Kriegs- und Gewalterfahrung im 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich

Kriegs- und Gewalterfahrung im 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich

Organisatoren
Mareike König, Deutsches Historisches Institut Paris; Axel Dröber, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
21.03.2013 - 22.03.2013
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Von
Ulrich Pilous, Deutsches Historisches Institut Paris

Seit einiger Zeit widmet sich die Geschichtswissenschaft verstärkt dem Themenfeld der Kriege und Konflikte, indem sie die bisherigen klassischen Themen der Militärgeschichtsschreibung mit einem kulturgeschichtlichen Zugang neu und erweitert untersucht. Diesem Ansatz war auch der Workshop am Deutschen Historischen Institut Paris, organisiert von MAREIKE KÖNIG (Paris) und AXEL DRÖBER (Freiburg), verpflichtet, der jüngst Nachwuchs- und fortgeschrittene Wissenschaftler zusammen brachte, um über Kriegs- und Gewalterfahrungen im 19. Jahrhundert zu diskutieren. Neben einer Vielzahl von Neuerungen im Militär, zeichnet sich die Epoche durch tief greifende Veränderungen in der Tragweite der Auswirkungen kriegerischer Auseinandersetzungen aus. Bekannt ist die Äußerung von Carl von Clausewitz, der im Hinblick auf das revolutionäre Frankreich konstatierte, dass der Krieg zu einer Sache des Volkes geworden war, dessen Mitglieder sich alle als Staatsbürger betrachteten. Kriegserfahrung ist damit nicht etwas, das nur einige wenige Personen betraf, sondern gehörte zu einer Generationserfahrung, die eine Steigerung des emotionalen und praktischen Aufwands für den Krieg erlebte.

HORST CARL (Gießen) stellte im Eröffnungsvortrag eine Konzeption von Kriegserfahrungen vor, wie sie im Tübinger Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen“ vorgedacht wurde. Er betonte, dass gerade der Begriff der „Erfahrung“ quellenkritisch schärfer gefasst werden müsse. Dementsprechend sollten die gewonnenen Funde an Ego-Dokumenten, die dem Historiker einen weiten Quellenkorpus (z.B. Feldpost) liefern, weniger als individuelle Selbstaussagen begriffen, sondern als „Erfahrung“ in wissenssoziologischer Hinsicht verstanden werden. Denn jeder Kriegsteilnehmer sei einem sprachlich verfassten und kulturell vorgegebenen Deutungsrahmen verhaftet. Diesen sichtbar zu machen, könnte den Historiker zu Erkenntnissen führen wie etwa der zeitlichen Struktur von „Erfahrung“ oder der Wirkung von Kriegserfahrungen auf gesellschaftliche und akteursspezifische Rahmenbedingungen.

Am Beispiel der Napoleonischen Kriege verdeutlichte Carl seine theoretischen Ausführungen. So hob er hervor, dass in den deutschen Staaten 1813 kein stimulierendes Nationalgefühl erkennbar ist, was jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts so gedeutet wurde. Ferner ging Carl auf die Bedeutung der Soldatenbriefe (lettres de grognards) ein. Diese Massenquelle ermögliche eine Kombination von kulturgeschichtlichen Fragestellungen mit seriell-quantitativen Methoden. Der quantitative Aspekt lasse Aufschlüsse über die Lebenswelt der Soldaten in überindividueller Perspektive zu. Carl fügte hinzu, dass kollektive Deutungsmuster auf individuelle Wahrnehmungen einwirkten. Werde das Sterben auf Schlachtfeldern kaum thematisiert, so spiele der Tod in den Hospitälern eine große Rolle.

NATALIE PETITEAU (Avignon) stellte am darauffolgenden Tag Untersuchungsergebnisse zu Kriegserfahrungen von Soldaten des Ersten Kaiserreiches vor, die strenge Märsche und harte Kämpfe kennen lernten, die für die damalige Gesellschaft zuweilen fremd waren. In Ergänzung zur bisherigen klassischen Geschichtsschreibung konnte Petiteau dem Publikum Einblicke in das Leben der Kombattanten gewähren. Zunächst wurde gezeigt, wie die durch das System der Konskription rekrutierten Soldaten über die neue Lebensumgebung reflektierten, in der sie unter Vorgesetzten dienen mussten, die in ihren Augen die französische Nation verkörperten. Des Weiteren ging Petiteau auf Gewalterfahrungen während der Schlachten, aber auch in Gefangenenlagern näher ein. Thema waren hier die Klagen der Soldaten über die klimatischen Extreme, denen sie ausgeliefert waren, über die ständige Unterversorgung oder unzureichende Kleidung.

Aus der Diskussion ging hervor, dass gerade Mediziner für menschliche Blessuren sensibilisiert waren und daher besonders häufig Zeugnis von den schrecklichen Seiten der kriegerischen Auseinandersetzungen ablegten.

Zu Erinnerungen und Vorstellungen vom Krieg sprachen EMMANUEL LARROCHE (Paris) und AXEL DRÖBER (Freiburg). Larroche untersuchte die französische Expedition in Spanien im Jahre 1823, die kaum militärische Schwierigkeiten bot. Diese Erfahrung stand diametral zu den Napoleonischen Kriegen in Spanien rund zehn Jahre zuvor, die vor allem wegen der Guerillakämpfe in grausamer Erinnerung geblieben waren. Larroche untersuchte den Einfluss dieser Kriegserfahrung auf die Expedition von 1823 hinsichtlich der Planungen und politischen Deutung im Vorfeld sowie das Verhalten der Armee während des Einsatzes. Trotz der unterschiedlichen Quellenlage bezüglich der militärischen Dienstgrade (von einfachen Soldaten sind beinah keine Zeugnisse vorhanden) lässt sich festhalten, dass die Erfahrungen in individuelle Betrachtungen und kollektive Deutungsmuster zu trennen sind, während die Motivationen für die Intervention unterschiedlich waren. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, wie sich in nur zehn Jahren bei den französischen Offizieren, von denen ein großer Teil den Napoleonischen Krieg in Spanien miterlebt hatte, der Hass auf die spanischen Kombattanten hatte auflösen können.

Axel Dröber stellte in seinem Referat die französische Nationalgarde während der Restaurationszeit in den Mittelpunkt, in der diese in das Spannungsfeld ultra-royalistischer und liberaler Deutungsmuster geriet. Beide politischen Richtungen proklamierten eine dauerhafte friedliche Lösung und versuchten, die paramilitärische Organisation in ihrem Sinne zu vereinnahmen. Auffällig seien der Blick in die Vergangenheit und der Versuch, Kriegsgründe und Folgen für die Gesellschaft zu erfassen, so Dröber. Es wurde deutlich, dass die Nationalgarde einem Deutungswandel unterlag, indem sich das politische rechts-links Schema zwar durch die Garde hindurch verlängerte, hier aber zugleich auf divergierende Interpretationen der revolutionären Vergangenheit der Institution stieß.

In der Diskussion wurde der soziale Aufbau der Nationalgarde angesprochen, der sich durch einen sehr exklusiven Zugang auszeichnete. Im Jahr 1816 gehörten der Nationalgarde nur ca. fünf Prozent der Pariser Stadtbevölkerung an. Thematisiert wurde außerdem die Argumentation der konservativen Kräfte, die das Prinzip der Freiwilligkeit der Nationalgarde als Aufopferung gegenüber dem König umzudeuten versuchten.

DANIEL GERSON (Bern) ging auf die Lage der jüdischen Bevölkerung im Elsass während der Revolution 1848 ein. Zentraler Punkt war die antisemitische Pogromstimmung, die sich vielfach in Hausplünderungen entlud und auf die Gerson sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch akteursspezifisch einging. So begründete sich die kollektive Gewaltbereitschaft hauptsächlich durch antisemitische Diskurse der lokalen Behörden, wie Gerson am Beispiel des Sundgaus vor Augen führte. Anhand exemplarischer antijüdischer Gewaltakte verdeutlichte er, dass jener Antisemitismus sich von religiösen Denkmustern löste und oft mit der Stigmatisierung jüdischer Bürger als „Sündenböcke“ und Verursacher der politischen und wirtschaftlichen Instabilität einherging.

In der Diskussion wurde auf die Hervorbringung antisemitischer Parolen näher eingegangen, die auf dem Land latent vorhanden waren, wobei jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Anwachsen rassistischen Gedankengutes in den Großstädten zu beobachten war. Auch auf die Art der Plünderungen wurde nochmals hingewiesen: Selten habe es mobile Raubkommandos gegeben, so Gerson, meistens habe es sich um spontane Aktionen gehandelt. Nur wenige nichtjüdische Bürger hätten sich mit ihren drangsalierten Nachbarn solidarisiert, da sie oftmals in Fällen, in denen sie Partei zugunsten von Juden ergriffen, selbst zu Opfern geworden seien.

Auf den europäischen Aspekt der Revolutionen von 1848/1849 ging ANNE-CLAIRE IGNACE ein. Sie untersuchte die französische Freiwilligenarmee, die im ersten Italienischen Unabhängigkeitskrieg gegen Österreich kämpfte. Neben ehemaligen und beurlaubten Soldaten stellten Arbeiter die Mehrheit der Truppen. Es wurden die unterschiedlichen Motive für die Teilnahme, Verhaltensweisen und Gewalterfahrungen während der Intervention dargestellt. Besonders konnten die ansonsten oft militärisch unerfahrenen Freiwilligen die italienischen Kämpfer mit ihren Fähigkeiten zum Bau von Barrikaden unterstützen. Ebenso untersuchte Ignace das Verhältnis zwischen den französischen Kämpfern und der einheimischen Bevölkerung.

Die dritte Sektion bildeten die Vorträge von INÈS BEN SLAMA (Lille) und GUILLAUME PARISOT (Lille), die sich mit „Krieg und Okkupation 1870-1871“ beschäftigten. Die Auseinandersetzungen im Deutsch-Französischen Krieg erfuhr die südfranzösische Bevölkerung nur aus der Distanz. Dennoch reagierten und positionierten sich Menschen in diesen Landesteilen bezüglich des Konfliktes, wie Inès Ben Slama erklärte. Sie zeigte, welche Vorstellungen von Krieg und Nation in den Großstädten Lyon, Marseille, Bordeaux und Toulouse vorhanden waren. Diesbezüglich studierte sie Briefe, die an verschiedene Verwaltungsinstanzen gerichtet waren und unterschiedliche Anliegen enthielten. Sie zeugen davon, dass sich in Südfrankreich Besorgnis und (teilweise lokaler) Patriotismus manifestierten.

Auf das Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten von 1870 bis 1873 ging Guillaume Parisot ein, der unterschiedliche Erfahrungen in den okkupierten französischen Departements aufzeigte und der Frage nachging, inwiefern sich der militärische Einsatz auf das alltägliche Leben ausgewirkt hatte. Resümierend gelangte Parisot zu einem paradoxen Bild: Einerseits seien Zwischenfälle von Soldaten und Zivilbevölkerung dokumentiert, die auf eine latent angespannte Lage hinwiesen. Andererseits gäbe es aber auch freundschaftliche Momente, die durch Hilfsbereitschaft oder Solidarität charakterisiert seien.

Das Problem des Widerstandes gegenüber den Besatzern, die Struktur und Strenge der deutschen Verwaltung wurden im Anschluss genauso diskutiert wie die Frage nach dem speziellen Kriegserlebnis von Frauen und von deutschen Einwanderern.

Im Rahmen der letzten Sektion mit dem Thema „Zwischen Krieg und Frieden: Erfahrung bayerischer Soldaten und Offiziere“ stellten JULIA MURKEN (Tübingen) und GUNDULA GAHLEN (Berlin) ihre Forschungsergebnisse vor. Bayern stellte rund 30 000 Mann in Napoleons „Grande Armee“. Wie diese Soldaten den Russlandfeldzug im Jahre 1812 erlebten und welche Kriegserfahrungen und Deutungsmuster existierten, war Gegenstand des Vortrages von Julia Murken. So war der Kriegsalltag der bayerischen Soldaten von kräftezehrenden Märschen und vom Lagerleben sowie von mangelnder Versorgung und Krankheiten geprägt. Sie hob hervor, dass die Erfahrungen jedoch vom militärischen Grad bzw. sozialen Status abhängig waren. Im zweiten Teil des Vortrages wurde der Frage nachgegangen, inwiefern sich Deutungsmuster, die sich aus der Idee von einer gesamtdeutschen Nation speisten, nachweisen lassen. Murken verwies auf die zeitgenössischen Quellen, die allenfalls Bezüge zur bayerischen Heimat aufwiesen. Die These, nach der die Niederlage im Russlandfeldzug den Aufbruch zu den Befreiungskriegen darstellte, sei einer späteren Umdeutung des Ereignisses geschuldet, so Murken.

Hieran schloss sich der Beitrag von Gundula Gahlen an, die das bayerische Offizierskorps im Zeitraum von 1815 bis 1866 untersuchte. Bezüglich der Friedenserfahrung der Offiziere konstatierte sie, dass sich bei einer Gruppe Frustration und Sehnsucht nach militärischen Einsätzen nachweisen lässt, während andere Offiziere die mangelnde Schlagkraft der Streitkräfte im Kriegsfall befürchteten. Tatsächlich hätte sich der Zustand des Heeres sukzessiv verschlechtert. Ferner betonte Gahlen, dass die Kriegszeit im Offizierskorps durch eine spezifische Erinnerungskultur präsent war. Die gesammelten Kriegserfahrungen, die auch als ein Attribut für langgediente Offiziere galten, unterlägen jedoch im Laufe der langen Friedenszeit einer Verschiebung in der Wertschätzung. Generationskonflikte im Militär zwischen gut ausgebildeten, jungen Soldaten und Veteranen waren die Folge.

In der anschließenden Diskussion wurde die Verwendung des Begriffs der Erfahrung positiv eingeschätzt, den Gahlen in einem doppelten Sinn gebraucht. Erfahrung bezieht sich hier nicht nur auf den kollektiven Erfahrungsraum der Offiziere, sondern stellte auch ein distinktives Merkmal dar. Demgegenüber wies Gahlen darauf hin, dass Bildung für den Militärdienst im Laufe des 19. Jahrhunderts eine immer wichtigere Rolle spielte. Darüber hinaus wurde der Frage nachgegangen, warum das Thema Sterben keine Erwähnung in den Soldatenbriefen fand. Murken erklärte, dass dafür die Worte fehlten und Leid beispielsweise besser in Bildern ausgedrückt werden konnte.

In den unterschiedlichen Beiträgen wurde einerseits deutlich, dass heterogene Aussagen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen existieren. Das Erfahrungsspektrum war weit gefasst und unterschied sich nach militärischem Rang oder sozialem Status. Andererseits wurden aber auch Probleme des kulturgeschichtlichen Forschungsansatzes diskutiert, etwa fehlende Quellen zu bestimmten Fragestellungen oder auch sprachliche Probleme. Dazu zählte insbesondere die Schwierigkeit, Kriegserlebnisse in Worte zu fassen, was aufgrund psychischer Belastungen oder aber auch des Schriftvermögens für die Akteure oftmals eine Herausforderung darstellte.

Konferenzübersicht:

Grußwort
Stefan Martens (Deutsches Historisches Institut Paris)

Eröffnungsvortrag
Horst Carl (Justus-Liebig-Universität Gießen) : Kriegserfahrungen - ein Konzept und seine Grenzen am Beispiel der napoleonischen Kriege in Europa
Kommentar: Odile Roynette (Sciences Po Besançon)

Einführungsvortrag
Natalie Petiteau (Université d'Avignon): Les expériences de guerre des soldats du Premier Empire

Sektion I: Erinnerungen und Vorstellungen vom Krieg
Moderation: Natalie Petiteau, Avignon

Emmanuel Larroche (Sciences Po Paris): L'expédition d'Espagne en 1823 : mémoire de la campagne napoléonienne et expériences d'une guerre limitée

Axel Dröber (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Nation, forces armées et société : l'exemple de la Garde nationale française pendant la Restauration en France

Sektion II: Gewalterfahrungen während der Revolution(en) 1848
Moderation: Mareike König, Paris

Daniel Gerson (Universität Bern): „Es lebe die Republik, Tod den Juden, Tod den Reichen“: Revolution und Pogrom im Elsass 1848

Anne-Claire Ignace: L'expérience du combat des volontaires français dans les guerres et les révolutions italiennes de 1848

Sektion III: Krieg und Okkupation 1870/71
Moderation: Odile Roynette

Inès Ben Slama (Université de Lille 3): Imaginaires de la guerre et de la nation dans les grandes villes du Sud de la France, 1870-1871

Guillaume Parisot (Université de Lille 3): Vivre l'occupation, vivre sous les occupations de guerre et de garantie (1870-1873)

Sektion IV: Die Erfahrungen bayerischer Offiziere und Soldaten zwischen Krieg und Frieden
Moderation: Horst Carl

Julia Murken: Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812. Kriegserfahrungen - Deutungen - Umdeutungen

Gundula Gahlen (Freie Universität Berlin): Kriegs- und Friedenserfahrungen im bayerischen Offizierskorps 1815-1866


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