Widerstand und Opposition in der DDR: Der Weg in die Öffentlichkeit (1949-1990) / Résistance et opposition en RDA. Tentatives de conquête de l’espace public (1949-1990)

Widerstand und Opposition in der DDR: Der Weg in die Öffentlichkeit (1949-1990) / Résistance et opposition en RDA. Tentatives de conquête de l’espace public (1949-1990)

Organisatoren
Université de Bordeaux 3, Maison de sciences de l'homme d'Aquitaine; BStU (Bundesbeauftragter für die Unterlagen der ehemaligen DDR); Deutsches Historisches Institut Paris; in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Bordeaux; und der Robert-Havemann-Gesellschaft
Ort
Bordeaux
Land
France
Vom - Bis
20.03.2013 - 22.03.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Löwe, Forschungsstelle Massenphänomene, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg; Mark Schiefer, Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (BStU)

Das Thema Widerstand ist ein von der französischen DDR-Forschung bislang wenig beleuchteter Gegenstand. Vor diesem Hintergrund beschäftigten sich in Bordeaux Historiker und Germanisten aus Frankreich und Deutschland auf einer internationalen Tagung mit den Begriffen Widerstand und Opposition sowie mit der historischen Entwicklung des Widerstands in der DDR. Die von Hélène Camarade organisierte Tagung unternahm den Versuch, die begriffliche Debatte zu dezentralisieren, indem Experten aus verschiedenen Fächern zusammengebracht wurden.

Der erste Teil der Tagung bot Gelegenheit methodische Werkzeuge aus der NS-Forschung für die Beschreibung oppositioneller Handlungen in der DDR fruchtbar zu machen. OLIVIER WIEVIORKA (Paris) betonte in diesem Zusammenhang, dass Widerstand immer weltanschaulich motiviert ist und deshalb in sehr unterschiedlichen Formen auftreten kann. Entscheidend für die Bewertung von Widerständigkeit sei daher weniger der Adressat der Handlung, als vielmehr die Effizienz, die Legalität und damit die Gefährlichkeit der spezifischen Aktionsformen, die religiöse Anbindung und der soziale Hintergrund. Doch gerade in einem Staat wie der DDR, dessen Unberechenbarkeit eine entscheidende Herrschaftsstrategie dargestellt habe, sei eine zweifelsfreie Unterscheidung zwischen folgenschwerem und folgenlosem Handeln kaum möglich. Aufgrund des Fehlens rechtsstaatlicher Sanktionen sei jede kritische politische Handlung mit einem Risiko verbunden gewesen.

GILBERT MERLIO (Paris) betonte seinerseits die Machtfrage als Kriterium, um zwischen Opposition und Widerstand zu unterscheiden, das heißt Opposition als Forderung nach Reformen innerhalb einer bestehenden Ordnung und Widerstand als grundlegende Infragestellung dieser Ordnung. In der Diskussion verwies Bernd Florath allerdings auf die systemsprengende Wirkung jeder Reform, solange eine einzige Partei einen globalen Wahrheits- und Gestaltungsanspruch für sich in Anspruch nehme. Erschwert wird das Problem einer präzisen Definition des Begriffs „Widerstand“ im Kontext der DDR-Geschichte, wie BERND LINDNER (Leipzig) deutlich machte, zudem dadurch, dass bestimmte Handlungen häufig erst im Nachhinein von der SED-Führung kritisiert bzw. als Widerstand definiert wurde.

Im Anschluss daran diskutierten CHRISTIAN WENKEL (Paris) und BERND FLORATH (Berlin) über Aufarbeitung, Versöhnung und nationale Einheit am Beispiel der Stasiunterlagenbehörde (BStU). Florath betonte, dass die Arbeit mit und an den Stasi-Unterlagen notwendig sei, um Wissen über die Vergangenheit zu erlangen und damit letztlich auch die Spaltung der Nach-Wende-Gesellschaft zu überwinden. Kritisch reflektiert wurde in diesem Zusammenhang die mit dem enormen Quellenfundus der MfS-Dokumente einhergehende Fixierung der behördeneigenen DDR-Forschung auf den Apparat der Staatssicherheit.

Der unterschiedliche Umgang mit den Analysebegriffen „Widerstand“ und „Opposition“ zeigte sich auch im zweiten Teil der Tagung. MIKE SCHMEITZNER (Dresden) behandelte das Phänomen der „politischen Opposition“ in der ersten Nachkriegsdekade, die in den bis 1952 bestehenden Landtagen, das heißt während der Phase der Durchsetzung der politischen Herrschaft, noch möglich war. Mit dem Übergang vom „Scheinpluralismus“ zur „offenen Diktatur“ war politisch abweichendes Handeln nur noch als verdeckter, konspirativer „Widerstand“ möglich.

Mit einer Analyse der Verhaltensweise einfacher SED-Mitglieder während und nach dem Krisenjahr 1953 lenkte MICHEL CHRISTIAN (Genf) die Aufmerksamkeit der Tagung auf die heterogenen Einstellungen und Interessen innerhalb der staatstragenden Partei. Anstelle einer vereinfachenden Gegenüberstellung von Staat und Volk, die vor allem dem Begriff „Volksaufstand“ innewohne, plädierte er für den Begriff des „Eigen-Sinns“ von Alf Lüdtke, um die Vielfalt der Reaktionen an der SED-Basis deutlich machen zu können.

Eingeladen als Zeitzeuge für die 1950er-Jahre, berichtete THOMAS AMMER im Anschluss über den Widerstand im Eisenberger Kreis (1953-1958). Ammer hatte mit Mitschülern die Beseitigung von SED-Emblemen, die Verteilung von Flugblättern und die Beschriftung eines Eisenbahnwaggons mit der Parole „Wir fordern Freiheit“ initiiert. Trotz eines hohen Maßes an Konspiration wurde die Gruppe vom MfS observiert und zerschlagen. Dass dieser „Widerstand der ersten Stunde“ die „Opposition“ der 1980er-Jahre überhaupt erst möglich gemacht hatte, riefen FRANK EBERT, Aktivist der Berliner Umweltbibliothek, und PETER GRIMM, Mitbegründer der Initiative für Frieden und Menschenrechte, in Erinnerung. Als entscheidendes Motiv für eigene Unangepasstheit und die Mitarbeit an Samisdat-Publikationen benannten sie das Bedürfnis, sich gegen die „täglichen Unterwerfungsrituale“ (Ebert) zur Wehr setzen zu können.

Im folgenden Panel stellte BERND FLORATH (Berlin) mit Robert Havemann einen renommierten Vertreter der „sozialistischen Dissidenten“ in den 1970er-Jahren vor, der der offiziellen marxistisch-leninistischen SED-Parteidoktrin widersprochen hatte, indem er Gesellschaft als eine diskursive Bewegung interpretierte. ANNE-MARIE PAILHÈS (Paris Ouest Nanterre) beschäftigte sich mit Rudolf Bahro, ebenfalls sozialistischer Oppositioneller, der eine postkapitalistische, „Subalternität“ überwindende Gesellschaft forderte. Beide Vorträge gingen sowohl auf die Konflikte mit der SED, als auch auf die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte in der BRD ein.

ANNE-MARIE CORBIN (Rouen) beleuchtete in ihrem Vortrag den antitotalitären Congress for Cultural Freedom (CCF), der es sich zum Ziel gemacht hatte, den Systemgegensatz auf dem Feld der Künste auszutragen. Zentrales Thema des Vortrags war die von den Teilnehmern als Skandal interpretierte Involvierung des US-Geheimdienst CIA in die Aktivitäten des CCF.

Einen stärker analytischen Ansatz wählte SIBYLLE GOEPPER (Lyon) bei ihrer Auseinandersetzung mit den „Dialogheften“, einer Form der Einflussnahme von im westlichen Exil lebenden Ostoppositionellen auf die Untergrundopposition in der DDR. Initiatoren dieses Mediums waren Roland Jahn und Jürgen Fuchs, die auf diesem Wege die Kommunikation zwischen den einzelnen Oppositionsgruppen in der DDR zu verbessern suchten. Als Funktion des Tamisdat arbeitete Goepper die Herstellung eines Gruppenbewusstseins in oppositionellen Kreisen heraus sowie den Kampf gegen die Politik der Desinformation als auch die Sensibilisierung der westdeutschen Öffentlichkeit für die Existenz einer lebendigen Subkultur im Osten des Landes.

Im dritten Teil der Tagung stellte HÉLÈNE CAMARADE (Bordeaux) das Flugblatt als Medium des Widerstands und Mittel zur Schaffung von Öffentlichkeit dar und zeigte dabei drei zentrale Funktionen auf: das Flugblatt als Protest, als Aufruf zu Aktionen sowie als Programmpapier zur inhaltlichen Aufklärung. Genutzt wurden die Flugblätter für so unterschiedliche Inhalte wie Beat-Musik, Pazifismus, Kritik am Warschauer Pakt und seinen militärischen Interventionen im Ostblock als auch für Solidaritätsbekundungen mit Wolf Biermann, „Volksdiskussionen“ und Menschenrechte. JACQUES POUMET (Lyon) beschäftigte sich mit Publikationen aus der Leipziger Oppositionellenszene der 1980er-Jahre wie „Anschlag“, „Glasnost“ oder „Zweite Person“, bei denen aus seiner Sicht die Trennung von politischen und literarischen Texten aufgehoben wurde. SYLVIE LE GRAND-TICCHI (Paris) sprach über den Umgang mit christlichem Kulturerbe in der DDR und stellt sich die Frage, ob dies ein spezifisches Potential für Kritik am SED-Staat barg. FLORENCE BAILLET (Paris) untersuchte am Beispiel der Zeitschrift „Theater der Zeit“ Formen subtileren Widerstands, die sie mit James Scott als ein „Anknabbern der Ränder“ und als „Mikroresistenz“ bezeichnete. STEFANIE SCHWABE stellte Lutz Dammbecks Werk „Herakles Höhle“ (1983-90) vor und setzte sich mit seinem Anspruch einer gesellschaftlichen Veränderung durch Kunst auseinander – der Künstler ein „eigensinniges Kind“ (Dammbeck), das per se als Widerständiger gewertet werden müsse. JEAN MORTIER (Paris) widmete sich autonomen Kunstformen in der DDR und skizzierte eine „Topografie des kulturellen Eigensinns“, für die er die Autonomie der Kunst und den Eigensinn des Künstlers zueinander ins Verhältnis setzte. ELIZABETH GUILHAMON (Bordeaux) analysierte den Film „Die Alleinseglerin“ von Hermann Zschoche (1987) unter dem Gesichtspunkt des untergehenden Staates. ELISA GOUDIN (Paris) befasste sich ihrerseits mit dem Thema der Berliner Kulturhäuser am Ende der 1980er-Jahre und stellte die Ergebnisse einer Umfrage dar, die sie bei ehemaligen Mitarbeitern dieser Kulturhäuser durchgeführt hat. Im Anschluss wurde lebhaft diskutiert, ob innerhalb der Kulturhäuser die Möglichkeit zum Dissens bestanden habe.

Als Kontrapunkt zum subkulturell-oppositionellen Milieu portraitierte HÉLÈNE YÈCHE (Poitiers) mit Christoph Hein einen „kritisch-treuen“ Vertreter der Kulturelite in seinem Ringen um einen offenen Raum der Meinungsbildung in der DDR. Ausgehend von seinem Essay „Öffentlich arbeiten“, in dem sich Hein als Nutznießer und Schöpfer von Öffentlichkeit beschrieb, entwickelte Yèche das Bild eines bewussten „Nicht-Oppositionellen“, der mit seinem Ruf nach einer „echten“ Öffentlichkeit im eigenen Land den ideologischen Rahmen der DDR-Kultur faktisch sprengte.

Die Tagung in Bordeaux hat eine umfassende Bestandsaufnahme oppositioneller und widerständiger Praxen und Inhalte in der DDR aus einer deutsch-französischen Perspektive vorgenommen. Dabei wurde ein breites Panorama oppositioneller Anliegen, Handlungen, Gruppen und Medien in den Blick genommen. Als besonders fruchtbar haben sich unterschiedliche Methoden und Zugänge hinsichtlich der Definition von Widerstand oder auch bei der Einordnung verschiedener Formen widerständigen Verhaltens erwiesen. Die anwesenden Zeitzeugen vermittelten interessante Innenansichten, die bisweilen problematische Deutung der Geschichte der Opposition in der DDR durch deren Vertreter wurde hingegen nicht ausreichend thematisiert. Die Entstehung von Mythen rund um dieses Thema sowie die Selbststilisierung Oppositioneller seit den 1990er-Jahren erscheint mithin als lohnendes Thema für eine weitere Tagung. Aufgrund der Fokussierung auf einzelne Beispiele der ostdeutschen Subkultur wurde die Isoliertheit und Marginalität der oppositionellen Akteure innerhalb der DDR Gesellschaft nicht immer in ausreichendem Maße berücksichtigt. Während die Mehrheit der Bürger ihre eigene Verstaatlichung allem Anschein nach akzeptierte, unternahmen nur Wenige den Versuch, die Zwangsintegration des „Ansteckungsstaates“ (Charles Maier) zu umgehen. Der alltägliche Kompromiss der Bürger im Umgang mit der Diktatur – die „Angepasstheit der Unangepassten“ – sowie die kleinen Formen der Selbstbehauptung der Oppositionslosen – „die Eigensinnigkeiten der Normalbürger“ – können dementsprechend ebenfalls spannende Themen für nachfolgende Konferenzen liefern.

Konferenzübersicht

Olivier Wieviorka (Histoire, Paris Cachan): Définir la résistance française: une mission impossible?

Gilbert Merlio (Études germaniques, Paris Sorbonne): Résistance, opposition et « Resistenz » sous le Troisième Reich et en RDA. Réflexions sur les concepts dans une approche comparative

Bernd Lindner (Histoire, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig/ Karlsruher Institut für Technologie): Une autre RDA ou pas de RDA du tout – De la résistance camouflée à l’opposition ciblée envers le régime du SED, en passant par la critique réformiste. Un panorama chronologique

Bernd Florath (BStU Berlin) entretien avec Christian Wenkel (IHA Paris): La RDA dans l’Allemagne aujourd’hui : quelle politique de la mémoire ?

Mike Schmeitzner (Histoire, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden): Dans la ligne de mire de l’occupant soviétique : Premières formes d’opposition et de résistance en zone d’occupation et en RDA

Michel Christian (Histoire, Genève): Les contestations internes à la base du SED pendant et après le 17 juin 1953

Thomas Ammer (Euskirchen) entretien avec Hélène Camarade et Bernd Florath: Résistance et opposition du Cercle d’Eisenberg (1953-1958). Un témoignage

Frank Ebert et Peter Grimm (Entretien) avec Sylvie Le Grand-Ticchi et Christan Wenkel: Écriture, impression et diffusion de samisdats politiques au sein des groupes d’opposants Umweltbibliothek et Initiative für Frieden und Menschenrechte dans les années 1980 à Berlin. Deux témoignages

Bernd Florath (Histoire, BStU, Berlin) Dépasser la critique interne au Parti. Réflexions sur le cheminement de Robert Havemann et Wolf Biermann, porte-parole radicaux de la deuxième déstalinisation puis dissidents socialistes

Anne-Marie Pailhès (Études germaniques, Paris Ouest Nanterre): Rudolf Bahro dans l’espace public allemand entre 1977 et 1980

Anne-Marie Corbin (Études germaniques, Rouen): Le Congrès pour la liberté de la culture (CCF) et son action vers la RDA

Sibylle Goepper (Études germaniques, Lyon 3): Droit d’expression, droit d’information : les Dialog-Hefte (1985-1989) ou le détour par l’Ouest afin de réaffirmer quelques libertés fondamentales en RDA

Hélène Camarade (Études germaniques, Bordeaux 3): Le tract, instrument de conquête de l’espace public pour les opposants (1949-1990)

Jacques Poumet (Études germaniques, Lyon 2): Résistance et création dans la subculture des années 1980: l'exemple de Leipzig

Sylvie Le Grand-Ticchi (Études germaniques, Paris Ouest Nanterre): Le patrimoine culturel chrétien en RDA : un potentiel critique ?

Hélène Yèche (Études germaniques, Poitiers): „Öffentlich arbeiten“ (Christoph Hein, 1982): une tentative de normalisation de l’espace public est-allemand ?

Florence Baillet (Études germaniques, Paris 3): Les interstices de la parole officielle dans la revue Theater der Zeit : quels espaces pour quelles voix dissensuelles ?

Jean Mortier (Études germaniques, Paris 8): Formes artistiques autonomes en RDA de 1970 à la chute du mur

Elizabeth Guilhamon (Études germaniques, Bordeaux 3): Die Alleinseglerin, un film d’Herrmann Zschoche (1987), étude sociologique du temps qui passe

Elisa Goudin-Steinmann (Études germaniques, Paris 3): Le positionnement des Kulturhäuser berlinois au sein de l’espace public en RDA dans les années 1980 : un militantisme d’opposition ?


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