„Bensheimer Gespräche“ 2013: Die Neuformierung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft nach 1945. Teil 2

„Bensheimer Gespräche“ 2013: Die Neuformierung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft nach 1945. Teil 2

Organisatoren
Institut für Personengeschichte, Bensheim; in Verbindung mit der Ranke-Gesellschaft, Köln
Ort
Bensheim-Auerbach
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.04.2013 - 06.04.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Christiane Buhl, Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Christian Hoffarth, Institut für Personengeschichte, Bensheim

Im historischen Küchenbau der Auerbacher Sommerresidenz der Landgrafen und Großherzöge von Hessen tagten von 4. bis 6. April 2013 auf Einladung des Instituts für Personengeschichte, Bensheim, in Verbindung mit der Ranke-Gesellschaft, Köln, rund 50 Fachwissenschaftler und interessierte Gäste, um sich in Anschluss an die „Bensheimer Gespräche“ des Vorjahres abermals der „Neuformierung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft nach 1945“ zu widmen. Unter Bezugnahme auf die just in diesem Jahr ihr fünfzigstes Anniversarium durchlaufende Tradition der „Büdinger Gespräche“ führte Tagungsleiter VOLKHARD HUTH (Bensheim) assoziationsreich in das Thema ein. Nachdem 2012 vor allem mit den Knotenpunkten 1933 und 1945 verknüpfte personengeschichtliche Fragen im Fokus gestanden hätten, sollte das Spektrum diesmal zeitlich und sachlich darüber hinausreichen. Huth verwies insbesondere auf das von Thomas S. Kuhn popularisierte Theorem des Paradigmenwechsels und die damit verbundene Inkommensurabilitätstheorie als Prüfsteine für die wissenschaftsgeschichtliche Forschung im Allgemeinen und die Befassung mit der deutschsprachigen Historiographie nach 1945 im Speziellen. Ausgehend von diesen Erwägungen schlug er schließlich die Brücke zum ersten Referenten VOLKER LOSEMANN (Marburg), dessen Studie über „Nationalsozialismus und Antike“ einer entsprechend gelagerten Problemstellung auf den Grund gegangen sei.

Unter der Überschrift „‚Brauchen Sie keinen Althistoriker?‘ Perspektiven der Alten Geschichte nach 1945“ rückte dieser die Lehrstuhlvergabe in Marburg, Mainz, Berlin und Halle ins Blickfeld. Die im Vortragstitel programmatisch aufgegriffene Frage Ernst Hohls (1886–1957) unterstrich Losemanns These, dass es sich eher um einen Wieder- denn einen Neuaufbau gehandelt habe. Im Wesentlichen habe sich die „neue“ Alte Geschichte aus den „alten“ Fachvertretern rekrutiert.

Mit der Anfrage im Oktober 1945 habe Hohl, seit 1929 Professor in Rostock, seinen Wechsel nach Marburg initiiert. Da man dort um die Untragbarkeit des bisherigen Lehrstuhlinhabers Fritz Taeger gewusst habe, wurde ihm die Lehrstuhlvertretung übertragen. Taeger allerdings habe seinerseits gegen die Zwangspensionierung petitioniert und sei nach positivem Bescheid 1949 auf seinen Lehrstuhl zurückgekehrt. Die Marburger Vorgänge könnten auf andere Orte besonders im Westen Deutschlands übertragen werden. Der Ostberliner Lehrstuhl, dessen bisheriger Inhaber Wilhelm Weber als überzeugter Nationalsozialist gegolten habe, sei 1945 verwaist. 1950 übernahm Hohl das Ordinariat, wurde jedoch schon drei Jahre später emeritiert. Die darauffolgenden Versuche, den Lehrstuhl mit einem Nachfolger aus dem Westen zu besetzen, seien nicht zuletzt an der zweiten DDR-Hochschulreform gescheitert, die der Alten Geschichte nur noch einen marginalen Platz im Lehrbetrieb eingeräumt und bis ins Jahr 1955 für die vollständige Auflösung der Lehrstühle gesorgt habe.

Laut CHRISTIAN GILDHOFF (Heidelberg) seien sich die Vor- und Frühgeschichtler nach dem Krieg über die ideologische Belastung ihres Faches einig gewesen, habe sich jenes im „Dritten Reich“ doch überwiegend der Indogermanen- und Rassen- sowie der Volks- und Kulturforschung verschrieben. Von diesen Schwerpunkten habe nach 1945 lediglich die Volks- und Kulturforschung fortbestanden, die eine Transformation zur Landesarchäologie durchlaufen habe. Da die meisten Nachwuchswissenschaftler wie ihre Lehrer belastet gewesen oder im Krieg gefallen seien, habe sich auch die Lehrstuhlbesetzung schwierig gestaltet. Einige Ordinariate seien daher auch nach 1945 weiterhin von Wissenschaftlern besetzt gewesen, die im Nationalsozialismus bereits eine Rolle gespielt, sich nun jedoch neuen Forschungsthemen zugewandt hätten. Einen solchen Fall finde man in Herbert Jankuhn, der sich in den 1930er-Jahre insbesondere durch seine Forschungen zur Wikingersiedlung „Haithabu“ einen Namen gemacht hatte, von der er vor 1945 noch unter dem Aspekt des Germanentums gehandelt, sie nach Kriegsende aber als Drehscheibe des internationalen Handels dargestellt habe. Den hierin exemplifizierten Vorgang beschrieb Gildhoff als „Häutungen einer Weltanschauungswissenschaft“. Eine Neuformierung der Vor- und Frühgeschichte in Deutschland nach 1945, so schloss er, habe im Wesentlichen nicht stattgefunden.

Mit Günther Franz (1902–1992) nahm JÜRGEN ELVERT (Köln) einen der bedeutendsten deutschen Historiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick. Als talentierter junger Wissenschaftler entschied sich dieser 1933 für eine Parteikarriere und war in der NS-Zeit als exponierte Figur unter anderem im Amt Rosenberg und im „Ahnenerbe“ tätig, woraufhin er bei Kriegsende einen besonders tiefen Sturz erlitt. Auf Basis seiner nachgelassenen Korrespondenzen zwischen 1945 und 1970 zeichnete Elvert die langwierige, letztlich aber erfolgreiche akademische Neuorientierung Franzens nach. Ob der bis in die 1950er-Jahre ohne Lehrstuhl Gebliebene die Gründung der Ranke-Gesellschaft und ihres Organs „Das Historisch-politische Buch“ von vornherein als Türöffner für die eigene Karriere betrieb, prüfte Elvert mithilfe einer grafischen Netzwerkanalyse. Diese ließ erkennen, dass ein größerer Teil des Franz’schen Schriftwechsels stets außerhalb jener Kreise lag. Offenbar sei die Ranke-Gesellschaft nicht primär ein Instrument Franzens zur Herstellung eines „Standings“ gewesen. Beleg für die Zuverlässigkeit der aus der Netzwerkanalyse zu gewinnenden Eindrücke war die mit der Übernahme des Lehrstuhls für Agrargeschichte an der Landwirtschaftlichen Hochschule Stuttgart-Hohenheim 1957 einhergehende sichtbare quantitative Verringerung und gleichzeitige Ausweitung des Radius von Franzens Briefverkehr.

Vexierbildartig schloss sich JÖRG SCHWARZ (München) mit einem Vortrag über František Graus (1921–1989) seinem Vorredner an. Mittels eines wirkungsgeschichtlichen Blicks auf Johan Huizingas epochemachendes Werk „Herbst des Mittelalters“ näherte er sich zunächst dem spezifischen Zugriff Graus’ auf die spätmittelalterliche Geschichte an. In einem biographischen Abriss verdeutlichte er sodann, wie jener zu seiner Sonderstellung innerhalb der deutschsprachigen Mediävistik des 20. Jahrhunderts gelangte. Der jüdisch-stämmige Prager Historiker sei bis in die 60er-Jahre Anhänger der marxistischen Feudallehre gewesen, als Außenseiter jedoch schon damals auch zum festen Bestandteil der deutschen Mittelalterforschung geworden, was seine Inauguration in den „Konstanzer Arbeitskreis“ sowie die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Gießen 1968 belegten. Nach der Westemigration 1970 habe er sich von der marxistisch-leninistischen Ideologie vollständig abgewandt und sich in den 60er-Jahren, der „Schlüsselepoche“ in seinem Leben und Wirken, als Alternative zu den „Fixsternen“ (Moraw) Brunner, Schlesinger, Bosl und deren konservativen Ideen und Methoden etabliert. Als „Wanderer zwischen den Welten“, so Schwarz resümierend, gehöre František Graus der zweiten Phase des Wiederaufbaus der Geschichtswissenschaft nach 1945 an. Er habe sich Anerkennung erobert und eine große Wirkungsmacht auf die Mediävistik der Folgezeit entfaltet.

Peter Scheibert (1905-1995) trat 1937 in die NSDAP ein, arbeitete ab Kriegsbeginn für das Auswärtige Amt und im Sonderkommando Künsberg. Später ging er in den wissenschaftlichen Dienst und wurde nach Kriegsende als unbelastet eingestuft. Im Anschluss an den biographischen Aufriss stellte ESTHER ABEL (Bochum) Ostforschung und Osteuropaforschung einander gegenüber. Charakteristisch für die Ostforschung sei es, Völker und Staaten zu Objekten der eigenen Betrachtungen zu mache. Sie sei politisch motiviert und agiere aus einer deutsch-zentrierten Perspektive. Die ältere Osteuropaforschung hingegen behandle Völker und Staaten als gleichgestellte und souveräne Subjekte. Mit den charakteristischen Merkmalen der Ostforschung sei die Figur Peter Scheiberts nicht in Verbindung zu bringen, da jener keine „Deutschtümelei“ betrieben und die Geschichte anderer Völker stets als autonom verstanden habe. Vielmehr sei in ihm ein Akteur antikommunistischer Forschung zu sehen, die er ohne Beschwörung russischer Feindbilder und völkischer Ideen vorangetrieben habe. Ohnehin, konnte Abel schlussfolgern, seien Scheiberts Person und Wirken nicht in kategorialem Denken zu erfassen, sondern müssten in Phasen beurteilt werden.

Über das „Institut für Zeitgeschichte im Spannungsfeld von Forschung und Vergangenheitsbewältigung“ sprach der stellvertretende Direktor ebendieser Einrichtung MAGNUS BRECHTKEN (München). Auf Initiative Gerhard Krolls, 1949–1951 erster IfZ-Direktor, sei aus dem Provisorium des „Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit“ ein Kontinuum entstanden, dessen Programmatik bereits in Krolls Durchsetzung gegen Gerhard Ritter sinnfällig wurde. Augenscheinlich habe man mit der Stiftung einer außeruniversitären Einrichtung unter Leitung eines Politikers den Bruch mit der bisherigen Geschichtsforschung auch symbolisch vollzogen. Entlang der Direktorenreihe Mau, Kluke, Krausnick und Broszat streifte Brechtken das Ringen um den Wert von Zeitzeugenaussagen, die Gutachter- und Publikationstätigkeiten des Instituts sowie dessen Einfluss auf die Konturierung des Begriffs der Zeitgeschichte. Zusammenfassend bewertete er die Rolle des IfZ bei der Neuformierung als außeruniversitäre Alternative, die die Universitätshistoriographie zur Auseinandersetzung zwang und somit den Diskurs vorantrieb. Die Weltbilder und Denkstile der Institutshistoriker sowie die Geschichte des IfZ als Teil der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte seien Forschungsdesiderate, die angegangen werden sollten und müssten.

Der These von einer „Zeitgeschichte vor der Zeitgeschichte“ ging MATHIAS BEER (Tübingen) nach. Dazu thematisierte er „Die Anfänge der deutschen ‚Flüchtlingsforschung’“ und die Entwicklung der Zeitgeschichte zu einer prägenden Teildisziplin der historischen Wissenschaften. Anhand der fünfbändigen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ zeigte Beer drei Punkte auf, die die Flüchtlingsforschung als Vorgängerin der Zeitgeschichte kennzeichneten. 1. Inhaltlich: Die Publikation des ersten Bandes habe wesentliche Thesen aufgestellt, die von der Zeitgeschichte erst in den 1990er-Jahren „wiederentdeckt“ worden seien. 2. Methodisch: Die Vorgehensweise bei Authentifizierung, Verifizierung und Qualifizierung der Ego-Dokumente für die „Dokumentation“ weise frappierende Parallelen zum Umgang der Zeitgeschichte mit der Oral History auf. 3. Personell: Martin Broszat (1926–1989) wirkte bereits an der „Dokumentation“ mit. Dort habe er sein methodisches Handwerk erlernt und seine Erfahrungen mit Zeitzeugen gemacht, die sein weiteres Werk geprägt hätten. So habe die Flüchtlingsforschung der Zeitgeschichte wesentliche Impulse gegeben, möglicherweise als Scharnier zwischen einer älteren Zeitgeschichte, die noch vor dem Ersten Weltkrieg datiert, und der neuen gedient.

Als ersten Organisationsversuch der katholischen Minderheit in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft machte OLAF BLASCHKE (Heidelberg) die Gründung der Görres-Gesellschaft 1876, als zweiten die Konstituierung des „Verbandes der Historiker Deutschlands“, als dritten die Widerstandsgruppe um Wilhelm Wühr Ende der 1940er-Jahre aus. Vierte Neuformierung schließlich stellte in seinem Modell die 1962 ins Leben gerufene „Kommission für Zeitgeschichte“ (KfZG) dar. Als „Erinnerungslobby“ unter der bischöflichen Direktive, nach kirchlichem Widerstand im „Dritten Reich“ zu forschen, habe jene ihr Schaffen gleichsam unter das dualistische Narrativ ‚Kreuz versus Hakenkreuz‘ gestellt. Mithilfe einer umfänglichen Netzwerkanalyse auf Basis der Dankesreverenzen in den Vorworten ihrer Veröffentlichungen veranschaulichte Blaschke die Bezugskreise der KfZG. Zusammenfassend konnte der Referent festhalten, dass das Netzwerk der KfZG seit den 1960er-Jahren deutlich anwuchs und, nachdem es sich anfangs um ein „Who is who“ des deutschen Katholizismus gehandelt habe, mit der Zeit vielfältiger wurde. Des Weiteren zeichnete sich von den 1960er-Jahren bis ins Jahr 2000 eine Entklerikalisierung des Personenkreises ab, was Blaschke als allmähliche Abkopplung von der Amtskirche deutete. Die Neuformierung katholischer Geschichtswissenschaftler nach 1945 bewertete er alles in allem als stet und erfolgreich.

Über Jahrzehnte hinweg hätten die Ordinarien Max Spindler (1894–1986) und Karl Bosl (1908–1993) Landesgeschichte und Geschichtspolitik im Freistaat maßgeblich mitgeprägt. Um ihre Standorte in den Formierungsprozessen nach 1945 zu bestimmen, stellte FERDINAND KRAMER (München) Bosl und Spindler einander gegenüber. Spindler, als Unbelasteter 1946 auf den ehedem von Karl Alexander v. Müller innegehabten Münchner Lehrstuhl gekommen, habe die Erneuerung der Landesgeschichte in enger Verklammerung mit der Erneuerung des Landes selbst gesehen. 1947 konnte er die Einrichtung des „Instituts für Bayerische Landesgeschichte“ an der Ludwig-Maximilians-Universität erreichen und übernahm die Leitung der historischen Kommission an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bosl, ehemaliges NSDAP-Mitglied, 1949 als entlastet eingestuft, übernahm 1960 Lehrstuhl und Institutsleitung Spindlers und versah sie bis 1977. Kontinuitäten zwischen den beiden machte der Referent vor allem in ihren hervorragenden organisatorischen Leistungen aus, Differenzen sah er in erster Linie im Politischen. Mit Projekten wie dem „Handbuch der Bayerischen Geschichte“ und dem „Historischen Atlas von Bayern“, der Hinwendung zur Zeitgeschichte sowie ihrer erheblichen Wirkung in der Frage nach kulturpolitischen Leitbildern attestierte Kramer beiden weitreichende Errungenschaften. Durch sie habe die bayerische Landesgeschichte den Bruch mit der von Karl Alexander v. Müller geprägten Vorzeit deutlich vollzogen, ihre Neuformierung könne somit im Wesentlichen als Erfolgsgeschichte verbucht werden.

Ob Hans Herzfeld (1892–1982) als ein „weißer Rabe“ anzusehen sei, wollte EDGAR LIEBMANN (Hagen) in seinem Vortrag über dessen Rolle in der „Fischer-Kontroverse“ erkunden. Nachdem Fritz Fischer 1959 in der HZ einen Aufsatz über die deutsche Kriegspolitik veröffentlicht und darin die These eines imperialistischen Weltmachtstrebens des Reiches als Kriegsauslöser vertreten hatte, eröffnete der Berliner Ordinarius Herzfeld mit einer Replik in derselben Zeitschrift die langanhaltende Debatte. Fischers Arbeit anerkennend, habe er, so Liebmann, in sachlichem Ton Kritik an dessen Methode geäußert, ihm einseitige Quellenauswahl und mangelnde Auseinandersetzung mit den Zielen der Gegner vorgeworfen sowie die unterstellte Einheitlichkeit der Kriegsziele aufseiten des Reiches beanstandet. Auch nach Veröffentlichung von Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, worin dieser seinen Ansichten auf breiter Basis Nachdruck verlieh, habe Herzfeld in seiner Kritik einen rein wissenschaftlichen Duktus bewahrt. Vor allem sei es ihm darauf angekommen, dass der deutsche Imperialismus des Ersten Weltkriegs nicht mit dem des Zweiten gleichgesetzt würde. Als Höhepunkt der Kontroverse machte der Referent den Historikertag 1964 in Berlin aus. In Hinblick auf die Ausgangsfrage hob er das elastische, vergleichsweise undogmatische Denken seines Protagonisten hervor, den er deshalb eher als „gesprenkelten Raben“ apostrophiert wissen wollte.

KLAUS SCHWABE (Aachen) schloss den Vortragsteil mit einem Rückblick auf „Die Anfänge der ‚Büdinger Gespräche’“. Um zu erkunden, ob diese auf ein NS-Netzwerk zurückgingen, richtete er die Aufmerksamkeit auf die Biographien der Gründungsväter. Hellmuth Rössler (1910–1968), urteilte er, sei zwar „großdeutsch“ und national gesinnt, aber „sicher kein in der Wolle gefärbter Nazi“ gewesen. Dasselbe sei mit Einschränkungen für Friedrich Wilhelm Euler (1908–1995) und Günther Franz anzunehmen. Einzig Gustav Adolf Rein (1885–1979) könne in dem Quartett als „echter“ Nazi gelten.

Unter Schirmherrschaft der Ranke-Gesellschaft und der Leitung Rösslers wurden die ersten „Gespräche“ 1963 im „Krummen Saal“ des Büdinger Schlosses abgehalten. Die frühen Jahre, so Schwabe, seien vor allem durch die Thematisierung von Adel und Patriziat gekennzeichnet gewesen. Unter der Leitung Franzens ab 1973 habe sich der Fokus von stark genealogisch inspirierten Betrachtungen hin zur Sozialgeschichte verschoben und infolgedessen auch Arbeiterschaft und Bauernstand mit ins Erkenntnisinteresse gebracht. Diese Öffnung der Tagungsreihe für eine Geschichte „von unten“ habe dazu beigetragen, dass sie trotz der teilweise starken Belastung ihrer Gründerväter Eingang in den geschichtswissenschaftlichen Mainstream fand. Der elitäre Zuschnitt der Konferenzen – der „Krumme Saal“ im Schloss fasste maximal 30 Personen – habe eine besondere Breitenwirkung jedoch verhindert. Abschließend verlieh der Referent seiner Freude darüber Ausdruck, dass die 2008 beendeten Büdinger in den 2010 begonnenen „Bensheimer Gesprächen“ ihre Fortsetzung finden.

Kontinuität oder Diskontinuität? Neu- oder Rückorientierung? Paradigmenwechsel oder ‚alter Wein in neuen Schläuchen‘? – Diese epistemologischen Dualismen bildeten den Fluchtpunkt der erkenntnisleitend gebündelten, aber nichtsdestoweniger thematisch weitgefächerten Vorträge der „Bensheimer Gespräche“ 2013. Die Zusammenführung von Fachleuten zur Geschichte der deutschsprachigen Historiographie des 20. Jahrhunderts brachte vor allem neue personen- und institutionengeschichtliche Zusammenhänge ans Licht und trug somit in beträchtlichem Maße zum Verständnis der zwischen Individuen und Apparaten wirksamen Mechanismen und Konnexionen im fachwissenschaftlichen Milieu der Kriegs- und Nachkriegszeit bei. Nicht nur biographische Betrachtungen solch antithetischer Persönlichkeiten wie Franz und Graus, sondern gerade auch der Blick auf disparate Disziplinen wie Ost- und Flüchtlingsforschung lehrt uns einmal mehr, die Verlockungen des Pauschalurteils zu scheuen. So war in der Abschlussdiskussion zu bilanzieren, dass die Neuordnung in personeller, methodischer und disziplinärer Hinsicht unterschiedliche, teilweise bis zur Jahrhundertwende zurückreichende Wurzeln hatte und dementsprechend vielfältige Wege beschritt. Der historiographische Zugriff auf die Hintergrundstrukturen dieser Formierungsprozesse indes kann keinesfalls durch die alleinige Konzentration auf Netzwerke gelingen, sondern muss wissenschaftsethische Aspekte ebenso berücksichtigen wie persönliche geistige Autonomien. Nicht zuletzt bereichern die in Bensheim vorgestellten Studien sowie die dort in lebhaften Diskussionen herausgearbeiteten Korrekturen und Konturierungen die Komplexe der sozialgeschichtlichen Netzwerkforschung sowie der Elitenprosopographie und bewahren damit in freier Ausgestaltung das Erbe der Büdinger Pioniere.

Konferenzübersicht

Volkhard Huth: Einführung in das Tagungsthema

Volker Losemann: „Brauchen Sie keinen Althistoriker?“ Perspektiven der Alten Geschichte nach 1945

Christian Gildhoff: Mit den Germanen nach Europa. Von der „deutschen Vorgeschichte“ zur Vor- und Frühgeschichte – Häutungen einer Weltanschauungswissenschaft

Jürgen Elvert: „Ich habe auch keine Schule gebildet“. Zur wissenschaftsgeschichtlichen und milieusoziologischen Rolle des Agrarhistorikers Günther Franz (1902-1992) nach 1945

Jörg Schwarz: Der Wanderer zwischen den Welten. František Graus (1921-1989) und die deutsche Mediävistik der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zwischen Ost und West, zwischen Beharrung und Aufbruch

Esther Abel: Peter Scheibert und die (Neu-) Orientierung der westdeutschen Ostforschung

Magnus Brechtken: Das Institut für Zeitgeschichte im Spannungsfeld von Forschung und Vergangenheitsbewältigung

Mathias Beer: Zeitgeschichte vor der Zeitgeschichte. Die Anfänge der deutschen „Flüchtlingsforschung“

Olaf Blaschke: Die dritte und vierte Neuformierung katholischer Geschichtswissenschaftler nach 1945

Ferdinand Kramer: Max Spindler und Karl Bosl. Zur Erneuerung der Landesgeschichte in Bayern

Edgar Liebmann: Ein weißer Rabe? Hans Herzfeld und die Fischer-Kontroverse

Klaus Schwabe: Die Anfänge der „Büdinger Gespräche“


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