Parteiengeschichte heute – Forschungsstand, Desiderate und neue (kulturgeschichtliche) Fragen

Parteiengeschichte heute – Forschungsstand, Desiderate und neue (kulturgeschichtliche) Fragen

Organisatoren
Historisches Seminar, Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.02.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Niklas Lenhard-Schramm / Jan Zinke, Historisches Seminar, Universität Münster

Am 15. Februar 2013 fand am Historischen Seminar der WWU Münster der Workshop „Parteiengeschichte heute – Forschungsstand, Desiderate und neue Fragen“ statt. Eingeladen hatte der Münsteraner Neuzeithistoriker Christian Jansen, der die Parteigeschichte – entgegen dem derzeitigen Forschungstrend in Deutschland – wieder stärker in das Blickfeld der historischen Forschung rücken möchte. Ziel eines neuen Zugangs zur Parteiengeschichte soll es sein, durch die Untersuchung der Organisation, sozialen Basis und internen Entscheidungsprozesse Erkenntnisse über den grundsätzlichen Charakter von Parteien im Zeitalter der Massenpolitik und Fundamentalpolitisierung zu gewinnen. Ebenso soll nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen demokratischen und unde¬mo¬kratischen, linken und rechten usw. Parteien gefragt werden. Im Fokus stehen dabei „Massenparteien“ (etwa SPD, NSDAP, SPÖ, Partito Popolare Italiano, Partito Nazionale Fascista, Labour Party usw.), die für den Zeitraum von ca. 1910 bis 1980 in einem nationsübergreifenden Vergleich analysiert werden sollen.

Vor diesem Hintergrund zielte auch das wesentliche Erkenntnisinteresse der Tagung darauf ab, ob es in der modernen Parteiengeschichte spezifische Entwicklungspfade gab: Besitzen alle modernen Massenparteien ähnliche Strukturen oder lassen sich landesspezifische Besonderheiten ausmachen? Dabei ging es weniger darum, die Programme der Parteien zu beleuchten, sondern vielmehr ihre Organisationsstrukturen und Mitgliederverwaltung, aber auch die Parteigerichtsbarkeit, Ausschlussverfahren sowie die Akquirierung und Verwaltung des Parteivermögens. Überdies sind auch kulturgeschichtliche Aspekte aufschlussreich, etwa Fragen nach Integration verschiedener Generationen, nach verschiedenen sozialen Interessen und deren Ausgleich, nach Formen der Konfliktführung und -beilegung.

Im Vordergrund des Workshops stand neben einer Bestandsaufnahme der Parteigeschichtsschreibung eine Erörterung dieser Fragen, wobei schwerpunktmäßig Parteien aus Deutschland und Italien thematisiert wurden. Der Workshop war in zwei Sektionen unterteilt. Während die erste den Blick auf die NSDAP und den Partito Nazionale Fascista richtete und dabei auch der Frage nachging, ob bzw. inwiefern faschistische Parteien den Typus der modernen Volksparteien „erfunden“ haben, standen in der zweiten demokratische Parteien in Deutschland und Italien im Mittelpunkt der Diskussion.

Die erste Sektion eröffnete ARMIN NOLZEN (Warburg). In seinem Beitrag präsentierte er den theoretischen Ansatz, der seiner Arbeit an einer Gesamtdarstellung der NSDAP zugrunde liegt. Seiner erkenntnisleitenden Frage („Wie wurden aus 20-25 Männern 9 Millionen?“) geht Nolzen nach, indem er sich von bekannten Erklärungsmustern abgrenzt: Totalitarismus- und Faschismus-Theorien, aber auch das Konzept charismatischer Herrschaft seien als Ansätze, die sich an Idealtypen orientieren, nicht dazu in der Lage, die Dynamik der NSDAP hinreichend zu erfassen, zumal über ihre gesamte Geschichte hinweg. Als alternativen Ausgangspunkt schlug Nolzen die Systemtheorie Niklas Luhmanns vor, mit der die NSDAP als soziales System im Verhältnis zu ihrer Umwelt erfasst werden könne. Die Ausdifferenzierung der NSDAP aus dem sozialen System „Gesellschaft“ sieht Nolzen vornehmlich durch die Interaktions-, Protest- und Organisationsformen der NSDAP bestimmt. Erst wenn diese Zusammenhänge genauer berücksichtigt werden, könne der Aufstieg der NSDAP angemessen erklärt werden – denn, so Nolzens These, ihr Mitgliederwachstum und Strukturwandel bedingten sich wechselseitig.

SUSANNE MEINL (Dietramszell) referierte über das Amt des Reichsschatzmeisters der NSDAP, welches ein Desiderat der historischen Forschung darstelle, obwohl dem Reichsschatzmeister zentrale Steuerungs- und Kontrollfunktionen innerhalb der NSDAP zugekommen seien. So unterstanden dem Reichsschatzmeister als oberstem Finanzverwalter der Partei die Kanzlei des Führers wie auch alle Gau-, Kreis- und Ortsgruppenleitungen. Als einen der zentralen Aspekte stellte Meinl zunächst heraus, dass an das Reichsschatzmeisteramt, das Franz Xaver Schwarz geleitet hat, vielfach Briefe gerichtet wurden, in denen nicht nur Sorgen der Parteimitglieder artikuliert wurden, sondern in denen sich auch Kritik an den „Parteibonzen“ entlud. Das Reichsschatzmeisteramt habe den Nimbus der Anständigkeit gehabt, wodurch viele Parteimitglieder hofften, es könne Verfehlungen unterbinden. Gleichwohl seien Einfluss und Wirkung des Reichsschatzmeisteramts in der historischen Forschung bis dato kaum hinreichend untersucht worden. Schwarz war ein enger Vertrauter Hitlers und frühes NSDAP-Mitglied, dem schließlich die gesamte finanzielle Verwaltung der Bewegung zugekommen sei und dessen Kompetenz erst Martin Bormann mit dem Vorwurf des „Kontrollwahns“ beschnitten habe. Dennoch seien nach wie vor viele Fragen unbeantwortet: War der Reichsschatzmeister lediglich Instrument der Partei, mithin ein fachneutraler Technokrat, oder verfolgte Schwarz eine eigene Politik, fungierte er gar als Korrektiv der „Bonzenwirtschaft“? Zu klären sei auch, ob sich im Reichsschatzmeisteramt eine typische Form nationalsozialistischer Verwaltung ausdrücken und nur als Bestandteil eines spezifischen politischen Systems seine Wirkung entfalten konnte.

LORENZO SANTORO (Rom) nahm die faschistische Partei Italiens der Jahre 1921 bis 1945 in den Blick und präsentierte zentrale Ergebnisse der historischen Forschung, um zu Urteilen über die Dynamik des italienischen Faschismus zu gelangen. Den Beginn der historischen Forschung sah Santoro in der 1959 erschienenen Arbeit Dante Germinos, der zwar die Partei als zentrales Machtelement des italienischen Faschismus herausgestellt, aber nur unzureichend Strategien der Konsensherstellung über politische Gewalt hinaus akzentuiert habe. Paolo Pombeni etwa habe dagegen die verfassungsmäßige und juristische Verschränkung von Partei und Staat in den Blick genommen, was personell einer Art von „Schachspiel“ gleichgekommen sei, um neue und alte Zentren der Macht zu verzahnen. Santoro verwies weiterhin auf Victoria de Grazia, die anhand der Freizeitorganisation „dopolavoro“ die These der PNF als „unpolitischer Partei“ entwickelt habe, um alle Bereiche des sozialen Lebens durchdringen zu können. Ähnlich der Unterscheidung Fraenkels zwischen Maßnahmen- und Normenstaat, habe der italienische Faschismus gleichsam eine neue Form des Staats auf der Grundlage des Massenkonsens geschaffen, wie Santoro am Beispiel Roberto Farinaccis als Sekretär der PNF und dessen Versuchen, die Macht der Partei zu strukturieren und zu zentralisieren, zu belegen versuchte. So sei die Erforschung der PNF nach wie vor lohnenswert, zum Beispiel mit Blick auf lokale Aspekte. Die unterschiedlichen Zugriffe der Forschung, wie Santoro zusammenfasste, hätten den Blick dafür freigemacht, dass sich im italienischen Faschismus eine spezifische Form der Politik entfaltet habe, die soziale Mobilität, Wohlfahrtsmaßnahmen und Ideologie-Elemente synthetisiert habe.

Die zweite Sektion startete mit dem Vortrag von TILL KÖSSLER (Bochum), der von seiner Arbeit in dem DFG-Projekt zur Mitgliedschaft und Sozialstruktur der Parteien in Westdeutschland 1945–1990 berichtete. Dabei erörterte Kössler den Grund- und Hintergedanken des Projektes, in der Parteienforschung den Schwerpunkt von der Politik zur Gesellschaft zu verlagern, um auf diese Weise einen Beitrag zu einer neuen Gesellschaftsgeschichte zu leisten. Ein Gesichtspunkt, den er mit Blick auf die übergreifende Fragestellung des Workshops hervorhob, waren neue Formen der Selbstbeschreibung und -beobachtung die seit den 1960er Jahren in verschiedenen Parteien Einzug hielten (vor allem die Parteistatistik). Hierdurch habe sich nicht nur das (Partei)Politische allmählich verwissenschaftlicht, sondern auch das Verhältnis der Parteien zu ihren eigenen Mitglieder neu- oder umgestaltet; die Parteien selbst wurden gewissermaßen zu einem „Laboratorium von Gesellschaft“. Weitere Aspekte der Sozialstruktur westdeutscher Parteien nach 1945 anreißend plädierte Kössler abschließend für eine Parteiengeschichte, die von der Politik im engeren Sinne abstrahiert und sich der Parteiorganisation zuwendet und die als Teil einer Sozialgeschichte des Politischen verstanden werden soll.

Im Anschluss referierte CLAUDIA GATZKA (Berlin) über Parteiengeschichte als Beziehungsgeschichte in einer vergleichenden deutsch-italienischen Perspektive. Als konkreter Bezugspunkt fungierten für Gatzka lokale Wahlkampfstrukturen in Westdeutschland und Italien nach 1945, die sie am Beispiel der Städte Hamburg und Ulm sowie Bologna und Bari und der Parteien CDU und SPD sowie Democrazia Cristiana (DC) und Partito Comunista Italiano (PCI) eingehender betrachtete. Den Kern ihrer Ausführungen bildete die politische Kommunikation vor Ort im vielschichtigen Beziehungsgeflecht zwischen Bürgern, Parteimitgliedern und Politikern. Dies berühre vor allem die Frage nach dem Sichtbarmachen von lokaler Politik, also auf Kundgebungen, Wahlversammlungen oder innerstädtischen Plätzen. Gerade in Italien nahmen die Bürger Gatzka zufolge die Parteien wesentlich stärker als Instrument lokaler Eigeninteressen wahr. Charakteristisch für beide Staaten sei indes, dass im Gegensatz zu vorherigen Disziplinar- und Zwangsmaßnahmen faschistischer Parteien Demokratie nunmehr habe „erlernt“ werden müssen, was zugleich aber auch bedeutete, sich der Politik entziehen zu können. Dieser Eigensinn habe trotz der zunehmenden Professionalisierung und Medialisierung von Politik eher noch zugenommen, wobei für Deutschland festzustellen sei, dass Partizipationsmöglichkeiten der Bürger weitaus mehr durch die ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ der 1970er-Jahre beflügelt worden seien als durch lokale Partizipation in der Partei vor Ort.

Das letzte Referat des Workshops hielt THOMAS GROSSBÖLTING (Münster). Er skizzierte die Chancen eines Ansatzes, der neben der formellen Parteiorganisation auch die informelle Praxis in Parteien verstärkt berücksichtigt. Nach einer konzisen Einführung in das Problemfeld Formalität-Informalität und dem Plädoyer für einen pragmatischen Parteigriff („Eine Partei ist, was als Partei wahrgenommen wird“) stellte er die gemeinsam mit Rüdiger Schmidt (Münster) und Daniel Schmidt (Gelsenkirchen) entwickelte Überlegung vor, dass verschiedene Partei-Typen (Großbölting unterschied idealtypisch in Kader-/Honoratiorenpartei, Massenpartei/Catch-All-Party, Kartellpartei) über unterschiedliche Strukturen von Formalität und Informalität verfügen. Diesen Zusammenhang von (In)Formalität und Parteistruktur gelte es weiter ausleuchten. Dabei können, so resümierte Großbölting, Formalisierung und Informalisierung als Analysekriterium einen gewinnbringenden Beitrag leisten zur Untersuchung von innerer wie äußerer politischer Kommunikation, Mitglieder- und Führungsrollen, Parteienfinanzierung und Netzwerken – eine Anregung, der sich die Teilnehmer des Workshops weitgehend anschlossen.

Die sehr unterschiedlich akzentuierten Vorträge ergaben kein geschlossenes Bild der Massenparteien im Europa des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl waren verschiedene parteiengeschichtliche Entwicklungspfade in Ansätzen erkennbar: So begann sich die SPD bereits im Kaiserreich zu einer Volkspartei zu entwickeln; in Frankreich und Italien prägten charismatische Führer stärker das Parteiensystem. Die regen Diskussionen zeigten, dass ein neuer, kulturgeschichtlich informierter Blick auf Parteien lohnt und dass ein langer Untersuchungszeitraum empfehlenswert ist. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig, dass es an der Zeit ist, die parteiengeschichtliche Forschung in transnationaler und vergleichender Perspektive wiederzubeleben und wollen selbst entsprechende Projekte initiieren bzw. durchführen.

Konferenzübersicht

Sektion 1: Faschistische Parteien

Armin Nolzen (Warburg): Geschichte der NSDAP. Eine Gesamtdarstellung

Susanne Meinl (Dietramszell): Kontrolle und Korruption. Das Amt des Reichsschatzmeisters als zentrale Steuerung der NSDAP

Lorenzo Santoro (Rom): Research on Partito Nazionale Fascista 1919-1943 and open questions

Sektion 2: Demokratische Parteien

Till Kössler (Bochum): Das parteiengeschichtliche Forschungsprojekt von Tenfelde und Recker (2000-2005): Ergebnisse und weitergehende Fragen

Claudia Gatzka (Berlin): Bürger und Parteien – Parteiengeschichte als Beziehungsgeschichte in Italien und Westdeutschland nach 1945

Thomas Großbölting (Münster): Formale Organisation und informelle Praxis – ein innovativer Ansatz zur Erforschung von Massenparteien des 20. Jahrhunderts?

Schlussdiskussion: Neue Ideen und Perspektiven für die Erforschung der Massenparteien des 20. Jahrhunderts


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