Justizielle Selbstregulierung im 19. und 20. Jahrhundert

Justizielle Selbstregulierung im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Peter Collin, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.01.2013 - 02.02.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Dennis Vogt / Yorick Wirth, LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Vom 31. Januar bis 2. Februar 2013 fand am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main eine Konferenz zum Thema „Justizielle Selbstregulierung im 19. und 20. Jahrhundert“ statt. Diese vierte Tagung des Projekts „Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive“1 wurde im Rahmen des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“2 in Kooperation mit dem LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“3 durchgeführt und von PETER COLLIN (Frankfurt am Main) organisiert.4 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz entstammten verschiedenen Disziplinen, vornehmlich den Rechts-, Geschichts- und Sozialwissenschaften. Die Tagung befasste sich mit Konfliktlösungsformen, in denen nichtstaatliche Akteure in justizmäßigen Verfahren Recht sprachen und ging somit der Frage nach, wie Selbstregulierung in justiziellen Spielarten praktiziert wurde. In die Untersuchungsperspektive einbezogen wurde zudem die Frage, wie die staatliche Justiz ihrerseits Selbstregulierung regulierte.

Die erste Sektion „Selbstregulierung durch, mit und in der Justiz – perspektivische Zugänge“ wurde durch einen Vortrag von GUNNAR FOLKE SCHUPPERT (Berlin) eröffnet, in dem er sich mit der Entwicklung von der Pluralität normativer Ordnungen zur Pluralität ihrer Durchsetzungsregime befasste. Schuppert verband zwei Perspektiven: Einerseits eine Governance-Perspektive, in welcher Governance-Kollektive als Regelungskollektive Regeln setzen und Normdurchsetzungsregime ausbilden, andererseits eine regelungswissenschaftliche Perspektive, welche den Blick auf die Mannigfaltigkeit der für Konfliktlösung maßgeblichen normativen Maßstäbe richtet und sich damit von der Fixierung auf das Gesetz löst. Daran schloss sich ein Referat von PETER COLLIN an, in dem er Schwur- und Schöffengerichte sowie andere Formen von Laienbeteiligung behandelte. Dabei warf er die Leitfrage auf, inwiefern die einzelnen Justizkonzeptionen Elemente bestimmter Selbstregulierungsverständnisse aufweisen. Collin verdeutlichte dies am Beispiel deutscher, englischer und französischer Schwurgerichte und ihrer Akteure, der deutschen Handelsgerichtsbarkeit sowie badischer und preußischer Verwaltungsgerichte und machte damit auf konzeptionelle Ursprungselemente justizieller Selbstregulierung aufmerksam.

Die obengenannte Sektion wurde am folgenden Tag mit einem Vortrag von JENS GAL (Frankfurt am Main) fortgesetzt, der zunächst die Entwicklung der (Handels-)Schiedsgerichtsbarkeit von ihren antiken Vorläufern, über die Rezeption während des 13. Jahrhunderts bis zum „Niedergang“ im 18. Jahrhundert nachzeichnete. Davon ausgehend betrachtete er die – auf den Prinzipien von Privatautonomie und Rechtsstaatlichkeit basierende – Ausgestaltung der Handelsschiedsgerichte im 19. Jahrhundert und deren Spezialisierung zu Warenschiedsgerichten. Diesen Prozess beurteilte Gal entgegen dem gewählten Vortragstitel nicht als Renaissance, sondern als völlige Neuausrichtung der Schiedsgerichtsbarkeit unter Betonung eines selbstregulativen Moments. Der Beitrag von WINFRIED KLUTH (Halle/Saale) widmete sich der justiziellen Selbstregulierung der wirtschaftlichen und berufsständischen Selbstverwaltung und exemplifizierte dies anhand der Ärzte- und Anwaltschaft. Kluth richtete den Fokus seiner Ausführungen – ausgehend von Entwicklungen des 19. Jahrhunderts – auf die bundesrepublikanische Berufsgerichtsbarkeit, die eine weite Selbstregulierungsbefugnis erfahren und sich auch auf andere Berufsgruppen als die vorgenannten ausgeweitet habe. Eine solche Delegierung von Hoheitsgewalt sei pragmatisch begründbar: Betroffene könnten besser über die entsprechenden Fälle entscheiden und die staatliche Gerichtsbarkeit würde entlastet.

Unter dem Titel „‚Vormoderne‘ Formen, Kontinuitäten und Innovationen“ schloss sich die folgende Sektion an, als deren erster Referent NOTKER HAMMERSTEIN (Frankfurt am Main) über universitäre Gerichtsbarkeit und akademische Autonomie sprach. Dabei spannte er den Bogen von der Entstehung der Universitäten im 12. Jahrhundert, ihrer sich herausbildenden Selbstverwaltung und dem akademischen Bürgerrecht, über den spätabsolutistischen Staat und das 19. Jahrhundert mit dem „System Althoff“ bis hin zur Entwicklung in den 1970er-Jahren. Hammerstein verwies auf den schrittweisen Verlust von Jurisdiktionsgewalt und Selbständigkeit moderner Universitäten, aber auch auf die bis in die Gegenwart vorhandene universitäre Selbstverwaltung. Darauf folgte ein Vortrag von WOLFGANG AYASS (Kassel), in welchem er die ältere Sozialgerichtsbarkeit seit den achtziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts bis ins Jahr 1913 mit ihren Strukturen und Reformen veranschaulichte. Zunächst für die Unfallversicherung, später auch für andere Versicherungen geschaffen, sei die Sozialgerichtsbarkeit gekennzeichnet gewesen durch die für die Versicherten günstigen Prozessregeln und eine großzügige Auslegung der materiellen sozialrechtlichen Bestimmungen. Besonders hervorgehoben wurden das Reichsversicherungsamt als oberste sozialversicherungsrechtliche Instanz und dessen erster Präsident, Tonio Bödiker. Abschließend gab ULRIKE MÜSSIG (Passau) einen Einblick in die justizielle Selbstverwaltung und stellte die Entwicklung von der preußischen Justizreform über das Bundesoberhandelsgericht bis hin zum Gerichtsverfassungsgesetz in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Um Eingriffe von Seiten der Ministerien und der Verwaltung in die Besetzung der Spruchkörper zu verhindern, seien schon in den 1870er-Jahren ausführliche Regelungen zur Zusammensetzung von Kammern geschaffen worden. Nach dem Eingriff in die richterliche Selbstverwaltung während der Zeit des Nationalsozialismus habe in der Bundesrepublik Deutschland diese „strenge“ Absicherung richterlicher Autonomie – insbesondere durch Art. 101 GG – eine Fortsetzung erfahren.

Daraufhin wurde die Sektion „Referenzfeld: Justizielle Regulierung und Selbstregulierung der Arbeitsbeziehungen“ mit einem englischsprachigen Vortrag von RALF ROGOWSKI (Coventry) eingeleitet, in dem er aus einer vergleichenden Perspektive über regulierte Selbstregulierung im britischen Arbeitsrecht sprach. Ausgehend vom 19. Jahrhundert betonte er verschiedene Entwicklungsphasen, von denen insbesondere die des collective laissez faire von 1906 bis 1972 und die eines verstärkten Staatseingriffs von 1979 bis 1997 von großer Bedeutung für das Arbeitsrecht seien. Seit der Regierungszeit des britischen Premierministers Tony Blair und dem Wirken von New Labour werde auf eine neue Emanzipation und Selbstregulierung der Arbeitswelt gesetzt. SABINE RUDISCHHAUSER (Brüssel) behandelte anschließend die arbeitsrechtliche Konfliktlösung zur Zeit der Dritten Französischen Republik, wobei sie den Schwerpunkt auf die conseils de prud’homme (staatlich initiierte städtische Gerichte eines Gewerbes) und die Rolle von Friedensrichtern legte. So seien individuelle Arbeitsrechtskonflikte vor die conseils de prud’homme gebracht worden; diese entschieden nach Gewohnheitsrecht, lösten aber in den meisten Fällen Konflikte nicht mit einem Urteil. Kollektive Arbeitsrechtskonflikte seien dagegen vor einem Friedensrichter, der jedoch eher ein Schlichter gewesen sei, verhandelt worden. Grundsätzlich sei in Frankreich die Vorstellung, dass alle Arbeitskonflikte einvernehmlich lösbar seien, stark (gewesen): Ökonomische Fragen bedürften also eines Schlichtens, lediglich juristische Fragen eines Richtens.

Die Sektion wurde am dritten Tage mit zwei weiteren Vorträgen fortgesetzt. Zunächst sprach GERD BENDER (Frankfurt am Main) über kollektives Arbeitsrecht vor 1914 und konzentrierte sich dabei auf die Rolle des Reichsgerichts in Fragen der Tarifautonomie. Deutschland habe in Bezug auf die Regelung des Tarifwesens einen dritten Weg (neben dem des freien Arbeitsvertrags und dem des Eingriffs von Seiten der Politik) beschritten. Vor allem sei auf die §§ 152, 153 Gewerbeordnung – diese beinhalteten Bestimmungen zur negativen Koalitionsfreiheit – Bezug genommen worden. Hierbei hätten die Strafsenate eine restriktive Linie verfolgt, die Zivilsenate jedoch eine gemäßigte Position vertreten, die sich schließlich auch durchgesetzt habe. Der Beitrag von BRITTA REHDER (Bochum) befasste sich mit dem Bundesarbeitsgericht und seiner Rechtsprechung zur Tarifautonomie nach 1945 aus politikwissenschaftlicher Sicht. Sei die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst von einem konservativen Ordnungsprinzip dominiert gewesen, so sei seit den 1970er-Jahren eine schrittweise Liberalisierung der Rechtsprechung, basierend auf dem Günstigkeitsprinzip, ersichtlich. Dieses Prinzip stärkte vor allem ab den 1990er-Jahren die betriebliche Autonomie zu Ungunsten der Tarifautonomie. Gegenwärtig würden jedoch wieder in eine andere Richtung weisende ordnungspolitische Rufe lauter.

Die Tagung ermöglichte detaillierte Einblicke in justizielle Selbstregulierungsformen des 19. und 20. Jahrhunderts, am Beispiel des Arbeitsrechts auch in europäischer Perspektive. Mit den facettenreichen Beiträgen und den darauf folgenden lebhaften Diskussionen wurden interessante Bezüge zwischen verschiedenen Selbstregulierungsmodi und – staatlichen wie nichtstaatlichen – Akteuren der Selbstregulierung verdeutlicht. In systematischer Hinsicht zeigte sich – wie Peter Collin in der Abschlussdiskussion erläuterte –, dass unterschieden werden kann zwischen Selbstregulierung in Form von Justiz (vor allem Konfliktlösungseinrichtungen innerhalb autonomer oder halbautonomer nichtstaatlicher Organisationsformen), Selbstregulierung durch Justiz (Beeinflussung gesellschaftlicher Selbstregulierung durch staatliche Rechtsprechung, z.B. durch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zu Tarifverträgen) und Selbstregulierung in der Justiz (richterliche Selbstverwaltung). Mit diesem Blick auf (regulierte) Selbstregulierung wurden die bisherigen Diskussionen des Exzellenzclusterprojekts um einen wichtigen und in der Rechtsgeschichte wenig beachteten Aspekt erweitert.

Es ist vorgesehen, die aufschlußreichen Vorträge – wie auch schon zu zwei vorhergehenden Konferenzen des Projekts 5– in einem Tagungsband zu publizieren.

Konferenzübersicht:

Sektion „Selbstregulierung durch, mit und in der Justiz: Perspektivische Zugänge“

Gunnar Folke Schuppert (Berlin): Von der Pluralität normativer Ordnungen zur Pluralität ihrer Durchsetzungsregime

Peter Collin (Frankfurt am Main): Schwurgerichte, Schöffengerichte und andere Formen der Laienbeteiligung: Staatsfremde Normativitäten und gesellschaftliche Selbstregulierung im staatlichen Organisationsgehäuse?

Jens Gal (Frankfurt am Main): Die Renaissance der (Handels-)Schiedsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert als Ausdruck regulierter Selbstregulierung

Winfried Kluth (Halle/Saale): Justizielle Regulierung wirtschaftlicher und berufsständischer Selbstverwaltung in der Bundesrepublik

Sektion „‚Vormoderne‘ Formen, Kontinuitäten und Innovationen“

Notker Hammerstein (Frankfurt am Main): Universitätsgerichtsbarkeit und akademische Autonomie

Wolfgang Ayaß (Kassel): Frühe Sozialgerichtsbarkeit zwischen Selbstverwaltung und Staat

Ulrike Müßig (Passau): Justizielle Selbstverwaltung

Sektion „Referenzfeld: Justizielle Regulierung und Selbstregulierung der Arbeitsbeziehungen

Ralf Rogowski (Coventry): Regulierte Selbstregulierung im britischen Arbeitsrecht in vergleichender Perspektive

Sabine Rudischhauser (Brüssel): Richten und schlichten. Arbeitsrechtliche Konfliktlösung im Frankreich der III. Republik

Gerd Bender (Frankfurt am Main): Tarifautonomie vor dem Reichsgericht. Kollektives Arbeitsrecht vor 1914

Britta Rehder (Bochum): Bundesarbeitsgericht und Tarifautonomie nach 1945

Anmerkungen:
1 Zum Exzellenzclusterprojekt siehe Bernd Frye u.a. (Red.), Die Herausbildung normativer Ordnungen. Die erste Förderperiode 2007–2012, Frankfurt am Main 2012, S. 91, sowie Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte: Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive, URL: <http://www.rg.mpg.de/de/forschung/regulierte-selbstregulierung/> (29.04.2013), und Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive, URL: <http://www.normativeorders.net/de/component/content/article/85> (29.04.2013).
2 Hinsichtlich des gesamten Exzellenzclusters siehe Exzellenzcluster Normative Orders. Exzellenzcluster an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, URL: <http://www.normativeorders.net/> (29.04.2013), und Frye, Herausbildung normativer Ordnungen.
3 Zum LOEWE-Schwerpunkt siehe LOEWE-Schwerpunkt ‘Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung’, URL: <http://www.konfliktloesung.eu> (29.04.2013).
4 Im Rahmen des Exzellenzclusterprojekts wurden bereits drei Tagungen („Selbstregulierung im 19. Jahrhundert: gesellschaftliche Selbstorganisation zwischen Staatsfreiheit und staatlichen Steuerungsansprüchen“, 09. bis 11. Juli 2009; „Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat“, 17. bis 19. Juni 2010; „Regulierte Selbstregulierung in der westlichen Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“, 16. bis 18. Juni 2011) sowie ein Workshop („Regulierte Selbstregulierung – theoretische Reflexionen in aktueller und historischer Perspektive“, 13. Januar 2010) veranstaltet (vgl. Regulierte Selbstregulierung, URL: <http://www.rg.mpg.de/de/forschung/regulierte-selbstregulierung/> [29.04.2013]).
5 Vgl. Peter Collin u.a. (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen (Moderne Regulierungsregime, Bd. 1= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 259), Frankfurt am Main 2011; Peter Collin u.a. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat (Moderne Regulierungsregime, Bd. 2= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 270), Frankfurt am Main 2012.


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