Der Kreml und Osteuropa 1989/91: Das Ende einer Epoche

Der Kreml und Osteuropa 1989/91: Das Ende einer Epoche

Organisatoren
Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung Graz/Wien; Cold War History Research Center, Corvinus-Universität Budapest
Ort
Budapest
Land
Hungary
Vom - Bis
18.09.2012 - 19.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Dániel Vékony / Dóra Veress, Corvinus-Universität Budapest

Die an der deutschsprachigen Andrássy-Universität Budapest abgehaltene internationale Konferenz wurde im Rahmen einer Veranstaltungsreihe durchgeführt. Die Referenten arbeiten gemeinsam in einem internationalen Forschungsprojekts auf der Basis sowjetischer und anderer osteuropäischer Quellen die Geschichte der letzten Jahre der Sowjetunion und des Ostblocks auf. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes werden Ende 2014 in der Harvard “Cold War Studies Book Series“ publiziert. Die Budapester Vorträge stellten eine Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstands der einzelnen Wissenschaftler dar und hatten zum Zweck, die neu gewonnenen Erkenntnisse auszutauschen. Die thematischen Schwerpunkte lagen auf den letzten Jahren der Sowjetunion und dem Transformationsprozess in den „Ostblockländern“.

Veranstaltet wurde die Tagung vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung mit Sitz in Graz und Wien (Leitung: Stefan Karner), dem Cold War History Research Center des Instituts für Internationale Studien der Budapester Corvinus-Universität (Leitung: Csaba Békés), dem Österreichischen Kulturforum Budapest (Direktorin Susanne Bachfischer) und der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau (Rektor Efim Pivovar). Mitgefördert wurde die Veranstaltung von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Österreichischen Botschaft Budapest (Dr. Michael Zimmermann).

MARK KRAMER (Cambridge, USA) führte mit dem Vortrag Gorbatschow und der Umbruch in Osteuropa in die Konferenzthematik ein. Kramer zeichnete den Weg nach, den der sowjetische Parteisekretär und spätere Präsident von seiner Wahl im Jahr 1985 bis 1989 zurücklegte. Er vertrat dabei den Standpunkt, die Politik Gorbatschows habe sich erst im Laufe des Jahres 1987 endgültig gewandelt. Die Gründe dafür waren vielfältig. Einerseits benötigte Gorbatschow relativ lange Zeit, um seine Position an der Parteispitze zu konsolidieren. Andererseits trat Gorbatschow nicht etwa mit einem Programm an, die Hegemonialstellung der Sowjetunion über Osteuropa in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil, auf dem Warschauer Pakt-Gipfel 1985 trat Gorbatschow für eine Stärkung des Bündnisses ein. Kramer sieht das Jahr 1988 als den Wendepunkt in Gorbatschows Politik. Während sich Gorbatschow 1987 trotz vielfacher gegenteiliger Hoffnungen in der Tschechoslowakei öffentlich noch zur Intervention 1968 bekannte, markierten seine Äußerungen anlässlich eines Jugoslawien-Besuchs im Frühjahr einen Wendepunkt in der sowjetischen Außenpolitik. In der Folge zeichnete Kramer das Aufweichen der Brežnev-Doktrin nach, was den Staaten der Region in der Folge einen zunehmend größeren Handlungsspielraum brachte. Die Ereignisse des Jahres 1989 waren nach Ansicht Kramers daher kein Zufall. Was Gorbatschow unter den sowjetischen Führern einzigartig machte, sei, dass er bis zum Schluss an seiner Entscheidung zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer sozialistischer Länder festgehalten habe, selbst zu dem Zeitpunkt, als dies das Ende der sowjetischen Hegemonie über Osteuropa bedeutete.

MICHAIL PROZUMENŠČIKOV (Moskau) legte in seinem Vortrag Das Ende der KPdSU den Niedergang der sowjetischen Staatspartei dar. Der Beitrag suchte die Antwort auf die Frage, welche Gründe zur Einstellung der Tätigkeit der KPdSU im Jahr 1991 durch Boris Jelzin führten. Nach Ansicht Prozumenščikovs waren die Hauptgründe folgende: Die Führungspersönlichkeiten der KPdSU waren – als Produkte des kommunistischen Regimes – nicht darauf vorbereitet, in einem zunehmend offeneren und kompetitiveren Umfeld um die Macht zu kämpfen. So waren sie auch dazu nicht in der Lage, bei der sich verschärfenden Wirtschaftskrise der Sowjetunion als Führungspersönlichkeiten aufzutreten.

Prozumenščikov demonstrierte die Krise der Macht mit dem Erodieren der Parteiorganisation. Während 1990 die Zahl derjenigen, die aus der Partei austraten, noch um 2600 Personen lag, überstieg sie 1991 bereits zwei Millionen. Die offiziellen Begründungen sprechen klare Worte: der Verlust der Privilegien, Enttäuschung durch die Führung beziehungsweise die sozialistischen Prinzipien (mehr als die Hälfte der Befragten gab dies als Grund an) und schließlich Angst vor Behelligungen beziehungsweise Sorge um die Sicherheit von Familienmitgliedern. Prozumenščikov machte darauf aufmerksam, dass die Krise durch die neuen gesellschaftlichen Bewegungen, die wie Pilze aus dem Boden schossen, zusätzlich Zündstoff erhielt. Diese demokratischen Kräfte wollten das System nicht mehr von innen heraus verändern: unter ihren Forderungen befanden sich Punkte, die bislang als Tabu gegolten hatten, wie etwa die Auflösung der KPdSU beziehungsweise der Rücktritt Gorbatschows. Prozumenščikov argumentierte abschließend, dass es aufgrund der oben genannten Gründe auf jeden Fall früher oder später zum totalen Zerfall der KPdSU und dem Rücktritt Gorbatschows gekommen wäre. Dazu bedurfte es seiner Meinung nach nicht des Putschversuchs im August 1991.

STEFAN KARNER (Graz) wies in seinem Vortrag mit dem Titel Das Ende der Planwirtschaft eingangs auf die immensen Disparitäten der Wirtschaft der UdSSR hin, die bereits Anfang der 1980er Jahre mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Karner deutete in diesem Zusammenhang auf das frühe wirtschaftliche Reformdrängen Gorbatschows hin.

Im September 1986 beschloss das Politbüro zahlreiche Reformmaßnahmen. Unter anderem sollte der Landwirtschaft eine stärkere Rolle zukommen, Unternehmensleiter sollten verstärkt animiert werden, Eigenverantwortung zu übernehmen. Die Reformen blieben nicht ergebnislos (beispielsweise wuchs die Selbstständigkeit der Unternehmen), jedoch hatten sie sowohl für die Gesellschaft als auch den Staat enttäuschende Folgen. Die sowjetischen wirtschaftlichen Indizes zwischen 1989 und 1991 waren allesamt rückläufig: die industrielle Produktion sank stark ab, das BIP fiel zurück.

Zwischen 1985 und 1991 erlebte die Sowjetunion einen derart allgemeinen Verfall, der schließlich zum wirtschaftlichen Bankrott führte. Karner strich heraus, dass seiner Meinung nach die Gründe des wirtschaftlichen Zerfalls in erster Linie systemimmanent seien. Gorbatschows teils halbherzige oder oft wegen Widerstände orthodoxer Kreise nicht in vollem Umfang durchführbare Reformunternehmen beschleunigten den Zusammenbruch der Wirtschaft. Karner betonte, auch eine andersgeartete Politik hätte den Ausgang nicht anders gestalten können, den völligen Kollaps höchstens verlangsamen können.

CSABA BÉKÉS (Budapest) untersuchte in seinem Vortrag Der politische Transformationsprozess in Ungarn 1988–1991 den weltpolitischen Kontext des mittelosteuropäischen politischen Wandels. Im Fokus des Beitrags stand unter anderem die Skizzierung der Bruchlinien innerhalb des Warschauer Pakts. Nach der Machtübernahme Gorbatschows entstand im sowjetischen Block eine Art sowjetisch-ungarisch-polnische virtuelle Koalition, die die Reformpolitik über bilaterale Kanäle miteinander abstimmte und sich bemühte, diese gegenüber den anderen Ländern wie der DDR, die sich den Reformen widersetzten, auf den multilateralen Foren des sowjetischen Blocks zu repräsentieren. Nach Békés spielte die ungarische Führung im Hinblick auf Gorbatschows Reformen gleichzeitig die Rolle des besten Schülers und des besten Lehrmeisters. Die Erfolge der ungarischen Landwirtschaft erwiesen sich zumindest als wichtige Referenzen. Békés maß in weltpolitischer Hinsicht der Warschauer Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Pakts im Sommer 1988 besondere Bedeutung bei. Hier gestand der sowjetische Außenminister Edvard Ševardnadze ein, dass sich die Sowjetunion und der gesamte Block in einer Krise befänden und der „Westen“ in allen nur erdenklichen Bereichen im Wettstreit gesiegt hätte. Von diesem Zeitpunkt an erlangte die Abrüstung – selbst mit einseitigen Zugeständnissen – oberste Priorität. Dies war nach Békés´ Ansicht eine Grundvoraussetzung für die folgende sowjetische Akzeptanz des Veränderungsprozesses in Osteuropa und damit für die Aufgabe der Brežnev-Doktrin. Békés betonte zudem, dass die Akzeptanz des inneren politischen Wandels von Seiten Gorbatschows nicht auch die Aufgabe der sowjetischen Interessensphäre bedeutete. Dies galt auch reziprok für die Westmächte, die bis Ende 1990 stark dem bipolaren Denken verhaftet waren und die „Unabhängigkeitsbestrebungen“ in Osteuropa zunächst keinesfalls befürworteten. Nicht einmal das Streben nach Neutralität unterstützten sie. Man betrachtete die Existenz des Warschauer Paktes und der NATO als das europäische Sicherheitssystem, das den Grundpfeiler der Stabilität darstellte. Daher drängte man sogar die neuen, nach freien Wahlen an die Macht gekommenen demokratisch legitimierten Regierungen im Frühjahr 1990 dazu, an ihrer Mitgliedschaft im Warschauer Pakt festzuhalten. Békés brachte zum Ausdruck, dass in den Jahren 1989/90 sowohl die UdSSR als auch die Westmächte gleichermaßen an einer Art „Finnlandisierung“ der mittelost- und osteuropäischen Staaten interessiert waren. Neben dem sicherheitspolitischen Denken ging es vielen westlichen Politikern auch darum, mit dieser Art Unterstützung für Gorbatschow dessen Machtposition im Kreml nicht zu gefährden. Doch vor allem die ungarische und tschechoslowakische Führung – später auch die polnische – arbeiteten verstärkt auf die Auflösung des Warschauer Paktes hin. Die durch die zunehmend chaotischeren inneren Verhältnisse bedrängte sowjetische Führung gab dem Drängen schließlich nach. Ende Juni, Anfang Juli 1991 kam es damit zu der beinahe zeitgleichen Auflösung des RGW und des Warschauer Pakts, was der Befreiung der Staaten Osteuropas von der sowjetischen Hegemonie gleichkam.

HERMANN WENTKER (Berlin) zeigte in seinem Vortrag Zwischen Isolation und Wiedervereinigung: Die Außenpolitik der DDR 1989/90 zunächst, dass sich die DDR bereits vor der friedlichen Revolution im Ostblock isoliert hatte. Er erläuterte dies anhand des am 19. Januar 1989 abgeschlossenen KSZE-Nachfolgetreffens in Wien, anhand des Systemwechsels in Polen infolge der Wahlen vom Juni 1989 und anhand des schwindenden Rückhalts in der Sowjetunion, die mit dem Besuch Gorbatschows in Bonn im Juni verdeutlichte, dass ihr die Beziehungen zur Bundesrepublik wichtiger waren, als die zur DDR. Nach dem Wechsel von Honecker zu Krenz und dem Mauerfall am 9. November 1989 klammerte sich die DDR-Führung zunächst noch an die Hoffnung, in einem reformierten sozialistischen System die Eigenständigkeit der DDR zu erhalten. Als jedoch immer deutlicher wurde, dass alles auf eine Wiedervereinigung hinauslaufen würde, verengte sich der Handlungsspielraum der Ost-Berliner Führung dramatisch, so dass diese die Idee einer eigenständigen DDR aufgeben musste. Bei der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 siegten die Kräfte, die eine möglichst rasche Wiedervereinigung anstrebten. Gleichzeitig fand ein Wechsel im politischen Spitzenpersonal statt. Die neue Spitze des DDR-Außenministeriums um Markus Meckel erkannte allerdings weder, dass sie über so gut wie keinen Handlungsspielraum mehr verfügte, noch dass sie auf eine möglichst enge Abstimmung mit der Bundesregierung angewiesen war. Sie versuchte vielmehr, sowohl im bilateralen Verhältnis zu Polen als auch in multilateralen Sicherheitsfragen einen anderen Kurs zu steuern als die Bundesregierung. Mit diesen Versuchen, den Vereinigungsprozess für eine Neugestaltung der europäischen Ordnung zu nutzen, musste sie angesichts ihrer schwachen Verhandlungsposition jedoch kläglich scheitern.

VLADISLAV ZUBOK (Philadelphia) hielt – in Anlehnung an seine preisgekrönte Monographie – den Schlussvortrag mit dem Titel A Failed Empire: The End of an Era. Den letzten Tagen des Sowjetreichs näherte er sich von der gesellschaftlichen Wahrnehmung aus. Nach Ansicht Zuboks wurde der Verlust der osteuropäischen „Pufferzone“ für die sowjetische Gesellschaft nicht als Tragödie wahrgenommen. Gorbatschow blieb ja auch an der Macht, selbst nachdem er auf diese Region „verzichtet“ hatte. Der Grund dafür, so Zubok, sei klar, die sowjetische Gesellschaft hatte sich zu jener Zeit mit anderen, ernster zu nehmenden Problemen auseinanderzusetzen. Die Frage Osteuropas war für sie somit ein drittrangiges Problem. Für die sowjetische Politik hingegen lag die Priorität darauf, den Abspaltungstendenzen eigener Regionen des Reiches entgegenzutreten. Hinzu kam eine Krise in der Lebensmittelversorgung. Die Lebensmittelpreise schnellten in die Höhe, was die Legitimation der Führung grundlegend erschütterte. Hinzu kam auch die zunehmend bedeutendere Rolle der Medien und des Fernsehens, womit eine neue Öffentlichkeit geschaffen wurde, die die Führung mittels der alten Institutionen nicht mehr im Zaum halten konnte.

Die Konferenz gab Einblicke in ein internationales Forschungsprojekt, in dem vielfältige diplomatiegeschichtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte verknüpft werden. Die Tatsache, dass sich unter den Referenten sowohl Wissenschaftler aus den Ländern des einstigen Ostblocks als auch „westliche“ Historiker befanden, bereichert die Forschung in hohem Maße. Auch wenn man das Ende dieser Epoche noch kaum endgültig als Ganzes einschätzen kann und Differenzierungen nötig sind, kann man festhalten, dass die meisten Akteure der damaligen sozialistischen Staatenwelt aus vielen Gründen nicht in der Lage waren, die Herausforderungen, die sich Ende der 1980er-Jahre auftaten, handzuhaben. Die Reformen Gorbatschows dürften eher – ungewollt – für eine Verkürzung des Todeskampfes des Ostblocks gesorgt haben. Zu erkennen ist jedoch auch, dass wohl niemand auf den „frühen Tod“ des sowjetischen Imperiums vorbereitet war – weder Politiker im Westen noch im Osten.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Die Sowjetunion und Osteuropa

Mark Kramer (Cambridge, USA): Gorbatschow und der Umbruch in Osteuropa

Michail Prozumenščikov (Moskau): Das Ende der KPdSU

Stefan Karner (Graz): Das Ende der Planwirtschaft

Panel 2: Die “Ostblockländer” (Teil 1)

Csaba Békés (Budapest): Der politische Transformationsprozess in Ungarn 1988–1991

Bogdan Musial (Warschau): Der Weg zum „Runden Tisch“ in Polen

Panel 3: Die “Ostblockländer” (Teil 2)

Hermann Wentker (Berlin): Zwischen Isolation und Wiedervereinigung: Die Außenpolitik der DDR 1989/90

Iskra Baeva (Sofia): Bulgarien – der schwierige Lösungsprozess von der Sowjetunion

Mark Kramer (Cambridge, USA): Das blutige Ende Ceauşescus

Panel 4: Glasnost´

Boris Chavkin (Moskau): Zur Geschichte der Veröffentlichung der sowjetischen Texte der sowjetisch-deutschen Geheimdokumente von 1939–1941

Natal´ja Lebedeva (Moskau): Der Umgang mit der historischen Wahrheit: Katyn

Irina Kazarina (Moskau): Die Öffnung der sowjetischen Archive

Panel 5: Der Fall der Berliner Mauer

Gerhard Wettig (München/Berlin): Gorbačёv und der Warschauer Pakt

Olga Pavlenko (Moskau): Der letzte Warschauer Pakt-Gipfel vor dem Fall der Berliner Mauer

Thomas Wegener Friis (Odense): Westarbeit der DDR-Staatssicherheit und die Geheimdienstforschung

Panel 6: Der Fall des Eisernen Vorhangs

Magdolna Baráth (Budapest): Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn und Mittelosteuropa

Harald Knoll (Graz/Wien): Österreich und der Jugoslawien-Krieg

Vladislav Zubok (Philadelphia): Ein gescheitertes Imperium: Das Ende einer Ära


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