fans von „New Model Army“. Erstaunlich wiederum, dass körpergeschichtliche Aspekte nur im Beitrag von BODO MROZEK (Berlin) zur transatlantischen Karriere des Twist fokussiert wurden. Auf die Möglichkeiten eines metahistorischen Zugriffs verwies OLIVIER JULIEN (Paris) mit einer Relektüre klassischer Arbeiten zur Geschichte des Rock’n’Roll. Eine spezifische transkulturelle Perspektive schließlich eröffnete JEFF HAYTON (Urbana-Champaign) mit einer Studie zum London-Tourismus der ersten deutschen Punkrock-Fans.

Eine beeindruckende Vielfalt ertragreicher Aspekte; und doch ließe sich ohne große Mühe eine Liste ebenso vielversprechender Zugänge erstellen, die in Lille kaum oder nur en passant verfolgt wurden – von Amateurbands und Clubs über Fans und Producer bis zu Studiotechnologien und Popmusikkritik. Vom Umfang her erweist sich die Geschichte der Rockmusik als ein ganzer Kontinent – und noch dazu als ein durch und durch „globalisierter“. Auf dem Weg zu einer Sozialgeschichte des Rock wird man zukünftig erheblich mehr über die theoretische Strukturierung des Feldes und die bestimmenden Kräfte seiner Entwicklung debattieren müssen.2

Konferenzübersicht

Florence Tamagne (Lille) / Arnaud Bauberot (Paris): Introduction / Introduction

Panel 1: sources et methodologie / Sources and Methods

Jez Collins (Birmingham): Multiple voices, multiple memories: Public history-making and activist archivism in online popular music archives

Joann Elart / Pascal Dupuy (Rouen): Dezède, un portail pour écrire l’histoire du Rock: l’exemple des concerts rock en Haute-Normandie de 1968 à 1977 et l’arrivée du Punk

Andy Linehan (London): Keeping tracks – Popular Music in The British Library

Luc Robène (Rennes): Ecrire l’histoire du rock: Entre archive(s) et mémoire(s). L’exemple des débuts du groupe Noir(s) Désir(s)

Panel 2: rock et industries culturelles / Rock Music and Cultural Industries

Dave Laing (Liverpool): The Rise and Fall of EMI: A case study in music industry history

John Williamson (Glasgow): Synthesisers: Friend or Foe?

Panel 3: rock et identités / Rock Music and Identities

Panel 3A: identités musicales / Musical Identities

Meng Tze Chu (Tainan): Classification, Elitism and Imaginary Genealogy – Extreme Metalheads’ Historical Narrative and Self-identification

Solveig Serre (Paris): “Looking for family, looking for tribe”. Réflexions sur New Model Army

Panel 3B: identités de genre, identités de classe, identités ethniques / Gender Identities, Class Identities, Race Identities

Gildas Lescop (Nantes): Regards masculins, paroles féminines: Les filles dans le mouvement skinhead

Keivan Djavadzadeh (Paris): Blacking Up: Le rock des années 50 et 60 au prisme du blackface

Scott Henderson (St. Catharines): “I Dream a Song”: Saint-Etienne, France and the Changing Music Scene

Claude Chastagner (Montpellier) : Chicano rock: Acculturation – transculturation

Conference Pleniere / Keynote Conference

David Looseley (Leeds): Repenser le populaire? Quelques réflexions sur le rock en France et en Angleterre

Panel 4: histoire croisée, histoire comparée / Histoire Croisee, Comparative History

Bodo Mrozek (Berlin): Le twist: Incorporer la transformation culturelle

Motti Regev (Raanana): For a world history of pop-rock music

Ifaliantsoa Ramialison (Paris): Rock around the globe: La world music, un objet rock? L’exemple d’Africa Express

Luis Velasco Pufleau (Paris): ‘We are the world’: Une histoire sociale et politique de la chanson humanitaire

Panel 5: transferts culturels et identités nationales / Cultural Transfers and National Identities

Magali Dumousseau Lesquer (Avignon): De Kaka de Luxe à Boikot: Quand le punk rock madrilène retrouve la mémoire

Tarja Rautiainen-Keskustalo (Tampere): Enlightenment through Rock? The invasion of Anglo-American popular music and the birth of the welfare state cultural politics in the 1960s in Finland

Tony Mitchell (Sidney): ‘Ferocious garage’ and rock delinquency: The Pretty Things’ 1965 Tour of New Zealand

Holger Lund (Ravensburg): Anatolian rock – Phenomena of hybridization

Panel 6: Krautrock, rock allemand / Krautrock, German Rock Music

Jeff Hayton (Urbana-Champaign): London’s burning: Punk rock ‘tourismus’ and the making of the West German scene

Kaspar Maase (Tübingen): Rock’n’roll, bottom-up Americanization, and cultural hegemony. A case study in West Germany 1956-1960

Panel 7: rock français, rock francophone / French Rock Music, French Speaking Rock Music

Isabelle Marc (Madrid): Les yéyés en Espagne: Les musiques françaises sous Franco

Gerome Guibert (Paris): Gloire et déclin du groupe de hard-rock français Trust (1977-1984): Une hypothèse socio-politique

Cécile Prevost-Thomas (Paris): Maman j’ai peur de cet Osstidcho! Ou les origines du rock francophone

Philippe Gonin (Burgund): Quelle visibilité pour le rock français dans la presse musicale nationale entre 1966 et 1980? L’exemple de Rock & Folk et Best

Panel 8: rock et politique: résistances, instrumentalisation, contre-cultures / Rock and Politics: Resistances, Instrumentalization, Counter-Cultures

Holly Holmes (Urbana-Champaign): ‘With a Voice Like a Gun’: Brazilian Popular Music, Wordlessness, and Musical Experimentalism during the Military Dictatorship’s Anos de Chumbo [Leaden Years] (1968-74)

Eileen Karmy / Martin Farias (Santiago de Chile): The electric guitar is imperialist: Denied presence of rock in the New Chilean Song

Schalk van der Merwe (Stellenbosch): Radio apartheid: Investigating a history of compliance and resistance in Afrikaans popular music 1957-1992

Simon Warner (Leeds): Mapping the Beat: Rock, Literature and the British Counterculture

Christian Werkmeister (Jena): Refuge in Punk Rock: Deviant music and subculture in the late Soviet Union’s Developed Socialism

Panel 9: interpretations, reinterpretations / Interpretations, Reinterpretations

Oliver Julien (Paris): Charlie Gillett: The Sound of the City and the rise of rock’n’roll…history

Michael Rauhut (Agder): The power of interpretation: Conflicting perspectives on the history of popular music in East Germany

Christoph Pirenne (Louvain-la-Neuve): Conclusions/Closing remarks

Anmerkungen:
1 Zu den weitesten Vorstößen in diese Richtung zählen die Arbeiten des Musikwissenschaftlers Peter Wicke und des Historikers Bertrand Lemonnier. Vgl. Peter Wicke, Jazz, Rock und Popmusik, in: Doris Stockmann (Hrsg.): Volks- und Popularmusik in Europa, Laaber 1992, S. 445-477, als elektronisches Dokument: URL: <http://www2.hu-berlin.de/fpm/textpool/texte/wicke_jazz-rock-popmusik.htm> (20.06.2013); vgl. außerdem die populärere Darstellung in Peter Wicke, Von Mozart zu Madonna, Leipzig 1998; Bertrand Lemonnier, L’Angleterre des Beatles. Une histoire culturelle des années soixante, Paris 1995.
2 Die Beiträge sind als Video verfügbar unter: <http://live3.univ-lille3.fr/collections/this-is-the-modern-world-pour-une-histoire-sociale-du-rock-for-a-social-history-of-rock-music> (28.01.2014)


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