Liberalismus als Feindbild

Liberalismus als Feindbild

Organisatoren
Ewald Grothe, Archiv des Liberalismus; Ulrich Sieg, Universität Marburg
Ort
Gummersbach
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.03.2013 - 09.03.2013
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Von
Daniel Schuster, Institut für Zeitgeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Wenn vom Liberalismus die Rede ist, hat Krisen- und Niedergangsrhetorik derzeit Konjunktur. Das Mantra lautet, dass insbesondere der politische Liberalismus sich selbst erledigt habe und ein Auslaufmodell sei: keine Perspektive bietend, nunmehr selbst ohne diese. Neu sind solche Diagnosen aber keineswegs. Schon 1901 befand der Liberale Friedrich Naumann ausgesprochen sarkastisch: „Es ist für uns spaßhaft, die Grabreden zu lesen, die man uns wieder einmal hält. Wir kennen das. An solchen Grabreden wächst unser Lebensgefühl. Ich wenigstens bin seit zehn Jahren durch Nekrologe lebendig erhalten worden.“

Aktuell kommt hinzu, dass Wirtschafts- und Finanzkrisen als Folge der „Exzesse“ des Neoliberalismus erklärt werden. Dieser ist längst zur politischen Parole mutiert, zu einem diffusen Etikett, das sich an jedwedes Krisensymptom heften lässt. Das steht einer differenzierten und realistischen Ursachenanalyse zweifellos im Wege, darf jedoch als typisch für ein politisches oder weltanschauliches Feindbild gelten, wie es der Liberalismus par excellence ist. Der Geschichte des „Liberalismus als Feindbild“ nachzuspüren, hat sich daher eine von Ewald Grothe (Archiv des Liberalismus) und Ulrich Sieg (Universität Marburg) initiierte Tagung zum Ziel gesetzt, die vom 7. bis 9. März 2013 in der Theodor-Heuss-Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach stattfand.

Im ersten von insgesamt 14 Vorträgen beschäftigte sich KLAUS RIES (Jena) mit antiliberalem Gedankengut in der Zeit der so genannten Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In dieser Phase entwickelten die politischen Lager erst ihr eigenes Profil und schärfere Konturen. Am Beispiel der Jenaer Professoren Heinrich Luden, Lorenz Oken und Jakob Fries lasse sich daher, so Ries, eine eigentümliche Vermischung liberaler, nationaler und konservativer Ideen exemplarisch nachvollziehen. Dass aus heutiger Sicht wesensfremde Merkmale – konstitutionelle oder liberaldemokratische Vorstellungen einerseits, Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit andererseits – zusammenfanden, resultiere aus den unausgegorenen Ausdifferenzierungsprozessen, bei denen insbesondere das nationale bzw. nationalistische Element prägend gewesen sei.

So zweifelhaft eindeutige politische Zuordnungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts also erscheinen, so fragwürdig wäre es auch, die Geschichte des Liberalismus rückblickend allzu schematisch in vermeintliche Stärke- und Schwächephasen einzuteilen. ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt) kritisierte die Vorstellung, der Liberalismus habe in der so genannten Ära Metternich lediglich Repressionen erfahren und sei durchgehend Opposition gewesen, während er in den Zeiten davor und danach eine Blüte erlebt habe. Stattdessen plädierte Fahrmeir für das Prinzip der Konkretheit: Auf bestimmten Politikfeldern habe der Liberalismus als Verbündeter (etwa in Bezug auf die wirtschaftliche Modernisierung), auf anderen als Feindbild der Machthaber fungiert (so bei der Frage nach politischen Grundrechten). Zwar hätten die Dynamisierung der Gesellschaft und der soziale Wandel, bei gleichzeitiger politischer Restauration, Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Die politischen Strömungen in dieses Schema zu pressen, wäre indes eine unzulässige Vereinfachung.

HANS-CHRISTOF KRAUS (Passau) befasste sich in seinem Vortrag mit der Liberalismusdeutung und -kritik zweier dezidiert konservativer Denker, Ernst Ludwig von Gerlach und Friedrich Julius Stahl, die angesichts der erstarkenden Arbeiterschaft ihre politische Feindbestimmung aktualisierten und sich systematisch mit dem Liberalismus auseinandersetzten. Trotz akzeptabler Aspekte im Einzelnen, etwa der im Kern christlichen und nun profanierten Freiheitsidee, galt ihnen der Liberalismus als Hauptfeind: historisch wegen seines genuin revolutionären Charakters, seinem Bruch mit dem Bewährten und der Ablehnung maßvoller Reform; ökonomisch wegen seiner Infragestellung wirtschaftlicher Privilegien und Strukturen sowie der Legitimation des Kapitals; politisch wegen seiner, teils auch nicht-intendierten, Förderung radikaler revolutionärer Tendenzen.

Während Kraus das Liberalismus-Bild zweier prominenter und einflussreicher öffentlicher Denker analysierte, widmete sich ANDREA HOPP (Schönhausen) den Frauen in der Familie Otto von Bismarcks, die als gestaltende Kraft und prägender Einfluss des langjährigen Reichskanzlers bislang weitgehend unberücksichtigt blieben. Aufbauend auf einer Auswertung der Briefe und Tagebucheintragungen von Bismarcks Frau Johanna, seiner Tochter Marie und seiner Schwiegertochter Marguerite, beschrieb Hopp die Genese und Tradierung eines adelsweltlichen Antiliberalismus, der seinen Ausdruck in Rollenbildern, Erziehungsmaximen und Exklusionsmustern fand. Der antiliberale Habitus habe der innerfamiliären Stabilisierung und Harmonisierung gedient, wobei dieser sich eher gesellschaftlich als politisch artikulierte und sowohl generationsspezifisch als auch situativ bedingt gewesen sei.

Konnte Hopp bereits am Einzelfall zeigen, dass antiliberale und antijüdische Ressentiments miteinander einhergingen, etwa bei der Diffamierung der liberalen als „Judenpresse“, so fügte ULRICH SIEG (Marburg) diesen Befund in den größeren Kontext einer Amalgamierung von Antisemitismus und Antiliberalismus im Fin de siècle ein. Als Meister im Amalgamieren von Feindbildern präsentierte Sieg den Orientalisten und Weltanschauungsschriftsteller Paul de Lagarde. Vor allem dessen „Deutsche Schriften“ von 1878 avancierten zum Bestseller und Steinbruch für den politischen Tageskampf. Verbanden sich bei Lagarde noch antiliberale und antisemitische Feindbilder, so erscheint bei Houston Stewart Chamberlain um 1900 eine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus bereits als obsolet. In seinen kruden, aber anschlussfähigen Tiraden dominierten die rassistischen, insbesondere antisemitischen Töne. Der Bedeutungsschwund des Liberalismus als Feindbild in dieser Zeit werde dadurch offenkundig, dass Agitatoren wie Chamberlain ihn nahezu vollständig ignorieren konnten.

Fokussierten die übrigen Vorträge den Liberalismus vornehmlich aus der Perspektive seiner Gegner, um das Zustandekommen und Perpetuieren von Feindbildern, ihre Funktionen und Charakteristika herauszuarbeiten, entschied sich JÜRGEN FRÖLICH (Gummersbach) für einen Perspektivwechsel, indem er die Sicht des Liberalen Friedrich Naumann auf seine politischen und weltanschaulichen Kontrahenten thematisierte. In seinem Schrifttum habe Naumann immer wieder strategische Überlegungen über Bündnisverhältnisse angestellt und deren Realisierbarkeit abgeschätzt, sodass sich eine Entwicklung seines Denkens über die politischen Konstellationen und Kräfteverhältnisse nachzeichnen lasse. Trotz der fließenden Grenzen, der Wendungen, Wandlungen und Brüche seiner Freund-Feind-Aufstellungen habe Naumann stets den fundamentalen Gegensatz zwischen der industriefreundlichen liberal-demokratischen Linken und dem industriefeindlichen Konservatismus konstatiert. Er selbst habe sich allmählich vom linken (so seine Selbstbeschreibung um 1900) zu einem Politiker der Mitte (nach dem Ersten Weltkrieg) entwickelt.

Die Problematik, dass zeitgenössische Zuschreibungen häufig unkritisch reproduziert werden, nahm PETER HOERES (Gießen) zum Ausgangspunkt für seinen Vortrag über den „Krieg der Geister“, also jene Auseinandersetzungen zwischen den Akademikern der kriegführenden Staaten während des Ersten Weltkrieges. Keineswegs aufrechterhalten lasse sich die Kontrastierung eines liberal-demokratisch gesinnten Großbritannien auf der einen Seite und eines antiliberal-autokratischen deutschen Kaiserreiches auf der anderen. Vielmehr hätten in Großbritannien Vorkriegsliberale wie Tory-Philosophen sowohl gegen den deutschen Feind als auch gegen Abweichler oder Andersdenkende im eigenen Land polemisiert und Liberale mitnichten gemäßigter agiert als Antiliberale. So gelangt Hoeres zu dem Fazit, dass die Unterschiede zwischen den Nationen letztlich marginal gewesen seien und dass auch der Antiliberalismus, wie ein Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland zeige, als ein transnationales Phänomen zu werten sei.

So wirkmächtig sich stereotype zeitgenössische Zuschreibungen mitunter halten, so hartnäckig können auch bestimmte Bildikonen oder Visualisierungen über ihren Entstehungskontext hinaus in Erinnerung bleiben. Auf die visuellen Quellen des kommunistischen Antiparlamentarismus zu Zeiten der Weimarer Republik, die THOMAS HERTFELDER (Stuttgart) in seinem Vortrag analysierte, trifft dies sicherlich zu. Die Bildsprache der kommunistischen Künstler, unter anderem von George Grosz oder John Heartfield, bediente sich bestimmter Topoi, um das Parlament wahlweise als Fassade, als Theater oder als Groteske bzw. die Parlamentarier als Agenten der Reaktion darzustellen und auf diese Weise eine politische Botschaft eingängig und einprägsam zu kommunizieren.

Als wirksames Medium der Feindbildgenerierung und -perpetuierung eignen sich demnach nicht bloß anschlussfähige und auf einfache Losungen setzende Traktate (vgl. den Vortrag von Ulrich Sieg über das Weltanschauungsschriftstellertum), sondern auch und in besonderer Weise visuelle Medien. Hier wie dort scheinen vor allem die Prinzipien von Reduktion, Überspitzung und Wiederholung – wenngleich mit unterschiedlichen Mitteln realisiert – für eine breitere Aufmerksamkeit und Wirksamkeit unverzichtbar zu sein.

Dass Feindbilder sich durchaus auch subtiler und differenzierter manifestieren und im wissenschaftlichen Milieu kultivieren können, veranschaulichte EWALD GROTHE (Gummersbach) am Beispiel des Antiliberalismus in der Historiographie der Weimarer und NS-Zeit. Damals habe es ein merkliches Interesse an einer Ideengeschichte des Liberalismus als Vorgeschichte der Weimarer Republik gegeben und es sei insbesondere diskutiert worden, inwiefern der Liberalismus einen Import oder ein deutsches Eigengewächs darstellte. Dem Gros der vornehmlich nationalkonservativen Historiker, einig in der Ablehnung der als undeutsch empfundenen Republik, diente der Antiliberalismus zur Grundierung ihrer Geschichtsbilder und Gegenwartsanalysen. Nach 1933, als sich die Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens gravierend verändert hatten und die Gegenwart unter illiberalen Vorzeichen stand, war die Anzahl der Studien zum Liberalismus rückläufig. Stattdessen bildete sich ein einseitig-antiliberales, offiziöses Geschichtsbild heraus, das die zuvor schon minoritäre liberale Historiographie endgültig marginalisierte. Allenfalls triumphal oder abrechnend wurde in Nachhutgefechten über den als gescheitert betrachteten Liberalismus geschrieben.

Dass mit der Weimarer Republik nicht ein demokratisches Zeitalter anbrach, sondern sogleich deren Bekämpfung und Delegitimierung einsetzten, betonte auch JENS HACKE (Hamburg). Generell habe sich der Liberalismus in der Zwischenkriegszeit von Beginn an in der Defensive und unter Dauerfeuer von links und rechts gesehen. Dies habe Reformdiskurse unter den Liberalen angeregt, was Hacke am Beispiel des Kreises um den Nationalökonomen Moritz Julius Bonn exemplifiziert. Die Reflexionen dieser Gruppe seien zwar von Selbstkritik und Selbstzweifeln geprägt, aber keineswegs bloß destabilisierend gewesen. Vielmehr wohnte ihnen auch ein konstruktives und innovatives Potenzial inne. So habe der liberale Realitätsschock zum Abschied vom Manchestertum, zu einer höheren Sensibilität für soziale Fragen, zu einer Neubestimmung des Staates als gestaltender Kraft, zur Anpassung an neue mediale und kommunikative Formen und schließlich zur Rückbesinnung auf das normative Anliegen des Liberalismus geführt.

An den Vorträgen von Grothe und Hacke lässt sich das übergeordnete Problem der Uneinheitlichkeit des Liberalismus-Begriffes veranschaulichen. Grothe thematisierte die Schwierigkeit, einzelne Personen als liberal oder einer anderen politischen Richtung zugehörig einzuordnen. So sei es beispielsweise kompliziert, die Anzahl liberaler Historiker während der Weimarer Republik verlässlich zu bestimmen, da zunächst zu definieren sei, ob als liberal gelte, wer das in Selbstzeugnissen von sich behauptet, wer Mitglied einer liberalen Partei oder Organisation ist, wer von außen als solcher wahrgenommen und beschrieben wird oder wer durch seine Werke explizit oder implizit liberales Gedankengut offenbart. Gewiss dürften alle der genannten Faktoren relevant sein, um im Einzelfall das Attribut liberal attestieren zu können. Divergieren aber zum Beispiel Selbst- und Fremdwahrnehmung, bleibt zu erörtern, ob zugunsten einer der Positionen entschieden werden kann oder ob die Ambivalenz als solche konstatiert werden muss.

Auch auf einer globaleren Ebene ist der Liberalismus-Begriff oft diffus, wie Jens Hacke eindrücklich belegte. So könne für die Zwischenkriegszeit nicht pauschal von einem Niedergang des Liberalismus gesprochen werden. Dies hieße, ausschließlich den politischen Liberalismus als Gradmesser für den Liberalismus insgesamt heranzuziehen. Es wäre daher einseitig, sich in dieser Zeit mit dem Liberalismus allein unter der Perspektive seines Versagens zu beschäftigen. Ebenso verfehlt sei es, den Liberalismus als an die Sozialformation „Bürgertum“ gebunden zu betrachten und dessen Krisensituation mit der des Liberalismus gleichzusetzen. An dieser Stelle hätte sich ein Gegenwartsbezug angeboten: Haben wir es aktuell mit einer Krise des politischen Liberalismus oder mit einer Krise des Liberalismus insgesamt zu tun? Wobei zu spezifizieren wäre, welche Dimensionen des Liberalismus neben der politischen oder der wirtschaftlichen außerdem existieren.

Wie bereits bemerkt, waren die Kritiker und Feinde des Liberalismus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht gering an Zahl. Einem allerdings besonders prononcierten Liberalismus-Feind widmete sich REINHARD MEHRING (Heidelberg), der das antiliberale Denken des Staatsrechtlers Carl Schmitt beleuchtete. Dieser habe sich nach 1933 als exponierter Kritiker des liberalen Rechtsstaates den neuen Machthabern angedient und bereits zuvor den Ausnahmezustand der Jahre nach 1930 legitimiert. Laut Schmitt sei die klassische liberale Willensbildung mit ihrer Unentschiedenheit und ihrer Inkonsequenz seinerzeit längst durch die „Diktatur der Straße“ abgelöst worden. Der liberalen Legalität habe Schmitt eine demokratische Legitimität entgegen gesetzt und zudem eine Diskrepanz zwischen der Idee und der Wirklichkeit der liberalen Weimarer Verfassung diagnostiziert.

Anders als bei Schmitt befanden die Ordoliberalen um den Nationalökonomen und Juristen Walter Eucken, die so genannte Freiburger Schule, ihre Vorstellungen von einem „starken Staat“ als nicht vereinbar mit der Realität des Nationalsozialismus. Wie UWE DATHE (Jena) betonte, zielten Euckens Überlegungen auf einen Staat ab, der der Wirtschaft einen Ordnungsrahmen auferlege, damit diese die Freiheit nicht aufhebe. Indes sollte der Staat seine Funktion als Ordnungshüter in dieser Konzeption nicht auf alle Bereiche von Politik und Gesellschaft zu einem totalen Staat hin ausdehnen, sondern allein auf die Ökonomie beschränken. Ab Ende 1938 traf sich eine Gruppe von ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern, darunter auch Eucken, in einem oppositionellen Gesprächskreis, dem Freiburger Konzil. Die Arbeiten Euckens und seiner Kollegen Alexander Rüstow, Franz Böhm oder Leonard Miksch wurden auch von anderen Widerstandsgruppen wie dem Kreisauer Kreis rezipiert und auf ihren Vorarbeiten beruhte später die von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard maßgeblich entwickelte Wirtschaftsordnung der jungen Bundesrepublik.

Am Beispiel des Marburger Historikers Wilhelm Mommsen veranschaulichte ANNE CHR. NAGEL (Gießen), was es heißt, in politisch turbulenten Zeiten liberal zu sein. Historisch sei ein Bekenntnis zum Liberalismus meist problematisch gewesen: In den Weimarer Jahren befanden sich Liberale in einer unbequemen Minderheitenposition, nach 1933 war der Liberalismus staatlich bekämpfte Ideologie. Auch in Mommsens Biographie bedeutete der Beginn der NS-Herrschaft eine einschneidende Zäsur. Der zuvor in der DDP engagierte, liberale Staatsbürger passte sich den veränderten politischen Bedingungen an, trat schließlich sogar der NSDAP bei. Nach 1945 wurde ihm dies zum beruflichen Verhängnis und habe moralisch ebenso wohlfeile wie rigorose Verdikte seiner Gegner nach sich gezogen, die sein „politisches Renegatentum“ geißelten. Diese Verurteilungen seien unverhältnismäßig in Anbetracht der weitaus milder bewerteten Selbstmobilisierung mancher seiner konservativen Kollegen. Mommsens Biographie habe schließlich dazu gedient, das stark vereinseitigende Narrativ eines generellen liberalen Versagens im Vorfeld des Nationalsozialismus beispielhaft zu belegen.

Die oben genannte Schwierigkeit der Zuordnung einer Person zum Liberalismus kann demnach um eine weitere Facette ergänzt werden: den Fall nämlich, dass auch vermeintlich liberale Biographien nicht frei sind von Brüchen und Widersprüchen. Mit solchen sah sich auch WOLFGANG KRAUSHAAR (Hamburg) konfrontiert, der den Antiliberalismus der 68er zum Thema hatte: Einer Bewegung also, der häufig attestiert werde, die Gesellschaft grundlegend liberalisiert zu haben, die selbst jedoch für den Liberalismus kaum mehr als Verachtung übrig hatte. Am Beispiel der antiautoritären Mehrheitsfraktion im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) skizzierte Kraushaar das ambivalente Verhältnis der 68er zum Liberalismus, mit dem es in Bezug auf individuelle Freiheit durchaus Schnittmengen gegeben habe, dessen Staatsverständnis aber konträr verlaufen sei zum eigenen, von einer antiparlamentarischen, teils antiinstitutionellen Stoßrichtung geprägten. Der Liberalismus als weltanschaulicher Feind sei von den Protagonisten als ein erledigter Fall betrachtet worden, eine intensive Auseinandersetzung mit ihm sei daher kaum über die Abrechnung Herbert Marcuses hinausgegangen, der den Liberalismus als Vorstufe des Faschismus interpretiert hatte. Kraushaars abschließender Vortrag vereinte noch einmal übergreifende Probleme wie die Schwierigkeit einer Liberalismus-Definition und wiederkehrende Topoi wie den Abgesang auf den Liberalismus.

Insgesamt bot die Tagung ein facettenreiches Bild von der Ubiquität, der Intensität und der Persistenz des Liberalismus als Feindbild, das seit nunmehr rund 200 Jahren von unterschiedlichen Akteuren unter je spezifischen Bedingungen stets aufs Neue konstruiert und aktualisiert wird. So disparat manche Tagungsthemen erscheinen mögen, es liegt im Gegenstand der Untersuchung selbst begründet, dass eine Vielzahl unterschiedlicher inhaltlicher und methodischer Zugänge möglich, ja sogar notwendig ist. Der Liberalismus ist kein klar umrissenes und kein überzeitliches Konzept, sondern vielfach differenzierbar und seine Semantik unterliegt – im Grunde eine Banalität – dem historischen Wandel. Dennoch stellt sich die Frage nach einem normativen Minimum des Liberalismus: Was sind die unhintergehbaren Bedingungen, um von Liberalismus sprechen zu können? Wo sind die Grenzen des Begriffes und wo beginnt etwas qualitativ Neues? Das sind keine definitorischen Spitzfindigkeiten, sondern unerlässliche Vorüberlegungen für eine Untersuchung des Liberalismus als Feindbild, die während der Tagung verschiedentlich, wenn auch nicht abschließend erörtert wurden.

Wenig Aufmerksamkeit wurde dagegen dem zweiten Substantiv des Tagungstitels zuteil: dem Begriff des Feindbildes. Zumindest wurde dieser nicht explizit definiert oder problematisiert. Gleichwohl könnte er als analytische Kategorie zur Schärfung des Gegenstandes beitragen. Was ist also konstitutiv für ein Feindbild? Was ist der Unterschied zwischen Liberalismuskritik – so überschrieb Hans-Christof Kraus seinen Vortrag – und einem Feindbild Liberalismus? Warum fungierte gerade der Liberalismus anscheinend immer wieder als Feindbild, das integrative Wirkung entfaltet? Wegen seines unbestreitbaren und nachhaltig verändernden Einflusses auf die Wirklichkeit, der nicht bloß Profiteure hervorbrachte, sondern auch Verlierer? Wegen seiner intermediären Stellung im „Zeitalter der Extreme“?

Es ist das Verdienst der Organisatoren der Tagung, dieses bislang nur wenig erforschte Thema auf die Forschungsagenda gerückt und ein Forum zum Austausch geschaffen zu haben, auf dem bereits viele Einsichten und Erkenntnisse dargeboten, auf dem aber auch viele interessante Fragen erst aufgeworfen wurden. Einstweilen bleibt festzuhalten, dass Friedrich Naumanns Feststellung, der Liberalismus habe noch allen Totsagungen getrotzt, unverändert Bestand hat.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: 1813-1871

Klaus Ries (Jena): Antiliberales Gedankengut in den Befreiungskriegen

Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main): Sozialer Wandel und politische Restauration in der Ära Metternich

Hans-Christof Kraus (Passau): Liberalismusdeutung und Liberalismuskritik bei Stahl und Gerlach

Sektion 2: 1871-1914

Andrea Hopp (Schönhausen): Zum Antiliberalismus adeliger Frauen: Familienalltag bei Otto von Bismarck

Ulrich Sieg (Marburg): Überlegungen zur Amalgamierung von Antisemitismus und Antiliberalismus im Deutschen Kaiserreich

Jürgen Frölich (Gummersbach): Friedrich Naumann und die Gegner des Liberalismus

Sektion 3: 1914-1933

Peter Hoeres (Gießen): Antiliberalismus im „Krieg der Geister“

Thomas Hertfelder (Stuttgart): „Das tote Parlament“. Zur Ikonographie des kommunistischen Antiparlamentarismus in der Weimarer Republik

Ewald Grothe (Gummersbach): Import oder Eigengewächs? Der Liberalismus in der Geschichtsschreibung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus

Jens Hacke (Hamburg): Selbstkritik und Selbstzweifel. Zur Krise des liberalen Denkens in der Zwischenkriegszeit

Sektion 4: 1933-1945 (Moderation: Anne Chr. Nagel)

Reinhard Mehring (Heidelberg): Carl Schmitts geistesgeschichtliche Beisetzung des Liberalismus

Uwe Dathe (Jena): Der Ordoliberalismus und seine Gegner

Sektion 5: 1945-2013

Anne Chr. Nagel (Gießen): Die Ambiguität des Liberalismus vor und nach 1945

Wolfgang Kraushaar (Hamburg): Antiliberalismus in der 68er-Bewegung


Redaktion
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