HT 2004: Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit

HT 2004: Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Christian Windler (Freiburg i. Br.), Hillard von Thiessen (Freiburg i. Br.)
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2004 - 17.09.2004
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Von
Arne Karsten, Humboldt-Universität zu Berlin, Kunsthistorisches Seminar

Dass dem Irak keine Massenvernichtungswaffen zur Verfügung standen, scheint inzwischen geklärt. Warum der amerikanische Präsident George W. Bush dennoch eine militärische Intervention durchsetzte, lässt sich im Hinblick auf strukturellen Hintergründe womöglich präziser einschätzen, wenn man sich mit der Funktionsweise frühneuzeitlicher Diplomatie beschäftigt. Diese keineswegs bemühte Schlussfolgerung zog Wolfgang Reinhard (Freiburg i. Br.) in seinem Kommentar zu den Vorträgen einer Sektion des Historikertags, die sich personalen Verflechtungen und ihren Auswirkungen auf die Außenpolitik in der Frühen Neuzeit widmete.

In seinen einleitenden Bemerkungen zur Sektion wies Christian Windler (Freiburg i. Br.) darauf hin, dass in der Frühen Neuzeit politische und soziale Beziehungen überwiegend auf persönlichen Kontakten beruhten. Ein ausgebildetes diplomatisches Korps im Dienste des Staates existierte so wenig wie der modernen Staat selbst. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich die konkrete Frage nach dem Verhältnis zwischen den persönlichen Interessen diplomatischer Vertreter und demjenigen des „Dienstherren“. Anhand eines weitgespannten europäischen Vergleichs sollten die Auswirkungen dieser tendenziell spannungsträchtigen Konstellation untersucht werden.

Hillard von Thiessen (Freiburg i. Br.) wies in seinem Vortrag über „Patronageressourcen in Außenbeziehungen: Spanien und der Kirchenstaat im Pontifikat Pauls V. (1605-1621)“ darauf hin, dass fast durchgängig die Familienbindung der in Madrid bzw. Rom tätigen Diplomaten als in letzter Konsequenz handlungsleitende Größe einzuschätzen ist. Gleiches gilt im Falle Roms sogar für den Dienstherren der Diplomaten, den Papst selbst. Angesichts der strukturellen Eigentümlichkeit des Kirchenstaats als kirchlicher Wahlmonarchie galt es für den Papst in seiner Eigenschaft als Familienoberhaupt, die kurze Zeit an den Schalthebeln der Macht dazu zu nutzen, dem Familienverband wirtschaftliche und politische Ressourcen in einem Maße zu erschließen, das auch nach dem Tod des Pontifex ein Überleben der Familie in den Spitzen der römischen Aristokratie ermöglichen würde. Am Beispiel der Kardinalsernennungen Pauls V. konnte von Thiessen überzeugend nachweisen, wie Gefälligkeiten in diesem Bereich der spanischen Krone gegenüber nichts anderes als die Erhebung des Fürsten Marcantonio Borghese in den prestigeträchtigen Rang eines spanischen Granden zum Ziel hatten. Angesichts des säkularen Kampfes um die Vorherrschaft in Europa zwischen Frankreich und Spanien lässt sich eine eklatante Verletzung des ideologisch fundamentierten Neutralitätsprinzips des Papsttums gegenüber den katholischen Großmächten aus keinem anderen Motiv als der Familienräson konstatieren. Und eine derartige Prioritätensetzung stellte keinen Einzelfall dar.

Wendet man den Blick auf die diplomatischen Vertreter Spaniens in Rom, so sollten sie dort natürlich als Vertreter ihres königlichen Herrn agieren – was sie indessen keineswegs immer taten. Zu den zentralen Aufgaben der Botschafter gehörte es, ihr in Rom geknüpftes Informationsnetz dazu zu nutzen, die Krone über frei gewordene Pfründen zu informieren und Nachfolger für deren Besetzung vorzuschlagen. In diesem Bereich erschlossen sich durch die Entfernung von der spanischen Herrschaftszentrale den Botschaftern, aber auch den häufig in Konkurrenz zu ihnen agierenden Kronkardinälen, Patronageressource zur Förderung eigener Verwandter, Freunde und Klienten. Auch hier zeitigten persönlich-familiäre Ambitionen der Diplomaten mitunter gravierende Folgen für die Vertretung der „Staatsinteressen“.

Was für Rom galt, galt nicht weniger im Hohen Norden, wie Heiko Droste (Kiel) in seinem Beitrag über „Ein Diplomat zwischen Familieninteressen und Königsdienst: Johann Adler Salvius in Hamburg (1630-1650)“ aufzeigte: die grundsätzliche Bedeutung von verwandtschaftlichen, freundschaftlichen und klientelären Bindungen für das Funktionieren diplomatischer Vertretungen. Als schwedischer Resident in der Reichsstadt Hamburg, der eine zentrale Rolle in den Außenbeziehungen Schwedens zukam, erfüllte Salvius seine Aufgaben mittels sozialer Beziehungen. Seine familiäre Verflechtung spielte dabei eine zentrale Rolle. So sicherte sich Adler Salvius durch die Verheiratung von zwei Enkelinnen seiner Frau (die er als Witwe mit erheblichem Vermögen geheiratet hatte) seinen Einfluss auf die schwedische Provinzverwaltung in Bremen-Verden und Pommern. Die Art, in der Salvius Familieninteressen und Dienst für die Krone, aber auch persönlichen Kredit und Kredit der Krone bei der Ausübung seines Amtes vermengte, wirft ein kennzeichnendes Licht auf die kaum ausgeprägte Trennung der Sphären „Privat“ und „Staatlich“ im Bereich der frühneuzeitlichen Diplomatie.

Angesichts ihrer Lage im Zentrum Europas, umgeben von mächtigen und expansionsbestrebten Nachbarn war die Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit ein umkämpfter Patronagemarkt, wie Christian Windler in seinen Ausführungen über „Söldnerrekrutierung und Pensionen auf den eidgenössischen Patronagemärkten“ ausführte. Sowohl Frankreich und der Kaiser als auch das spanische Mailand versuchten durch ihre Vertreter vor Ort die maßgebenden Personen der politische Klasse in den einzelnen Kantonen durch Pensionen und andere lukrative Vergünstigungen an sich zu binden, nicht zuletzt, um auf diese Weise die begehrten Schweizer Söldner in ihren Dienst nehmen zu können. Ähnlich wie in Rom führte das hohe Angebot an alternativen Patronagebindungen zu einem „offenen“ Markt und der Neigung, multiple Loyalitätsbindungen einzugehen.

Wenn der römische Hof (und, in weit geringerem Maße, auch die Schweiz) ein Patronage-Ambiente von besonderer Komplexität mit einer Vielzahl von Doppel- und Mehrfachbindungen zwischen Patronen und Klienten darstellte, so lagen die Dinge in der Wahlmonarchie Polen grundsätzlich anders, was Almut Bues (Warschau/Rom) in ihrem Vortrag zum Thema „Patronage fremder Höfe und die Königswahlen in Polen-Litauen“ erläuterte. Innerhalb der polnischen Aristokratie gab es eine erhebliche Skepsis gegenüber klientelären Bindungen nach außen, was die Ausbildung von tragfähigen Klientelsystemen ebenso erschwerte wie die schiere geographische Größe des Raumes. Umgekehrt stellte sich jedoch auch das Interesse auswärtiger Mächte an einer klientelär präfigurierten Einflussnahme in Polen als eher gering dar. Zwar verfügte das Papsttum aus religionspolitischen Gründen traditionell über einen Nuntius am polnischen Königshof, darüber hinaus waren es jedoch lediglich die europäischen Großmächte Frankreich und Österreich, die sich – zumal im Falle der Königswahlen – um Einflussnahme bemühten. Ihr Erfolg dabei war begrenzt.

Noch ausgeprägter als in Polen stellen sich die Folgen geographischer Entfernung auf die (abnehmende) Intensität diplomatischer Kontakte im Falle Russlands dar. Christine Roll untersuchte in ihrem Beitrag über „Residenten, Patrone, Klienten. Die Gesandten von Kaiser und Zar in den Netzwerken am jeweils anderen Hof um 1700“ die Beziehungen zwischen Moskau und Wien – die es ohnehin erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts mit einiger Regelmäßigkeit gab. Doch nicht nur die räumliche Entfernung verhinderte die Ausbildung stabiler Netzwerke von Diplomaten Russlands bzw. Österreichs im Gastgeberland. Hinzu kamen die religiösen Unterschiede. Beide Hemmnisse wären zweifellos zu überwinden gewesen, wenn es grundlegende gemeinsame politische Interessen gegeben hätte. Deren Fehlen verursachte eine auffällig geringe Intensität der diplomatischen Kontakte: für die Herrscher gab es am jeweils anderen Hof wenig zu erreichen, und die Diplomaten selbst sahen auch kaum die Möglichkeit, bedeutende Ressourcen für sich zu erschließen.

Wolfgang Reinhard blieb es vorbehalten, die auf dem von ihm seit Jahrzehnten untersuchten Feld der diplomatischen Beziehungen in der Frühen Neuzeit erzielten neuen Ergebnisse zusammenfassend zu würdigen. Er verwies dabei auf die grundsätzliche Wichtigkeit, sich die Bedeutung personenbezogener Mikropolitik für die Gestaltung der Makropolitik, zumal der Außenpolitik, gegenwärtig zu halten. Denn inoffiziell und verdeckt ist sie für das politische Geschäft nach wie vor unentbehrlich, bis heute. Der Triumph sachbezogener Makropolitik über die in der Frühneuzeit so klar auszumachende Bedeutung der Mikropolitik hat sich inzwischen als höchst uneindeutig herausgestellt. Waren es außenpolitische Interessen der USA, die den Zweiten Golfkrieg zeitigten, oder die persönlichen Verflechtungen des Präsidenten und seiner Entourage mit den amerikanischen Ölkonzernen? Den Historikern wird es auf absehbare Zeit kaum gelingen, an die zur eindeutigen Klärung dieser Frage notwendigen Informationen zu gelangen. Der zeitliche Abstand zu den politischen Protagonisten, die im 16. und 17. Jahrhundert handelten, gestattet einen wesentlich gelasseneren Umgang mit den Quellen, und eröffnet dadurch die Möglichkeit, Grundsätzliches über die Art und Weise zu erkennen, wie die Aushandlung von Interessen im Bereich der Politik erfolgt. Man mag darin einen nicht gering zu veranschlagenden „Standortvorteil“ der frühneuzeitlichen Geschichte gegenüber der Zeitgeschichte sehen.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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